Was ist eine Enzyklika?
Enzykliken sind Lehrschreiben. Sie sollen die Lehre der Kirche in Aspekten, die aktuell diskutiert werden, konkretisieren und weiter entwickeln. Sie haben einen vergleichsweise hohen Anspruch, von den Gläubigen ernst genommen zu werden. Die Aussagen in Sozialenzykliken sind aber keine Dogmen und vor allem nicht mit einem Anspruch auf Unfehlbarkeit verbunden.
Die neue Enzyklika „Caritas in Veritate“ knüpft an Probleme der Globalisierung an – Hunger, Ungleichheit, die Finanzkrise. Wo entwickelt sie die Haltung der katholischen Kirche in der Sozialethik fort?
Beeindruckend ist erstens, dass sie Armut eng mit Arbeitslosigkeit und dem schlechten Zugang zu Erwerbsarbeit verbindet. Sie benennt außerdem das Problem der prekären Arbeitsverhältnisse. Das ist ein wichtiger Schritt nach vorn. Ein zweiter ist die Reflexion über ethische Aspekte der Verlagerung von Arbeitsplätzen in Entwicklungsländer. Die Enzyklika macht deutlich: Die Diskussion in den Industrieländern blendet aus, dass Betriebsverlagerungen nicht nur bei uns Arbeitsplätze kosten, sondern auch in Niedriglohnländern neue entstehen lassen. Dies muss aber so geschehen, dass Unternehmen sich langfristig in ärmeren Ländern engagieren und nicht nur schnelle Gewinne absahnen und dann weiterziehen. Die dritte Weiterentwicklung sehe ich in dem Hinweis darauf, dass Unternehmen zwar darauf ausgerichtet sein können, Gewinne zu machen. Aber damit ist auch eine soziale Verantwortung verbunden. Nach der typisch liberalen Vorstellung sollen Unternehmen allein das Gewinnziel verfolgen. Die Verantwortung dafür, dass dies insgesamt zu einem guten Ergebnis führt, liegt ausschließlich beim Staat, der den Rahmen setzt. Diese Vorstellung ist viel zu einfach. Unternehmen haben eine Mitverantwortung für das Gemeinwohl.
Sind die Forderung der Enzyklika nach Agrarreformen und die Bezeichnung des Zugangs zu Nahrung und Wasser als Menschenrechte Neuerungen in der katholischen Soziallehre?
Der Ruf nach Agrarreformen ist nicht neu – diese Linie vertritt die katholische Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Grundsätzlich ist das Privateigentum in der katholischen Sozialethik – ähnlich wie in der evangelischen und anders als in der liberalen Tradition – kein absolutes Recht. Es untersteht der Norm, dass jede Regelung der Eigentumsverhältnisse dem Gemeinwohl dienen muss. Wenn das Privateigentum absolut gesetzt wird und das dazu führt, dass viele Menschen keine Möglichkeit auf ein Einkommen haben, ist die bestehende Eigentumsordnung in Frage gestellt und man muss neue Arrangements finden. Die Menschenrechte wiederum hat die katholische Kirche mit der Friedensenzyklika „Pacem in Terris“ von Johannes XXIII. von 1963 aufgegriffen, nachdem sie ihnen vorher lange Zeit sehr reserviert gegenübergestanden hatte. Mit dem Recht auf Wasser wird dieser Ansatz jetzt auf einen weiteren Bereich angewendet, insofern ist das eine Fortentwicklung. Überhaupt enthält diese Enzyklika zur Entwicklungspolitik interessante Aussagen. Sie erklärt zum Beispiel, dass geistige Eigentumsrechte, gerade in der Medizin, überbetont werden. Damit stellt der Papst das Ausmaß des Patentschutzes für Medikamente in Frage. Und er sagt, dass die Art, wie der Zugang zu Energiequellen geregelt ist – in Nigeria wird er zum Beispiel von großen Ölkonzernen beherrscht –, oft ein Entwicklungshindernis ist. Man müsse deshalb das Eigentumsrecht an diesen Energiequellen unter Einbeziehung der betroffenen Bevölkerung neu regeln. Damit setzt der Papst hinter den Verkauf der Nutzungsrechte an große Konzerne ein Fragezeichen.
Wo bleibt „Caritas in Veritate“ neue Antworten schuldig?
Zwei Leerstellen fallen auf – umso mehr, als es im Vorfeld der Veröffentlichung hieß, man wolle darauf eingehen. Das erste ist der Klimawandel. In Rom hat zu diesem Thema eine große Tagung stattgefunden. Dabei war klar, es geht auch um die Vorbereitung einer neuen Sozialenzyklika. Offenbar hat dann der Mut gefehlt, den Klimawandel eindeutig als vom Menschen verursacht zu bezeichnen und entsprechende Schlüsse daraus zu ziehen. Das ist sehr misslich, weil der Klimawandel an sich eine der drängenden politischen Herausforderungen ist und zugleich ein enormes Gerechtigkeitsproblem: Die Reichen verursachen die Erderwärmung und die Armen sind die Hauptleidtragenden. Dass dies nicht behandelt wird, ist eine große Enttäuschung. Die zweite Enttäuschung ist, dass zur Finanzkrise fast nichts in dem Text steht. Dabei hieß es vor ein paar Monaten, dass sich das Erscheinen dieser Enzyklika, die schon für 2007 und für 2008 angekündigt war, verzögere, weil man auf die Finanzkrise eingehen wolle. Tatsächlich wird darauf nur in ganz wenigen Passagen Bezug genommen. Es hat natürlich einen Bezug zur Finanzkrise, dass der Papst die ausschließliche Orientierung am Gewinn in Frage stellt. Aber er gibt keine politische Antwort auf die Krise, sondern erhebt nur die individualethische Forderung: Wir müssen uns anders verhalten.
Der Appell an die Moral der in der Wirtschaft Tätigen ist kein realistischer Ansatz?
Er ist wichtig, aber nicht ausreichend. Ohne Regulierung ändert dieser Appell gar nichts. Diese Seite ist für meine Begriffe in der Enzyklika unterbewertet. Auf der anderen Seite nutzen auch Regeln nichts, wenn alle versuchen, sie zu umgehen. Wir brauchen in der Wirtschaft Menschen, die das Gemeinwohl im Blick haben, indem sie sich nicht nur dem Buchstaben, sondern auch dem Geiste nach an die Regeln halten. Sie sehen ein, dass das letzten Endes in ihrem eigenen Interesse ist. Die Finanzkrise zeigt, dass hier ein großes Problem liegt. Die Finanzinstitute hatten sich vor der Krise nur in dem Sinn an die Regulierung gehalten, dass sie nicht direkt gegen Gesetze verstießen, sie aber mit immer neuen Finanzinnovationen zu umgehen versucht.
Der Ruf nach besserer Kontrolle der Wirtschaft in der Enzyklika ist Ihnen nicht konkret genug?
Nein. Sie weist allgemein darauf hin, dass die Wirtschaft staatlich kontrolliert werden muss, bezieht dies aber nicht direkt auf die Finanzmärkte. Dabei stellt diese Krise die heutige, stark wirtschaftsliberal geprägte Form des Kapitalismus in Frage. Denn sie führt zu großer Ungleichheit mit der Folge, dass hohe Ersparnisse der Wohlhabenden auf die Finanzmärkte fließen. Und sie beruht auf Deregulierung. Das sind eigentlich Steilvorlagen für den Papst. Für die katholische Sozialethik war immer die Kritik zentral, dass eine Entfesselung des Kapitalismus in die Sackgasse führt. Das wird in dem neuen Schreiben so nicht herausgestellt. Die Krise dient in der Enzyklika eigentlich nur zur Illustration der Probleme einer einseitigen Entwicklung, und das ist für Papst Benedikt immer eine Entwicklung ohne Gott. Er nutzt die Finanzkrise, um zu verdeutlichen, in welche Sackgassen eine Entwicklung führt, die auf Machbarkeitsdenken beruht, statt dass sich die Menschen dafür öffnen, dass es auch das Nichtverfügbare gibt.
Die Enzyklika insgesamt ist vor allem eine theologisch begründete Kulturkritik?
Ja, in ersten Kommentaren hieß es zu recht, sie sei eher eine Kulturenzyklika als eine Sozialenzyklika. Der Papst hinterfragt – in seinem Verständnis – die Kultur der Moderne, in der der Mensch aus sich selbst heraus alle Probleme zu lösen versuche. Er stellt die Wahrheit des christlichen Glaubens als Antwort darauf heraus. Das verleiht dieser Enzyklika eine sehr theologische Prägung. Man kann sogar sagen, dass der Papst damit den Traditionsstrom der katholischen Sozialverkündigung in einen anderen Kanal zu leiten sucht. Die Sozialenzykliken wenden sich seit Johannes XXIII. an „alle Menschen guten Willens“ und wollen diese nicht zuerst zu Christen machen, sondern nehmen sie auch als Nichtchristen ernst, um mit ihnen zusammen Ungerechtigkeit politisch zu bekämpfen. Auch Benedikt XVI. wendet sich an alle Menschen guten Willens. Sein Ziel ist eine Entwicklung aller Menschen und des ganzen Menschen, und das beinhaltet auch die transzendente Dimension. Beides steht schon in der Enzyklika „Populorum Progressio“ von 1967, auf die sich das neue Schreiben bezieht. Nur: Papst Benedikt entwickelt das so weiter, dass es bei der transzendenten Dimension letztlich um die Botschaft des Christentums geht. Das ist die Wahrheit, in die die Liebe eingebettet sein muss – „Caritas in Veritate“ –, also die Wahrheit, für deren Auslegung der Papst bekanntlich besondere Kompetenzen beansprucht. Das heißt die Römische Sozialverkündigung, die seit Johannes XXIII. vor allem auf weniger Ungerechtigkeit abgezielt hat, wird so verändert, dass es zuerst um die Glaubensverkündigung geht: Die christliche Botschaft und das Leben nach ihren Grundsätzen – das ist die richtige Antwort auf alle Missstände der Welt. Die zentrale Aussage in dieser Enzyklika lautet, dass der christliche Glaube für eine gute Entwicklung sehr bedeutsam ist.
Nur der christliche Glaube, oder billigt der Papst diese Bedeutung auch anderen Religionen zu?
Da schwankt der Text. In Ziffer 4 heißt es zum Beispiel, „dass die Zustimmung zu den Werten des Christentums ein nicht nur nützliches, sondern unverzichtbares Element für den Aufbau einer guten Gesellschaft und einer echten ganzheitlichen Entwicklung des Menschen ist“.
Der Papst fordert eine „politische Weltautorität“. Ist das als Ruf nach einer Weltregierung zu verstehen?
Das glaube ich nicht. Man muss zwei Passagen zusammen lesen, die leider im Text weit auseinander stehen. In einer ist von einer politischen Weltautorität die Rede, bewusst aber nicht von Weltregierung oder Weltstaat. Vorher heißt es jedoch, dass die politische Autorität mittlerweile auf viele verschiedene Ebenen verteilt ist. Zusammen genommen ähnelt das stark dem Konzept von Global Governance. Der Papst sagt, wir müssen die Steuerung auf der globalen Ebene verbessern. Dazu müssen internationale Institutionen ausgebaut werden. Aber das ist einzubetten in ein Verständnis von politischer Autorität, bei dem berücksichtigt wird, dass sie vielgestaltig ist. Politische Steuerung gibt es heute häufig nur als koordiniertes Handeln auf mehreren Ebenen.
Wie entsteht eine solche Enzyklika? Wer ist an der Vorbereitung beteiligt?
In einem frühen Stadium können an der päpstlichen Akademie der Wissenschaften Tagungen stattfinden. Dort debattieren Fachleute, überwiegend katholische, mit Vertretern des Vatikan.
Das Ergebnis entsteht aber nicht als Kompromiss verschiedener Meinungen in der Kirche, sondern unter der Regie des Vatikans?
Richtig. Der Papst als letzte Autorität beauftragt die Mitarbeitenden an einer Enzyklika. Wenn er solche aussucht, die in der Zunft der Sozialethikerinnen und Sozialethiker nicht als Fachleute gelten, dann bleibt das Ergebnis unter Umständen unter Niveau. Und man hat den Eindruck, dass der Schlussredakteur von „Caritas in Veritate“, der das Ganze zusammengeführt hat, kein Fachmann war. Auch einige Übersetzungen sind nicht zutreffend – etwa wenn von „Vermögensschaffung“ die Rede ist. Das geht offenbar auf das Englische „wealth creation“ zurück, was eigentlich „Entstehung von Wohlstand“ bedeutet. Angesichts der Komplexität der Probleme kann man nach „Caritas in Veritate“ durchaus Fragen an die Art stellen, wie Enzykliken entstehen.
Und wie wirken sie – in die katholische Kirche und darüber hinaus?
Wenn sie mutig eine neue Perspektive entwerfen, dann wirken sie. So hat „Populorum Progressio“, die Entwicklungsenzyklika Pauls VI. von 1967, sicher sehr geholfen, dass in den Kirchen die besondere Herausforderung durch die Not in den Entwicklungsländern begriffen wurde – dass verstanden wurde, dass es dabei auch um eine gerechte Weltwirtschaftsordnung geht. Die Wirkung nach außen hängt auch davon ab, ob es starke kirchliche oder gesellschaftliche Bewegungen gibt, die in die gleiche Richtung drängen. Große Wirkung hatte vor allem die Enzyklika „Laborem exercens“ von Johannes Paul II. Darin kritisierte er 1981 unmissverständlich den Kapitalismus – und brandmarkte zugleich den Kommunismus als den schlechteren Kapitalismus. Die Enzyklika hat der Gewerkschaft Solidarność in Polen enormen Auftrieb gegeben. In „Caritas in Veritate“ spürt man dagegen eher die Angst davor, sich politisch zu positionieren. Es geschieht an einigen Punkten, aber insgesamt ist der Geist des Papiers eher: Wir müssen als Antwort auf die Entwicklungsprobleme der Moderne vor allem die christliche Botschaft allen Menschen nahe bringen.
Das Gespräch führte Bernd Ludermann.
Bernhard Emunds ist Professor für Christliche Gesellschaftsethik und Sozialphilosophie sowie Leiter des Oswald von Nell-Breuning-Instituts an der Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main.