„Die Ärmsten sind von ihrer engsten Familie abhängig“

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Mosambik
Als arm gilt für Ökonomen, wer für seinen Konsum weniger als einen bestimmten Betrag zur Verfügung hat. Edward Jones hat Menschen in Mosambik gefragt, was für sie maßgeblich ist – und gefunden, dass sie oft noch andere Kriterien anlegen.

Wie viele Mosambikanerinnen und Mosambikaner gelten nach den üblichen wirtschaftlichen Maßstäben als extrem arm?
Unter die offizielle Armutsgrenze fallen zwischen 10 und 15 Millionen Menschen in Mosambik, also etwa die Hälfte der Bevölkerung. Seit den späten 1990er Jahren bis Mitte der 2000er ist die Armutsrate im Land schnell gesunken, danach etwas langsamer. Armut gibt es vor allem in ländlichen Gebieten: Die Landwirtschaft ist in Mosambik nicht besonders produktiv, deshalb leben viele Menschen auf dem Land unter oder nur ganz knapp oberhalb der Armutsgrenze. Das Risiko, arm zu sein, steigt außerdem mit niedrigem Bildungsstand oder einer großen Familie.

Stehen die offiziellen Zahlen im Widerspruch dazu, wie die Menschen Armut selbst wahrnehmen?
Ja. Die zitierten Zahlen beruhen auf standardisierten ökonomischen Ansätzen zur Messung von Konsum. Dahinter steht die Annahme, dass wenig Konsum gleichbedeutend mit Armut ist. Wenn man die Leute fragt, wann jemand nicht arm ist, erwähnen sie durchaus Vermögen und den Zugang zu ausreichend zu essen – ihre Sicht unterscheidet sich also nicht gänzlich von der ökonomischen. Aber sie erwähnen auch viele andere Dinge, die bestimmen, wer arm ist. Ein Schlüsselfaktor sind oft Beziehungen zu anderen Menschen: Können wir auf andere zurückgreifen, um etwas zu erreichen? Guckt jemand auf uns herab?

Unterscheiden die Menschen verschiedene Arten von Armut?
Ja. Wenn du anfängst, mit Menschen zu sprechen, benutzt du nicht das Wort „Armut“, sondern fragst: Wer ist besser dran, wer ist schlechter dran? Die Antworten lassen sich nicht einfach den Kategorien „arm“ oder „nicht arm“ zuordnen. Stattdessen kriegst du eine große Bandbreite an sozialen Stellungen. Manche Menschen werden als bedürftig oder chronisch arm wahrgenommen: Sie haben keine Mittel, aus ihrer Lage herauszukommen. Über andere wird gesagt, dass sie nur vorübergehend in einer schwierigen Situation seien. Es gibt auch unterschiedliche Deutungen darüber, wem es gut geht und welche Form von Wohlstand gerecht ist: Manchen Leuten geht es gut, weil sie viel Einfluss oder politische Kontakte haben; andere haben sich ihren Wohlstand langsam erarbeitet. Letztere werden mehr respektiert als jene, die aufgrund irgendeines Projekts schnell reich geworden sind.

Der Zugang zu Arbeitsplätzen oder Bildung ist nicht der wichtigste Faktor für Armut?
Das kommt darauf an, wo man lebt. In einem von kommerzieller Geldwirtschaft geprägten Umfeld in der Stadt – etwa der Hauptstadt – hängt die Armut stark mit Arbeit und Bildung zusammen. Aber auf dem Land geht es mehr um die sozialen Beziehungen. Menschen ohne Zugang zu Netzwerken und Amts- und Würdenträgern finden sich in einer viel schwierigeren Lage wieder als jene, die solche Beziehungen haben. Selbst wenn sie Geld hätten, könnten sie nicht viel damit erreichen. Und sie kriegen keine Möglichkeiten, Geld zu verdienen und sich Vermögen zu schaffen.

Armut ist besonders auf dem Land eng mit sozialem Ausschluss verbunden?
Ja. Und die Form des Ausschlusses kann dabei variieren. Manchmal hängt es am Geschlecht, manchmal an der Religion und oft geht es um politische Verbindungen. Wir haben zum Beispiel untersucht, wer von lokalen Förderprogrammen profitiert, die in Mosambik vor über zehn Jahren aufgesetzt wurden und Gelder für Entwicklungsprojekte in die Distrikte weiterleiten. Diese dezentralisierte Förderung sollte die lokale Bevölkerung ermächtigen, Projekte zur Bekämpfung von Armut auf den Weg zu bringen, beispielsweise in der Landwirtschaft oder für Frauen. Tatsächlich geht ein großer Teil dieses Geldes an Menschen, die bereits gut vernetzt und einflussreich sind. Leute mit guten Ideen, die das Geld nutzen könnten, die aber keine Kontakte haben, haben dagegen keine Chance. Dies kann Armut dauerhaft machen und sogar eine Armut fördernde Geisteshaltung erzeugen: Wenn du keine wünschenswerte Zukunft sieht, hörst du auf, längerfristige Pläne zu schmieden. Die Ärmsten sind am Ende von ihrer engsten Familie abhängig, weil es in Mosambik kein Sozialsystem gibt. In einer wirklich schwierigen Situation spalten sich Haushalte auch oft auf: Es kommt vor, dass Kinder zu einem Bruder oder Onkel geschickt werden, weil die Eltern die Situation einfach nicht bewältigen können.

Unterscheidet sich die Wahrnehmung von Armut in den verschiedenen Landesteilen?
Ja. Die Gegend rund um die Hauptstadt ist vergleichsweise viel reicher und traditionelle Werte und Bindungen sind weniger stark. Der Norden ist nicht nur ländlicher und ärmer, auch die Geschlechterverhältnisse unterscheiden sich: Der Süden ist patriarchaler, während Frauen im Norden ein stärkere Rolle in der Gesellschaft haben.  

Kann die lokale Wahrnehmung von Armut als Frage von Beziehungen mit den statistischen Ansätzen kombiniert oder in Einklang gebracht werden?
Das ist aufgrund der fundamentalen Unterschiede kompliziert. Soziale Beziehungen kann man nicht zählen, man muss sie verstehen. Beide Ansätze verhalten sich komplementär zueinander, aber man kann sie nicht miteinander verschmelzen. Armut mit Zahlen zu erfassen ist wichtig, um zu wissen, wo es gut und wo schlecht läuft. Aber gleichzeitig müssen wir verstehen, was Armut erzeugt. Dabei hilft die Analyse sozialer Beziehungen und lokaler Machtverhältnisse – außer wenn es um sehr arme Regionen ohne jede Möglichkeiten geht. Hinzu kommt: Wenn Dinge sich verändern, profitieren einige und andere nicht. Es ist sehr wichtig zu verstehen, wer zurückgelassen wird und warum. Deshalb muss man mit Menschen reden und die sozialen Beziehungen erforschen.

Was folgt daraus für die Armutsbekämpfung?
Entwicklungsprojekte von außen laufen immer Gefahr, lokale Machtbeziehungen zu verstärken, wenn man dabei vor allem mit politisch einflussreichen Leuten umgeht. Für dieses Problem gibt es keine einfache Lösung. Aber man sollte es auf dem Schirm haben und darüber nachdenken, wie Menschen unterstützt werden können, ohne lokale Machtverhältnisse zu stützen. Große Veränderungen wie der Bau einer neuen Straße können wirklich etwas ändern, weil sie die lokale Machtbalance aus dem Gleichgewicht bringen: Menschen haben plötzlich ganz neue Möglichkeiten. Sie können etwa die Straße nutzen, um Zugang zu Märkten zu bekommen. Wir sollten auch mehr darüber nachdenken, wie wir Leute dabei unterstützen können, innerhalb eines Landes mobil zu sein. Die wirtschaftlichen Möglichkeiten unterscheiden sich stark von Ort zu Ort. Wenn wir Leute dabei unterstützen, in die Stadt zu gehen, wenn ihre Ernte ausfällt, dann wird ihnen das helfen. Viele Arme auf dem Land kennen niemanden in der Stadt, so dass es ihnen dort an Unterstützungsstrukturen mangelt.

Das Gespräch führte Bernd Ludermann.

 

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erschienen in Ausgabe 12 / 2019: Armut: Es fehlt nicht nur am Geld
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