Vor mehr als drei Jahren traten die„ 99“ ihren Siegeszug an. Im Frühjahr 2006 erschien der weltweit erste islamische Comic auf den Zeitschriftenmärkten im Nahen Osten und Nordafrika. Der Titel ist Programm und zielt nicht nur auf ein arabisches, sondern zugleich muslimisches Publikum, das mit der Zahl 99 etwas anzufangen weiß. „Hieße es die 98 oder die 101 Superhelden, würde sich für diese Geschichten niemand interessieren“, sagt ihr Erfinder, der Kuwaiter Naif al-Mutawa. „Aber 99 ist ein Markenzeichen.“
Bei westlichen Lesern dürfte die Zahl allerdings kaum Assoziationen hervorrufen. „99“ steht für die im Koran so genannten „schönsten Namen“ Gottes, das heißt Eigenschaften, Fähigkeiten und Charakterzüge, die über die Jahrhunderte hinweg mit dem Gottesnamen in Verbindung gebracht wurden, der Gottesvorstellung zur Konkretion verhalfen und deshalb eine Art Repräsentation Gottes darstellen. Die Sure 59/22 enthält zum Beispiel eine Sammlung von mehr als einem Dutzend solcher Zuschreibungen, dazu kommen zahlreiche weitere aus dem gesamten Koran, bis die Zahl 99 erreicht (und überschritten) ist.
Autorin
Susanne Enderwitz
ist Professorin für Islamwissenschaft und Arabistik an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.In Einklang mit der streng monotheistischen Gottesauffassung ist Gott natürlich „der Eine und Einzige“, aber nicht nur das. Er ist „der Lebende“ ebenso wie „der Beständige“, „der Selbstgenügsame“, „der Mächtige“, „der Todesbringer“ oder „das Licht“. Jedes Attribut kann je nach Kontext, Perspektive und Interpretation sehr unterschiedliche Bedeutungen annehmen. Diesen Umstand machte sich al-Mutawa zunutze, als er seine „99“ erschuf.
Ursprünglich sind seine Superhelden ganz gewöhnliche Teenager. Sie stoßen durch eine persönliche Veranlagung und biographischen Umstände auf einen von 99 magischen Steinen, der ihr Leben grundlegend verändern wird. So wird Nawaf al-Bilali, ein Junge aus Saudi-Arabien, bei einer Explosion von den Splittern eines solchen Steines getroffen und Dana Ibrahim, ein Mädchen aus den Emiraten, findet bei ihrer Selbstbefreiung aus Geiselhaft ebenfalls einen magischen Stein. Doch die beiden wissen mit ihrem Fund nichts anzufangen, ebensowenig mit den Fähigkeiten, über die sie von nun an verfügen.
Nawaf verwandelt sich in einen Riesen mit übermenschlicher und anfangs noch zerstörerischer Körperkraft und Dana vermag die dunklen und hellen Seiten von Personen zu durchschauen. Erst nachdem die beiden ersten Helden des Comics in die Obhut von Doktor Ramzi Razem gelangt sind, der um das Geheimnis der Steine weiß und aus ihren Besitzern ein Team schaffen möchte, das das Böse in der Welt bekämpft, erfahren die beiden von ihrer Bestimmung. Sie wechseln ihre Namen und Identität: Aus Bilal wird Jabbar (nach dem Gottesnamen al-Jabbar, der Mächtige) und aus Dana wird Noora (oder Nura, nach dem Gottesnamen al-Nur, das Licht).
Nach und nach stoßen weitere Mitglieder zum Team: die Anglo-Pakistanerin Amira Khan, die unter ihrem neuen Namen Hadya (Vorbild ist al-Hadi, der Führer) ein menschliches GPS-System darstellt, Catarina Barbarossa aus Portugal, die als Mumita (nach al-Mumit, der Todesbringer) über überlegene Kampftechniken verfügt, oder Miklos Szekelyhidi aus Ungarn, der als Jami’ (entsprechend al-Jami’, der Versammler) ein technisches Superhirn besitzt. Im selben Maß, in dem die Steine über die ganze Welt verstreut sind, stammen auch ihre Finder aus vielen Ländern, bevor sie Mitglieder in Dr. Ramzis Team werden und in dessen Pariser Hauptquartier wechseln. Noch ist das Team nicht komplett, und ob es wirklich 99 Mitglieder werden, steht in den Sternen.
Naif al-Mutawa will in erster Linie jugendlichen Lesern im arabisch-islamischen Raum eine Alternative zu den Superhelden westlicher oder asiatischer Prägung bieten. Aber er will mit seinem Comic auch den westlichen und asiatischen Raum erobern, indem er die ebenfalls jugendliche Klientel der Batmans, Spidermans oder Hitmans auf die Seite der „99“ zieht. Dazu hat er nicht nur dieselben Texter, Zeichner und Koloristen engagiert, die auch die amerikanischen Superhelden-Comics schufen. Er vermeidet auch jegliche Anspielung auf den Islam, die einen westlichen Leser befremden könnte. Allenfalls das Kopftuch einiger Heldinnen verrät ihre Herkunft aus dem islamischen Raum. Das ist manchen islamischen Gelehrten zu wenig, und es hat schon öfter den Ruf nach einem Verbot des Comics gegeben. Aber bisher hat sich al-Mutawa gegen solche Forderungen zur Wehr setzen können, selbst im religionsstrengen Saudi-Arabien.
„Ich glaube, dass unser Markt global und nicht nur muslimisch sein wird“, sagt al-Mutawa. „In diesen Büchern gibt es nichts Religiöses. So wie sich Superman nicht bloß an ein jüdisch-christliches Publikum richtet, sind die ‚99‘ nicht nur für Muslime gedacht.“ Der Erfolg gibt ihm recht. Seit ihren Anfängen haben die „99“ kräftig expandiert. Noch im ersten Jahr ihres Erscheinens kam zur arabischen eine englischsprachige Version auf den Markt, die Hefte werden in gedruckt und elektronisch produziert, global agierende Firmen der Unterhaltungsindustrie stiegen ein.
In Kuwait wurde ein erster Themenpark eröffnet, eine Art Disneyland, weltweit werden Merchandisingprodukte vertrieben und jüngst kam die Meldung, dass die Firma Endemol U.K. eine Zeichentrickserie mit den „99“ produziert. Verlässliche Zahlen zur Fangemeinde der „99“ allerdings kaum zu ermitteln, aber das liegt auch daran, dass die elektronische Verbreitung der „99“ ein bedeutender Multiplikator ist. Immerhin hat das Forbes Magazine bereits im vergangenen Jahr die „99“ zu den „Top 20 Trends Sweeping the Globe“ gezählt.
Allerdings täte man al-Mutawa Unrecht, wollte man ihm unterstellen, dass er mit der Internationalisierung seines Teams, seiner Helden und seines Publikums nur die Marktchancen der „99“ im Auge hat. Al-Mutawa, der Diplome der Boston University in Psychologie, Anglistik und Geschichte erwarb, hat wirklich eine Mission. Er behandelte in den USA jahrelang traumatisierte Opfer des Golfkriegs, er ist mit der Verführungskraft martialischer Ideologien in seiner Herkunftsregion bestens vertraut, und er lässt seine eigenen Kinder bewusst in einer hybriden Kultur aufwachsen. Über diese Erfahrungen verfügt auch sein „alter ego“ Ramzi, der die „99“ im behutsamen Gebrauch ihrer Kräfte unterrichtet, sie die Vorzüge von Teamarbeit lehrt und sie im Dienst eines humanistischen Weltbildes auf ihre Missionen schickt.
An dieser Stelle spielt der Islam als historischer Begründungszusammenhang eine tragende Rolle, denn Ramzi handelt nicht im Sinn eines europäischen, sondern eines islamischen Humanismus. Die Vorgeschichte der 99 magischen Steine, die in der Sondernummer „Ursprünge“ erzählt wird, spielt im Bagdad des 13. Jahrhunderts. Kurz vor dem Mongolensturm gelingt es den Bibliothekaren des „Hauses der Weisheit“, das dort unter einem Dach vereinte Wissen und die Weisheit der Welt vermittels alchimistischer Prozesse in 99 Steine zu bannen, um sie vor der Zerstörung zu bewahren. Von Bagdad aus finden die Steine mitsamt den in ihnen bewahrten Schätzen ihren Weg ins muslimische Spanien, doch mit der Reconquista durch die spanischen Herrscher Ferdinand und Isabella im Jahr 1492 werden sie in alle Welt verstreut. Erst im 21. Jahrhundert ist die Zeit wieder reif dafür, dass dank Ramzi und unter Mithilfe der Träger und Finder der Steine deren Kraft und Inhalt zu neuem Leben erweckt wird.
Al-Mutawa ist kein islamischer Fundamentalist, ganz im Gegenteil. Bei den Abenteuern, die seine Helden zu bestehen haben, geht es nie um einen Kampf zwischen dem Unglauben und dem Islam, sondern immer um eine Auseinandersetzung zwischen Egoismus und Gier und dem Wohl der Menschheit. Der islamische Humanismus des Mittelalters wird als eine Kultur verstanden, die das legitime Erbe der Griechen, Perser, Inder und anderer Hochzivilisationen des Altertums übernommen hatte. Von daher stammt al-Mutawas – und Ramzis – Überzeugung, dass Humanismus unteilbar ist.