„Wir müssen uns selbst befreien“

Mit dem Schreiben von Romanen hat der Bauernsohn Yan Lianke in den 1980er Jahren den Weg in die Stadt geschafft. Doch dann begann er über Schattenseiten der Gesellschaft in China zu schrei­ben und geriet ins Visier der Zensur. Den Schriftstellern der jungen Generation hält er vor, sie interessierten sich mehr für die eigene Sicherheit als dafür, sich mit der sozialen Wirklichkeit in China auseinanderzusetzen.

Der Schriftsteller Yan Lianke liebt das Widersprüchliche. Das mache die Faszination der Gesellschaft Chinas aus, sagt der 51-Jährige. Zu Gesprächen bittet Yan gern in traditionelle Teehäuser. Sein modernes Handy benutzt er wie ein Geschäftsmann mit Headset. Sein Gesichtsausdruck ist sanft, manchmal unbeteiligt. Er formuliert strukturiert-sachlich, fast wie ein Rechtsanwalt – erstens, zweitens, drittens.

Yan mag weder falsche Bescheidenheit noch höfliche Kritik. Das Schreiben und die Literatur gelte es nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. „Als Schriftsteller darf man der Realität nicht ausweichen“, sagt er. „Die Leser meiner Bücher dürfen sich vergnügen, aber vor allem sollen sie Schmerz empfinden.“

Autorin

Kristin Kupfer

ist Sinologin und arbeitet als freie Journalistin in Peking, unter anderem für den epd.

Yan Lianke hat die Licht- und Schattenseiten eines widersprüchlichen China selbst durchlebt. Er wird im Sommer 1958 als jüngstes von vier Kindern in einem kleinen entlegenen Dorf der zentralchinesischen Provinz Henan geboren. Seine Familie kämpft ums Überleben, für die weiterführende Schule reicht das Geld nicht. Ein Onkel nimmt den jugendlichen Yan mit in die Kreisstadt, wo er als Handwerker zum Familieneinkommen beiträgt. Gleichzeitig liest er, so viel er kann – unter anderem von einem jungen Mann, der wegen eines erfolgreichen Romans vom Land in die Stadt beordert wird. In Yan wächst der Gedanke, sich aus dem abgeschotteten Dorfleben herauszuschreiben. Er beginnt erste Geschichten zu verfassen. Seine Eltern, Bauern und Analphabeten, halten ihn für verrückt. Sie drängten ihn immer, doch endlich die Öllampe auszumachen, um Geld zu sparen, erinnert sich Yan.

1978 meldet sich Yan zur Armee; das war damals der einzige Weg für Jugendliche, dem Landleben zu entkommen. Über diese Zeit spricht er nicht viel. Wegen seines Sprachtalents wird Yan schnell in die Kommunikationsabteilung versetzt. Sein Mitte der 1980er Jahre erschienener erster Roman „Geschichte der Gastrodia (Orchidee)“ bringt ihm in der Truppe viel Anerkennung ein. Er schließt ein Studium der Politik und Pädagogik und später eines der Literatur ab. Mit der Aufnahme als militärischer Kader, Versetzung in die Bibliothek und seiner Heirat hat Yan den Traum von einer gesicherten Lebensbasis in der Stadt verwirklicht.

„Doch dann änderte sich der Antrieb meines Schreibens“, sagt Yan, „ich begann, nach Tiefe, nach den Schmerzen des Lebens zu suchen.“ Der Auslöser dafür waren zum einen die chinesisch-vietnamesischen Grenzscharmützel von 1979 bis 1989, bei denen viele von Yans Kameraden starben. Während der Asienspiele 1990 nahmen sich die Staatsoberhäupter der beiden sozialistischen Länder dann wieder freundschaftlich in die Arme. Wie viel ist das Leben eines Menschen wert, fragte sich Yan. Sein Roman „Xia Riluo“ über einen jungen Soldaten, der Selbstmord begeht, erscheint 1993, nachdem Yan sechs Monate mit dem Verlag um Überarbeitungen ringen musste. Das Buch wird sofort verboten. „Damals ging es der Regierung noch um Kontrolle über das Bewusstsein eines Schriftstellers“, sagt Yan. „Ich hatte mich schon auf Arbeitslager eingestellt und Vorkehrungen für meine Familie getroffen.“ Berichte ausländischer Medien retteten ihn damals, so Yan.

Auch sein nächster bedeutender Roman „Lebensgenuss“ (Shouhuo), der 2004 erscheint, sorgt für Wirbel. Die Geschichte beschreibt ein Dorf mit Namen Lebensgenuss, in dem alle Bewohner von Natur aus behindert sind und alle Gesunden für behindert halten. Zum einen bringt das Werk Yan den 3. Lao-She-Literaturpreis ein (benannt nach dem Schriftsteller Lao She, 1899-1966) und damit höchste nationale Anerkennung. Zum anderen wird es so heftig kritisiert, dass Yans Vorgesetzter bei der Armee ihm nahelegt, die Versetzung auf einen zivilen Posten zu beantragen. Allerdings muss er nicht mehr um eine Beeinträchtigung seines Lebens fürchten. Er erhält einen Posten beim staatlichen Schriftstellerverband. Für Yan ist das ein Zeichen fortschrittlicher Kontrollmechanismen. „Heutzutage kann man als Schriftsteller schreiben, was man will“, sagt er. „Die Regierung wirkt nur noch auf die Verlage ein, was erscheinen kann und was nicht.“

Verleger tragen demnach die Hauptlast der Zensur. Ob das Buch Probleme bringt, ist eine wichtige Überlegung der Herausgeber. Aber auch der potentielle Markt sowie die Qualität spielen eine Rolle. „Besonders unter der wachsenden Zahl privater Verleger gibt es einige Idealisten“, sagt Yan. „Sie sind bereit, für gute Literatur das Risiko einer Abstrafung einzugehen.“ Das passierte dem Schanghaier Kunst und Literaturverlag, als er 2006 Yans Roman „Traum meines Großvaters“ (Ding zhuang meng) herausgab. Er beruht auf wahren Begebenheiten: Yan beschreibt ein armes Dorf in seiner Heimat Henan, in dem die Bewohner Blut spenden, um Geld zu verdienen. Aufgrund von Panscherei in den Blutbanken erhalten sie bei der Rücktransfusion HIV-infiziertes Blut. Das Werk wurde verboten, ist allerdings weiter frei im Internet zu lesen. Und es erschien noch im selben Jahr in Hongkong. Die Sonderverwaltungszone oder auch Taiwan sind für viele chinesische Autoren ein wichtiger Markt und bieten die Möglichkeit zur völlig unzensierten Publikation.

Gab es früher klare Zensurrichtlinien für Autoren, so kann ein Schriftsteller das heute nicht mehr klar fassen. Dass sein 2005 in einer Zeitschrift erschienener Roman „Dem Volke dienen“ verboten wurde, hat Yan überrascht. Er habe weitaus Kritischeres und Provokanteres geschrieben, meint er. Offenbar war aber den Zensoren die frech-ironisch geschriebene Inszenierung einer Liebe zwischen einer Generalsfrau und einem jungen Soldaten zu viel. Allerdings ist auch dieser Roman leicht in der virtuellen Welt zu finden. Manches habe er erfunden, sagt der ehemalige Soldat, doch vieles habe er im Militär genau so erlebt oder gehört.

Die Bereitschaft, die Realität zu durchdringen und in Beziehung zu sich selbst zu setzen, sieht Yan als die wichtigsten Eigenschaften eines Autors an. Genau daran fehle es der jungen Schriftstellergeneration in China. Zum Teil könnten sie nichts dafür, meint er: Ihnen fehlten die Erfahrungen der politischen Wechselbäder aus den 1950er bis 1980er Jahren. „Sie sind betüddelte Einzelkinder, sehr egoistisch und materialistisch“, lautet Yans harsches Urteil. Warum keiner einen Roman des Heranwachsens schreibt, sondern nur auf die eigene kleine Welt Bezug nimmt, will er wissen. Auch zeigten die 20- bis 40-jährigen Schriftsteller keinen „Rebellionsgeist“. Sie könnten unabhängig sein, doch drängten viele in den Schriftstellerverband oder strebten nach sicheren Posten. „Sicherheit und Theoriedebatten sind es, die ihr Schaffen prägen“, sagt Yan.

Doch dass auch ihre Vertreter Teil der offiziellen chinesischen Autorendelegation auf der Frankfurter Buchmesse sind, findet Yan gut. Die Delegation ist sehr vielseitig, meint er. Von großen Schriftstellern wie Mo Yan oder Liu Zhengyun bis zur Bestseller-Autorin seien alle dabei.  Dass China ihn nicht hat mitreisen lassen, macht Yan nicht viel aus. „Es hat mir meine Rolle und Position hier klarer gemacht“, sagt er. Seit Anfang des Jahres hat er eine Gastprofessor für Literatur an der Pekinger Volksuniversität inne. Schade sei, dass bis dato nur seine verbotenen Romane ins Deutsche übersetzt seien. Das Verbot dürfe kein Maßstab für gute Literatur sein. Und auch für das Schreiben nicht, fügt er mit einem selbstkritischen Unterton hinzu. „Durch die langen Jahre im System übt jeder unsichtbar Selbstzensur“, sagt Yan. „Wir dürfen nicht darauf warten, befreit zu werden, sondern müssen uns selbst befreien.“

 

erschienen in Ausgabe 10 / 2009: Homosexualität: Akzeptiert, verdrängt, verboten
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