Der Baumeister von El Alto

Knut Henkel

Knallbunte Farben, geometrische Formen: Freddy Mamani entwirft sogenannte Cholets. Diese Häuser sollen das neue indigene Selbst­bewusstsein der Bolivianer widerspiegeln.

Bolivien
Vom einfachen Maurer zum international gefeierten Bauherrn: Freddy Mamani entwirft in seiner Heimatstadt El Alto vornehme Häuser, die niemand übersehen kann. In seinen spektakulären Bauten verarbeitet er die Kultur und Ikonografie seines Volkes, der Aymara.

Oye - acá“, hör doch – hier drüben, ruft Freddy Mamani und winkt zur Bushaltestelle hinüber, wo die Kleinbusse in Richtung Viacha halten. Mamani, ein nicht gerade großer Mann mit dichtem schwarzem Haar, steht vor einer knallbunten Häuserzeile, die aus dem Backsteinrot der benachbarten Bauten heraussticht wie ein Flamingo aus einer Gruppe Graugänse. Vier Häuser mit imposanten, von geometrischen Mustern durchzogenen Fassaden prägen den Häuserblock. Die Dachgeschosse im dritten, vierten oder auch fünften Stock zieren eigenwillige Giebel, die vorwitzig in den strahlend blauen Himmel über El Alto ragen.

Cholets werden derartige Bauten in Bolivien genannt, ein Wortspiel zwischen Chalet und Cholo: Letzteres ist ein ursprünglich abwertender Begriff für einen Mann indigener Herkunft. Heute stehen die extravaganten, farbenfrohen Entwürfe von Architekten wie Freddy Mamani jedoch für den Aufbruch und das neue indigene Selbstbewusstsein in  Bolivien. Das ist besonders ausgeprägt in El Alto, der über La Paz auf einer Hochebene liegenden Boomtown Boliviens. Vor rund 35 Jahren als Schlaf- und Zuwandererstadt gegründet, hat El Alto heute mehr als eine Million Einwohner und ist zu einer quirligen ökonomischen Drehscheibe des bolivianischen Hochlandes geworden.

Das macht sich mehr und mehr in der Architektur bemerkbar, und Freddy Mamani profitiert davon. Entspannt lehnt der Architekt an der Eingangstür seiner jüngsten Kreation – einer Auftragsarbeit für einen Gastronomen aus El Alto. Die ist fast fertig: Karminrot, Orange, etwas Lila und Beige prägen die Fassade. Sie wird von dunkel getönten Scheiben durchbrochen, die ein klassisches Muster wiedergeben.

Mamani weist mit einem Kopfnicken den Weg ins Treppenhaus, das in satten Orangetönen erstrahlt. „Im Erdgeschoss werden Ladenflächen zur Miete angeboten“, erklärt Mamani die Struktur des fünfstöckigen Gebäudes. „Der zweite und dritte Stock ist dem Salón de Eventos, eine Art Festsaal, vorbehalten und ganz oben, auf zwei Etagen, wohnt der Besitzer mit seiner Familie.

Das ist fast immer so in den Cholets, die wir bauen.“ Das „wir“ steht für einen Familienbetrieb, an dessen Spitze Freddy Mamani steht. Er ist das innovative Hirn, hat als 13-Jähriger als Maurer auf Baustellen angeheuert, um etwas zum Familieneinkommen beizusteuern, dann sein Di­plom als Bauingenieur gemacht und später Architektur studiert – allerdings ohne abzuschließen, wie seine Kritiker monieren. Nun öffnet er die Tür zum Salón de Eventos, wo gearbeitet wird: Eine Kreissäge frisst sich wimmernd durch Holz, ein Hammer dröhnt auf Metall und zwischendurch ist das Geklacker des Fliesenlegers zu hören, der am Ende des Saals ein geometrisches Muster legt. „Chakana – das Kreuz des Südens“, erklärt Mamani und bittet den Besucher nach oben auf die Empore, während er den Arbeitern Anweisungen gibt und für etwas Ruhe sorgt.

Poppiger andiner Barock

„Ja, das ist etwas anderes als das, was ich an der Uni vorgesetzt bekommen habe“, sagt er schmunzelnd, als er die Blicke wahrnimmt, die über Wände und die Decke wandern, die mit unzähligen Spiegeln, überladenen Lüstern und vielfältigen, gemusterten Kunststoffelementen in  Orange, Grün, Karminrot, Lila und anderen Farben dekoriert sind. Überladen, schrill wirkt das, Worthülsen wie poppiger andiner Barock schwirren dem Besucher durch den Kopf.

Doch das Ganze hat System, ist alles andere als beliebig – Mamani weiß genau, was er tut. „An der Uni haben mich die großen internationalen Architekten wenig fasziniert. Ich habe mich da schon gefragt: Wo ist unsere eigene Architektur – wo tauchen wir denn auf?“, sagt er und zieht die Augenbrauen hoch. Er habe El Alto vor Augen gehabt und sich gefragt, warum über moderne Architektur diskutiert werde, wenn sie doch gar nichts mit den eigenen Lebensumständen zu tun habe. Die seien geprägt vom Rotorange der Backsteine, vom staubigen Beigegrau der Erde und von der Abwesenheit des Grüns der Pflanzen.

Autor

Knut Henkel

ist freier Journalist in Hamburg und bereist regelmäßig Lateinamerika und Südostasien.
„Darüber habe ich lange nachgedacht und mich dann entschieden, etwas Neues auszuprobieren. Das war im Jahr 2002 – da habe ich mein erstes Cholet entworfen.“ „Salon de Grand Palace“ heißt es, es steht direkt gegenüber der Universität von El Alto und ist ein Referenzbau in und für El Alto. Für Mamani war es der Auftakt für den Bau von rund siebzig Cholets allein in seiner Heimatstadt. Weitere sind in Brasilien, in Chile, aber auch in Peru in Auftrag gegeben worden.

Mit diesen spektakulären Bauten hat der älteste Sohn eines Dorflehrers auch international für Aufsehen gesorgt. Von der Stiftung Cartier ist er nach Paris eingeladen worden, am New Yorker Museum of Modern Art war er, aber auch in Buenos Aires, wo er Vorträge zur neoandinen Architektur gehalten hat. Mehr doziert als gebaut habe er zuletzt, sagt er lächelnd.
Das soll sich nun wieder ändern. Im Oktober hat er zwei neue Aufträge entgegengenommen, nachdem er drei Entwürfe basierend auf einem Traum schnell beim Frühstück zu Papier gebracht hatte. Fünf Aufträge sind es nun, die ihn in den kommenden Monaten auf Trab halten werden – ohne die Baustelle unter uns, die bald fertig ist. An Ideen fehlt es dem jugendlich wirkenden Vater von vier Kindern nicht. Nur sein Rücken zwingt ihn immer mal wieder, halblang zu machen – eine Erinnerung an die Teenagerjahre als Maurer auf dem Bau.

Lob für Evo Morales

Damals war El Alto noch klein, vor allem Schlafstadt oberhalb von La Paz, wo die Menschen Arbeit fanden. Heute ist es oft umgedreht, sagt der Pädagoge Mario Rodríguez, der oben in El Alto ein Kulturzentrum leitet, aber unten in La Paz lebt. Der Wandel und der Aufstieg El Altos beginnen in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre und haben mit dem Gaskrieg im Jahr 2003 einen kräftigen Schub bekommen. Damals gab es heftigen Widerstand gegen die Pläne der Regierung von Gonzalo Sánchez de Lozada, die Gasvorkommen Boliviens zu verkaufen. El Alto war das Zentrum dieses Widerstands mit rund 70 Toten, woraufhin der Präsident in die USA flüchten musste. Das habe „viel in den Köpfen gelöst – und Evo ist ein Ergebnis davon“, sagt Rodríguez. Evo Morales war der erste indigene Präsident Boliviens, der von fast allen nur bei seinem Vornamen genannt wird und der im vergangenen November wegen der Manipulationsvorwürfe nach den Präsidentenwahlen am 20. Oktober zurückgetreten ist.

Von Morales, der wie Mamani zur Ethnie der Aymara zählt, hält der Architekt viel, weil er Bolivien ein stabiles ökonomisches Wachstum gebracht habe, auch wenn er bisher kaum von Aufträgen der Regierung profitiert hat. „Cholets sind die Gebäude einer wohlhabenden Oberschicht der Aymara, die zeigen, was sie haben und wie es sich vermehren lässt“, sagt Mamani. Zwischen 250.000 und 500.000 US-Dollar kostet im Schnitt ein Cholet.  Von den vier Gebäuden, die den Block gegenüber vom Hospital Corea prägen, hat Mamani drei entworfen – ein Beleg dafür, dass seine Architektur die lange gering geschätzte Kultur und Ikonographie der Aymara zum Bestandteil der Identität der Alteños gemacht hat.

Das hat ihm Preise, Renommee und Einladungen beschert und das Image von El Alto aufgewertet. Doch ungeachtet seiner Verdienste hat Mamani bisher nie öffentliche Aufträge erhalten. „Die Aufträge für das Stadion von El Alto und auch für den neuen Busbahnhof wurden vergeben, ohne dass ich etwas davon  mitbekommen habe“, sagt Mamani. Das wurmt den Architekten von El Alto, der gern ein neues Ziel hätte: öffentliche Gebäude zu entwerfen.

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erschienen in Ausgabe 2 / 2020: Meinungs- und Pressefreiheit
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