Tunesierinnen und Tunesier in der Wüste bei Ong Jemel (Archivbild)
Tunis (epd). Hunderte Nachrichten sind es, die auf dem Kurznachrichtendienst Twitter unter dem Hashtag #EnaZeda veröffentlicht wurden. EnaZeda steht für "Ich auch" in tunesischem Arabisch, dem englischen #Metoo nachempfunden. An einer Facebook-Gruppe gleichen Namens beteiligen sich mehrere Tausend Tunesierinnen - und Tunesier. Auch hier berichten seit Mitte Oktober vor allem Frauen, wie sie diskriminiert wurden oder sexuelle Gewalt erlitten.
Zwei Jahre nach Beginn der #MeToo-Bewegung hat Tunesien damit sein eigenes Schlagwort, um über das bislang tabuisierte Thema zu sprechen. "Ich glaube nicht, dass es eine Frau in Tunesien gibt, die nicht selbst schon Opfer sexueller Belästigung geworden ist", schreibt die Bloggerin Lina Ben Mhenni.
Alles andere als Einzelfälle
Losgetreten wurde #EnaZeda von Fotos, die eine Schülerin gemacht hat. Sie zeigen den Anfang Oktober neu gewählten Parlamentsabgeordneten Zouhair Makhlouf, der in einem Auto neben ihr herfuhr. Man sieht, wie er in einem Auto vor einem Gymnasium in Nabeul, rund 60 Kilometer südlich der Hauptstadt Tunis, mit heruntergelassener Hose und bei offenem Autofenster mutmaßlich masturbiert.
Dass solche Vorkommnisse alles andere als Einzelfälle sind, zeigen die Schilderungen im Internet. Viele Frauen erzählen davon, wie sie schon als Kinder belästigt oder missbraucht wurden. "Der Mechaniker, der mich geküsst hat, als ich sieben war; die Typen, die in der vollen Straßenbahn ihre Hand in meinen Schritt schoben, als ich zwölf, dreizehn war; die Idioten, die einen im Kino anfassen…", schreibt zum Beispiel Nadia A. auf Twitter.
Thema nach wie vor belastet
Als erste nutzte den Hashtag #EnaZeda die 35-jährige Amel Haouet. "Ich hätte nicht mit solch einer Reaktion gerechnet", sagt sie. "Die Affäre Makhlouf hat das Fass zum Überlaufen gebracht." Sie ist froh, dass das Tabu gebrochen ist und das Thema nun öffentlich diskutiert wird. "Generell fehlen uns beim Thema Sex die Worte - es gibt nur formelle hocharabische Worte, die wir hier nicht nutzen, oder vulgäre, obszöne Worte im lokalen Dialekt."
Wie belastet das Thema nach wie vor ist, zeigt sich auch daran, dass sich kaum bekannte Persönlichkeiten trauen, darüber zu sprechen. Einzig die scheidende Arbeitsministerin von der islamischen Ennadha-Partei, Saida Ounissi, berichtet auf ihrem Facebook-Konto, wie sie als Zwölfjährige eine ähnliche Situation erlebt hat wie die Schülerin, deren Fotos #EnaZeda losgetreten haben. "Ich hatte weder die Worte noch den Mut, mit meiner Mutter oder dem Schulpersonal zu sprechen", schrieb sie. "Ich habe nur jahrelang jedes Mal Angst gehabt, wenn ich ein weißes Auto gesehen habe."
Rechtslage für Opfer verbessert
Eine repräsentative Studie aus dem Jahr 2016 ergab, dass drei Viertel von knapp 4.000 befragten Frauen in Tunesien in der Vergangenheit sexuelle Gewalt erlebt haben. Unter den Nutzerinnen des öffentlichen Nahverkehrs waren es sogar mehr als 90 Prozent, heißt es in der Studie des Forschungsinstituts Credif, das dem Familienministerium untersteht.
Im Fall des Abgeordneten Makhlouf hat die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren eröffnet. Makhlouf wies die Anschuldigungen zurück. Er gab an, Diabetiker zu sein und in eine Plastikflasche uriniert zu haben, als die Fotos gemacht wurden. Ihm drohen im Fall einer Verurteilung eine Geldstrafe von 5.000 Dinar (rund 1.500 Euro) und bis zu zwei Jahren Gefängnis. Sonia Ben Miled von der Organisation Aswat Nissa (Frauenstimmen), die die Schülerin betreut, befürchtet, dass der Fall verschleppt wird - und Makhlouf mit Beginn seines Mandats ab Mitte November durch seine parlamentarische Immunität vor Strafverfolgung geschützt ist.
Seit der Verabschiedung eines umfassenden Gesetzes zum Schutz von Frauen gegen Gewalt 2017 hat sich die Rechtslage für Opfer zwar deutlich verbessert. Allerdings hake es in vielen Bereichen noch an der Umsetzung, sagt Ben Miled. Es fehle zum Beispiel nach wie vor an Strukturen zum Schutz von Opfern, an der Weiterbildung von Sicherheitskräften und an der Sensibilisierung zum Thema sexuelle Gewalt in Schulen. "Der Haushalt des Frauenministeriums ist in den letzten Jahren immer mehr geschrumpft", beklagt sie. Ben Miled appelliert an das neu gewählte Parlament, mit der Umsetzung des Gesetzes Ernst zu machen.
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