Mit dem Dayton-Abkommen hatten die USA 1995 das grauenhafte Treiben in Bosnien und Herzegowina beendet, nachdem der Westen zuvor den „ethnischen Säuberungen“, Massakern und Massenvergewaltigungen dort allzu lang fassungslos zugesehen hatte. Er war davon kalt erwischt worden, die Konfliktszenarien vor 1989 hatten ganz anders ausgesehen. Zudem hielten andere Ereignisse die Welt in Atem: Der Realsozialismus implodierte, der Warschauer Vertrag löste sich auf, die Sowjetunion zerbröselte, Deutschland vereinigte sich. Als der Westen endlich in Bosnien und Herzegowina eingriff, musste er die mit Gewalt betriebene nationale Separierung und die Teilung Bosniens in zwei so genannte Entitäten – die bosnisch-kroatische Föderation und die Republika Srpska – mangels Alternativen weitgehend anerkennen. Insofern haben alle recht, die kritisieren, dass im Abkommen von Dayton von Anfang an der Wurm steckte. Doch lässt sich dieser Geburtsfehler nicht ohne einen Konsens aller drei Konfliktparteien beheben, und den gibt es nicht.
Seit 1995 wacht ein Hoher Vertreter der Staatengemeinschaft darüber, dass Dayton eingehalten wird. Seither haben sich in Bosnien Sicherheit und Bewegungsfreiheit spürbar verbessert. Freiheitsrechte wurden gestärkt, Demokratisierung und Wiederaufbau sind vorangekommen. Viele Kritiker sehen das Hauptproblem heute darin, dass der Hohe Vertreter noch immer viele Souveränitätsrechte in den Händen hält. Das mache es bosnischen Politiker leicht, sich in nationalistischen Reden zu ergehen und gar Kriege zu beschwören, sind doch für die Politik letztlich andere verantwortlich.
Autor
Bruno Schoch
ist Vorsitzender des Forschungsrats der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) und Mitherausgeber des Friedensgutachtens. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Nationalismus, Demokratisierung und Minderheitenkonflikte.Es ist gang und gäbe, dem Westen alle Schuld daran zuzuschreiben, dass die Reformen in Bosnien seit 2006 zum Erliegen gekommen sind und unfähige Eliten wieder mit Krieg drohen. Doch könnte es nicht sein, dass die Protagonisten derartiger Konflikte sich zur Identitätswahrung gern an alte Feindschaften klammern, statt sich gemeinsam zu einem politischen Neuanfang aufzuraffen? Man kann das auch in Nordirland beobachten. Und im Kosovo. Belgrad und Pristina lassen keine Gelegenheit aus, den ethno-nationalen Territorialkonflikt mit anderen Mitteln fortzusetzen. Mit nationalistischer Rhetorik lässt sich punkten, während überfällige Reformen liegen bleiben.
Gleichwohl scheinen mir düstere Szenarien, der Westbalkan falle in den Krieg zurück, wenig wahrscheinlich. Zwar gibt es an den sozio-ökonomischen Verhältnissen nichts schönzureden; auch fehlt es nicht an Waffen. Doch von Grund auf anders sind die Rahmenbedingungen. Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien entzündeten sich nicht an nationalen Differenzen als solchen, wie die Mär vom plötzlich explodierten „uralten Hass“ glauben machen will. Vielmehr brachen skrupellose Politiker sie vom Zaum – mit Hilfe staatlicher Macht, mit Waffen, protegierten Paramilitärs und regulären Streitkräften. Das gilt zumal, wenn auch nicht nur, für Slobodan Miloševic.
Das ist heute anders. In Serbien haben bei den Wahlen im Mai 2008 gemäßigte Kräfte gewonnen, wenn auch hauchdünn. Ihre Priorität ist die EU-Integration. Der frühere Ministerpräsident Koštunica, der die EU-Perspektive zuletzt ablehnte, weil die Mehrheit der EU-Staaten das Kosovo anerkannt hatte, ist gescheitert. Zudem hat sich die ultra-nationalistische Radikale Partei gespalten. Zwar hält auch die neue Regierung am Kosovo fest, doch hat sie keine der martialischen Drohungen wahr gemacht, mit denen Belgrad die Unabhängigkeit bekämpft hatte. Und sie hat sich auf den Verzicht auf Gewalt festgelegt – immerhin. Auch den bosnischen Serben fehlt heute die militärische Unterstützung Belgrads.
Deshalb tut die Europäische Union (EU) gut daran, die Beitrittsperspektive aller Länder des Westbalkans weiter mit ihrer Mischung aus Druck und Unterstützung voranzutreiben. Wer die „Bosnienmüdigkeit“ der EU anprangert, übersieht ihre politische Absicht, in beiden de facto-Protektoraten – wo man notfalls Truppen kurzfristig wieder aufstocken kann – Kompetenzen an die Staatsbürger abzugeben. Das ist richtig, denn Demokratie ohne Volkssouveränität ist ein Widerspruch in sich. Auch ist es nicht das Schlechteste an der EU, dass ihr Protektorate nicht behagen.