Von Radio „La Tribu“
Entscheidend für derlei Betriebsübernahmen und die selbstverwaltete Fortsetzung der Produktion waren die Jahre 2001 und 2002. Die Wirtschaftskrise damals und die heftigen sozialen Kämpfe sowie andere Erfahrungen des Widerstands wie Stadtteilversammlungen oder die Arbeitslosenbewegung der „Piqueteros“ bestärkten die Arbeiter darin, sich für ihre Arbeitsplätze einzusetzen. Ziel war es, die Fabrik am Laufen zu halten, die Handlungsfähigkeit der Arbeiter zu stärken und die Produktion zu demokratisieren.
Die Fliesenfabrik Cerámicas Zanón wurde 1979 vom italienischen Unternehmer Luigi Zanón gegründet. Er verstand es, sich sowohl mit den damaligen Militärregimes als auch mit den nachfolgenden demokratischen Regierungen wirtschaftlich zu arrangieren. Das Unternehmen wuchs zu einem der größten Hersteller von Fliesen und Keramik des Landes. Im Jahr 2000 übernahm eine Gewerkschaft den Betrieb, verbesserte die Arbeitsbedingungen und verhinderte Massenentlassungen. Damit war die Arbeiterschaft auch gewappnet, als die Familie Zanón 2001 beschloss, die Produktion stillzulegen und die Arbeiterinnen und Arbeiter ohne Auszahlung der ausstehenden Löhne oder eine Entschädigung zu entlassen. Im Oktober 2001 besetzten die Arbeiterinnen und Arbeiter in der Provinz Neuquén im Süden des Landes das Fabrikgelände, auf dem sie vier Monate lang kampierten. Von diesem Zeitpunkt an kämpften sie nicht mehr nur für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze, sondern auch für die Steigerung der Produktion und für neue Jobs. Fünf Mal sollte die Fabrik geräumt werden, doch die Arbeiter wehrten sich dagegen, ermutigt von Solidaritätsbekundungen aus dem ganzen Land. Als 2005 der letzte Räumungsbefehl erlassen wurde, versammelten sich 8000 Menschen auf dem Fabrikgelände, um die Arbeiter und Arbeiterinnen zu unterstützen. Im August 2009 schließlich erklärte eine Mehrheit des Provinzparlaments die Fabrik als Gegenstand des öffentlichen Interesses, was die Enteignung nach argentinischem Recht erlaubt. Für die Bewegung ist das ein Meilenstein.
Für Omar Villablanca, dem Generalsekretär der Keramikgewerkschaft von Neuquén, war die selbstverwaltete Fortsetzung des Betriebs von Zanón eine Notwendigkeit. „Sonst hätten wir uns mit der Arbeitslosigkeit und einer Beihilfe von 150 Pesos (etwa 26 Euro) abfinden müssen. Die Selbstverwaltung der Arbeiter bei Zanón ist ein Lebensprojekt, weil wir unsere Erfahrung als Hoffnung für den Rest der Arbeiterklasse sehen.“ Zanón sei zu einem Ort geworden, der eine Alternative aufzeige: „Seit vielen Jahren setzen wir uns für einen stärkeren Staat ein. Tausende Familien haben kein Dach über dem Kopf, hunderte Familien kommen jährlich bei Landbesetzungen um. Wir sehen hier eine öffentliche Verantwortung und appellieren deshalb an die Provinzregierung und die Landesregierung, Antworten auf so grundlegende Fragen wie Wohnen, Bildung und Gesundheit zu geben“, sagt Villablanca.
Die aktuelle wirtschaftliche Lage der Fabrik ist gut. Die Arbeiter konnten ein beachtliches Produktionsniveau halten und haben die durchschnittlichen Gehälter wieder auf das Niveau wie zu den Zeiten unter ihrem früheren Chef gebracht. Sie haben zudem das Vertrauen der Kunden gewinnen können. All das spricht dafür, dass der Ansatz wirtschaftlich erfolgreich sein kann, obwohl er einer ganz anderen Logik folgt als der des freien Marktes. Die Kooperative von Zanón, FaSinPat (Fábrica sin Patrones, Fabrik ohne Chefs), hat die Ideen wirtschaftlicher Selbstverwaltung und basisdemokratischer Politik in die Tat umgesetzt.
Ein anderes Beispiel ist die Druckerei Gaglianone, die 1923 in Pompeya gegründet wurde, einem alten Arbeiterviertel von Buenos Aires. Die Druckerei produzierte und publizierte Kunstbücher und Kunstkataloge. Nach der Krise im Jahr 2001 waren von den ehemals 50 Arbeiterinnen und Arbeitern des Unternehmens nur noch acht übrig geblieben, deren Lohn-
rückstände sich auf ein ganzes Jahresgehalt beliefen. Sie besetzten nach dem Konkurs die Fabrik und hinderten den Eigentümer daran, die Maschinen abzutransportieren. Die Besetzung dauerte acht Monate und überlebte zwei Räumungsversuche. In dieser Zeit war die Druckerei offiziell geschlossen und stand unter Polizeischutz. Doch die Belegschaft produzierte mit der Unterstützung von Nachbarn und anderen Organisationen heimlich weiter und stellte ein Buch her, das durch eine Öffnung in der Mauer der Druckerei ausgeliefert wurde.
Im Oktober 2002 schließlich erhielten die Arbeiterinnen und Arbeiter eine staatliche Bürgschaft, mit deren Hilfe sie die im Aufbau befindliche Kooperative festigen konnten. „Wir sind heute schon fast doppelt so viele Mitarbeiter wie am Anfang der Besetzung. Das war nicht geplant. Damals sahen wir uns einfach gezwungen, gewisse Risiken einzugehen, um unsere Jobs zu sichern“, sagt Ernesto, einer der Drucker. „Wir treffen jetzt alle wichtigen Entscheidungen über die Zukunft und Verwaltung des Unternehmens selbst, vorher waren wir einfach gewohnt zu gehorchen. Bei einigen Kameraden merkt man sogar, wie das ihre Persönlichkeit verändert hat. Vielleicht ist bei vielen ein Bewusstsein dafür geblieben, dass Fragen basisdemokratisch und am jeweiligen Arbeitsplatz entschieden werden sollten.“ Die wirtschaftliche Lage der Fabrik ist stabil. Nach einigem Auf und Ab ist das Lohnniveau inzwischen besser als zu Zeiten des alten Chefs. Sieht man dazu noch den stetig wachsenden Kundenstamm, so handelt es sich eindeutig um ein erfolgreiches Beispiel der Arbeiterselbstverwaltung. Auch wenn es in Argentinien über die möglichen Errungenschaften bei der Übernahme und Selbstverwaltung von Fabriken heftige Kontroversen gibt, so herrscht in einem Punkt große Übereinstimmung: Das Erreichte kann auf Dauer nur durch eine gemeinsame Anstrengung aller Beteiligten gesichert werden. Die Selbstverwaltung von Unternehmen bedarf einer möglichst breiten Basis und zugleich müssen unterschiedliche Ansätze respektiert werden. Zudem müssen sowohl mit der übrigen Wirtschaft als auch mit der Politik Arrangements gefunden werden – ohne sich der gefräßigen Logik des Marktes zu unterwerfen oder sich von der Vetternwirtschaft des Staates abhängig zu machen.
Das Gemeinschaftsradio „fm la tribu“ in Buenos Aires versteht sich als Stimme sozialer Bewegungen. Das Spektrum der Sendungen umfasst Politik und Menschenrechte, aber auch Musik und Literatur.