Wenige Gerüchte halten sich so hartnäckig wie die Behauptung, Seenotretter wirkten als sogenannter Pull-Faktor. Flüchtlinge, so der Vorwurf in Richtung privater Seenotrettungsorganisationen, würden die gefährliche Fahrt übers Mittelmeer nur wagen, weil sie hofften, im Ernstfall von Schiffen wie der Sea-Watch oder der Alan Kurdi gerettet zu werden. Zumindest indirekt unterstützten die Seenotretter damit das Geschäft von Schleuserbanden. Die Seenotretter, aber auch Migrationsforscher, haben das stets zurückgewiesen – zu Recht, wie eine neue Studie des Migration Policy Center zeigt.
Insgesamt haben die Crews zivilgesellschaftlicher Organisationen der Studie zufolge zwischen 2014 und Oktober 2019 im Mittelmeer 115.000 Flüchtlinge gerettet. Wie viele Migranten monatlich von Libyen aus in See stechen, stehe dabei in keinerlei Zusammenhang mit der Präsenz privater Seenotretter. Die Zahl der versuchten Überfahrten schwanke unabhängig von der Zahl der von den Organisationen geretteten Flüchtlinge, schreiben die Autoren des Berichts, Eugenio Cusumano und Matteo Villa. Für die Studie haben sie Daten des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, der Internationalen Organisation für Migration (IOM), der italienischen Küstenwache sowie Angaben der privaten Seenotrettungsorganisationen ausgewertet.
Das Wetter hat einen großen Einfluss
Für das Jahr 2019 haben die Forscher sogar die tägliche Anzahl an versuchten Überfahrten mit den Operationen privater Seenotretter vor der libyschen Küste ins Verhältnis gesetzt. Auch hier ist das Ergebnis eindeutig: Flüchtlinge entscheiden unabhängig von der Präsenz der Rettungsschiffe, ob sie die Überfahrt wagen oder nicht. Einen großen Einfluss auf die Entscheidung hat der Studie zufolge hingegen das Wetter vor der libyschen Küste.
Es gebe keine empirische Evidenz dafür, dass Seenotrettung ein Pull-Faktor sei, schreiben die Autoren. Sie fordern, die Arbeit der Seenotretter nicht weiter zu behindern. Denn es machten sich zwar nicht mehr Menschen auf den Weg übers Mittelmeer, wenn die Rettungsschiffe patrouillieren – wenn die Seenotretter im Hafen bleiben, werde die Überfahrt aber um einiges gefährlicher.
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