Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht von weltweit mehr als 18 Millionen unbesetzten Stellen aus. Es fehlen 2,6 Millionen Ärztinnen und Ärzte, 9 Millionen Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger sowie über 6 Millionen Hebammen. Am stärksten betroffen sind Staaten in Afrika, Asien und Lateinamerika. In 83 Ländern ist die Lage so dramatisch, dass die WHO von einer „Gesundheitssystemkrise“ spricht. Hier ist nicht einmal die elementare Gesundheitsversorgung gewährleistet. In Afrika sorgen kirchliche Einrichtungen für etwa die Hälfte der medizinischen Hilfe.
Die Ziele der Vereinten Nationen für Nachhaltige Entwicklung (SDGs) verlangen eine universelle Gesundheitsversorgung. Die aber liegt in weiter Ferne – aus Gründen, die sich überall ähneln: Es werden zu wenige Fachkräfte ausgebildet und Arbeitsbedingungen wie Entlohnung sind schlecht. Deshalb geben viele Pflege- und Gesundheitskräfte ihre sinnstiftende Tätigkeit auf. In ärmeren Ländern sind die Gesundheitsstrukturen zudem chronisch unterfinanziert, so dass gar kein Personal eingestellt werden kann.
Abwanderung ist die Folge: in besser bezahlte Jobs in anderen Regionen des Heimatlandes, vom Land in die Stadt, in Nachbarländer oder in Industrienationen. Aktive Abwerbung verschärft die Situation. Meist setzt ein Dominoeffekt ein, und den Ländern am Ende der Migrationskette bleibt schließlich zu wenig gut qualifiziertes Personal. Die Schweiz wirbt aus Deutschland Gesundheitspersonal an, Deutschland wiederum streckt die Fühler unter anderem nach Osteuropa aus. So bemüht sich die Bundesregierung seit 2013 vor allem um Pflegefachkräfte aus Bosnien-Herzegowina, Serbien (das zu den 83 Ländern gehört, in denen die WHO eine „Gesundheitskrise“ sieht), Tunesien und den Philippinen. Vor allem die osteuropäischen Länder leiden mittlerweile jedoch unter dieser Strategie. Deshalb hat Deutschland die Anwerbung auf Mexiko und Brasilien ausgeweitet, weitere Länder werden folgen.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt, die aktive Abwerbung aus Ländern und Regionen mit kritischem Personalmangel zu unterlassen. Sie fordert ihre Mitgliedsstaaten auf, vorrangig im eigenen Land für genügend Personal zu sorgen – durch wirksame Personalplanung sowie Aus- und Weiterbildung. Deutschland könnte noch viel tun, um den Pflegeberuf wieder attraktiver zu machen.
Ein Transfer von Pflegekräften kann Entwicklung fördern
Menschen sollten indes die freie Wahl haben, ob und wohin sie migrieren. Entsprechend gestaltet kann ein Transfer von Pflegekräften durchaus entwicklungsförderlich sein. Er sollte sich an den ethischen Prinzipien der WHO orientieren und an dem Grundsatz, keinen Schaden anzurichten. Sodann gehören Kompensationsleistungen für die Ausbildungskosten dazu – und gegebenenfalls auch Unterstützung bei der Schaffung weiterer Ausbildungsmöglichkeiten. Es gilt außerdem, die Herkunftsländer durch technische und finanzielle Hilfe dabei zu unterstützen, ihre Gesundheitsversorgung im eigenen Land zu verbessern. Das alles könnte auch zirkuläre Migration fördern: Menschen aus Entwicklungs- und Schwellenländern könnten befristet einmal oder mehrfach in Deutschland arbeiten und dann mit den erworbenen Kenntnissen, Qualifikationen und Ersparnissen wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren.
Schließlich geht es darum, die Arbeitsbedingungen und die Integration hier so zu gestalten, dass die Angeworbenen und ihre Familien davon auch wirklich profitieren. In Zentral- und Osteuropa wachsen infolge der Arbeitsmigration Hunderttausende Sozialwaisen heran, und alte und pflegebedürftige Menschen bleiben sich selbst überlassen. Das SDG-Motto „Niemanden zurücklassen“ (‚leave no one behind‘) gilt es bei der Pflegekraftanwerbung also mit Blick auf Länder, ganze Regionen und Menschen unbedingt zu beachten.
Die Bundesregierung sollte vor weiteren Anwerbeinitiativen genau untersuchen, ob der erhoffte Effekt, also ein Profit für Deutschland und für die migrierende Person und deren Herkunftsland, eintritt und ob und wie die SDGs und die Bestimmungen des UN-Migrationspaktes dabei gewährleistet werden. Eine solche Evaluierung und systematische Überprüfung der Entwicklungsfreundlichkeit der Pflegekräfteanwerbung stehen noch aus.
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