Goldgelb schimmert das Speiseöl in dem schwarzen Messbecher, sämig läuft es in die große, leere Konservendose. Becher für Becher wird umgeschöpft, dann geht plötzlich ein aufgeregtes Geschrei los: „Sie hat genug!“ rufen die Männer und Frauen, die im Kreis um den Kanister mit Speiseöl, den Mann mit dem Messbecher und die Frau mit der ausgedienten Konservendose herumstehen. Die Frau heißt Amina Jama’al. Sie lebt in der somalischen Hauptstadt Mogadischu in einem Heim für kriegsversehrte Veteranen und deren Familien. Sie bekommt, was heute alle hier erhalten: etwas Speiseöl und ein paar Kilo Reis. Für den hat sie eine Plastiktüte mitgebracht, die sie jetzt noch zusammengeknäuelt in der Hand hat. Unter den Rufen der anderen muss sie jetzt den Platz am Ölkanister räumen. Seit fast 20 Jahren ist in Somalia Krieg, doch die vergangenen zwei fand Amina Jama‘ al besonders schlimm. „Ich war ständig in Panik“, erzählt sie. „Wir hatten wenig zu essen, aber wenn unser Stadtviertel unter Beschuss lag, bekam ich vor lauter Angst nichts runter.“
Im Januar 1991 wurde die letzte somalische Regierung gestürzt, die das Land mitsamt seinen Hoheitsgewässern tatsächlich kontrollierte: der Militärdiktator Siad Barre. Danach begann der Bürgerkrieg, der bis heute nicht zu Ende ist. Ende 2006 griff das Nachbarland Äthiopien militärisch ein (vgl. welt-sichten 0/2007, Seite 56). Die offizielle Begründung lautete: In Somalia seien radikale Islamisten auf dem Vormarsch, das eigene Land sei in Gefahr. Nach den Berichten vieler Augenzeugen nahmen die äthiopischen Soldaten immer wieder ganze Stadtviertel von Mogadischu unter Beschuss und töteten wahllos, auch Zivilisten. Amina Jama’al saß nachts oft völlig verängstigt auf ihrer Matratze, die jüngsten Kinder auf den Knien, um sie mit ihrem eigenen Körper vor Querschlägern zu schützen.
Autorin
Bettina Rühl
ist freie Journalistin in Nairobi, Kenia. Sie arbeitet unter anderem für den Deutschlandfunk, den WDR und den Evangelischen Pressedienst (epd).Zwischenzeitlich hatte sich die Lage etwas beruhigt. Durch Vermittlung der Vereinten Nationen wurde zu Beginn des Jahres eine so genannte „Übergangsregierung der Nationalen Einheit“ gebildet, die zwei ehemals verfeindete Fraktionen des somalischen Bürgerkriegs vereint. Ende Januar wählten die früheren Kriegsgegner gemeinsam Scheich Sharif Ahmed zum Präsidenten, der großen Rückhalt in der somalischen Bevölkerung genießt. Nach dem Amtsantritt des neuen Präsidenten zogen die Äthiopier ab, die von vielen Somaliern als Besatzer empfunden wurden. Eine Geberkonferenz, an der Ende April 43 Staaten teilnahmen, sagte der Regierung knapp 200 Millionen Euro Hilfe zu. In dem Veteranenheim, wo die Lebensmittel verteilt werden, hält die Aufregung an. Jetzt wird der Reis ausgegeben. Die Frau, die in der Schlange ganz vorne steht, lässt sich ihre Ration direkt in ihr großes Kopftuch gießen, dessen Ende sie zu einem Beutel geformt hat. Die Aufregung bei der Verteilung ist verständlich: Über zwei Jahre lang haben die Invaliden und ihre Familien keine Hilfe mehr bekommen. „Es war nicht einfach, zu überleben“, erzählt Amina Jama’al. „ Wir haben unsere Verwandten im Ausland gebeten, uns Geld zu schicken. Oder wir haben bei unseren Nachbarn gebettelt. Aber mehr als eine Mahlzeit am Tag hatten wir nie.“
Ihr Mann und die anderen Invaliden wurden vor mehr als dreißig Jahren verwundet, als Äthiopien und Somalia das erste Mal gegeneinander kämpften. Seitdem leben sie mit ihren Familien in einem ehemaligen italienischen Krankenhaus, dem so genannten Martini-Hospital; manche der Männer sind inzwischen über achtzig Jahre alt. Sie hausen in den alten Krankensälen, die leer sind bis auf das Gerümpel, das sie, so weit es geht, als Möbel nutzen. Mit Holzbrettern versuchen die Familien, so etwas wie Intimität herzustellen. Manche der alten, behinderten Männer haben kaum mehr als ihre Matratze – und mit etwas Glück ein Moskitonetz ohne Löcher.
Denn die Regierung, für die sie in den 1970er Jahren in den Krieg gezogen waren, ist 1991 untergegangen. Und wer denkt schon, mitten im Bürgerkrieg, an die Kriegsversehrten aus der Armee des letzten Diktators? Immerhin wurde Mitte der 1990er Jahre die somalische Hilfsorganisation „Daryeel Bulsho Guud“ (DBG) auf die alten Soldaten aufmerksam. Doch in den vergangenen beiden Jahren konnten sie die Kriegsversehrten nicht unterstützen, sagt der Leiter der Organisation, Abukar Sheikh Ali. In der Nachbarschaft waren äthiopische Soldaten stationiert, die Gegend war deshalb nicht sicher.
Nun will die Organisation möglichst wieder einmal im Monat zum Martini-Hospital kommen und hier Lebensmittel verteilen. Ihr Geld bekommt sie vor allem aus Deutschland: In erster Linie von der Katastrophenhilfe der Diakonie und von „Brot für die Welt“, aber auch von der Caritas und dem Auswärtigen Amt. Nicht nur die alten Behinderten und ihre Familien brauchen dringend Hilfe: Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind 3,2 Millionen Menschen auf die Verteilung von Lebensmitteln angewiesen, das sind 40 Prozent der Bevölkerung.
Doch sie sind eigentlich sich selbst überlassen. Weil ihre Mitarbeiter getötet und gekidnappt wurden, haben ausländische Hilfsorganisationen das Land längst verlassen. Und auch die somalischen Helfer sind nicht sicher, erzählt Abukar Sheikh Ali. Er fürchtet bei jeder Lieferung, dass sie Plünderer und Diebe anzieht. „Der Überfall kann auf dem Gelände passieren oder auf dem Weg“, sagt er. „Denn wir müssen die Lebensmittel von unseren Lagern hierher bringen. Wenn vorher durchsickert, wann wir etwas verteilen wollen und was wir liefern, dann kann es sein, dass wir in einen Hinterhalt geraten.“ Dann seien nicht nur die Lebensmittel in Gefahr, sondern vor allem die Mitarbeiter.
Die neue Übergangsregierung hat noch nicht einmal Mogadischu unter Kontrolle – geschweige denn den Rest des Landes. Sie kämpft gegen eine starke, bewaffnete und radikal-islamistische Opposition, die weite Teile des Landes in ihrer Gewalt hat. An polizeiliche Ermittlungen oder eine funktionierende Justiz ist nicht einmal im Ansatz zu denken. In diesem allgemeinen Klima der Gewalt werden auch viele offene Rechnungen beglichen: Vielleicht wird ein Helfer aus privater Rache getötet, vielleicht von Kriminellen, vielleicht von Soldaten, vielleicht aber auch von radikalen Islamisten. Hinzu kommen Sprengfallen und selbst gebaute Bomben, die überall und jederzeit detonieren können. Die Organisation hat schon einige Mitarbeiter verloren, darunter ihren stellvertretenden Direktor Mohamoud Mohamed Kheire.
Mohamed Abdullahi Mohamud ist einer der wenigen Helfer, die sich noch in die Lager der Vertriebenen am Rande von Mogadischu wagen. Die Gegend gilt als besonders gefährlich, doch allein dort warten nach Schätzungen der Vereinten Nationen bis zu 1,2 Millionen Menschen auf Hilfe. „Es ist doch unsere menschliche Pflicht, dort zu helfen“, sagt Mohamed Abduallhi Mohamud. „Wenn wir dabei getötet werden, müssen wir das in Kauf nehmen.“ Die Helfer beachten strenge Sicherheitsvorkehrungen. „Wir gehen zwei Mal in der Woche in die Lager, und zwar möglichst unauffällig. Wir fahren nicht mit einem eigenen Geländewagen, sondern mit dem öffentlichen Bus.“ Sie tun so, als wollten sie im Lager jemanden besuchen. „Wenn wir Lebensmittel verteilen, schicken wir die Fahrer mit den LKW alleine los, und zwar noch in der Nacht, kurz vor dem Morgengrauen, wenn die meisten Menschen schlafen. Wenn die Sonne aufgeht, ist die Hilfe schon verteilt, und unsere Fahrer sind längst wieder weg. Im Laufe des Tages fährt einer von uns möglichst unauffällig hinterher und prüft, ob wirklich alles angekommen ist.“
Auf diese Weise würden nur etwa zehn Prozent der Bedürftigen erreicht, schätzt Mohamed Abdullahi Mohamud. Wer etwas bekomme, teile mit den anderen – so haben am Ende alle zu wenig. Unter- und Mangelernährung seien weit verbreitet. Hinzu kämen Krankheiten wie wässriger Durchfall, Tuberkulose und Malaria. „Die hygienischen Zustände sind furchtbar. Es gibt ein paar Latrinen, die von uns und von anderen Hilfsorganisationen gebaut wurden, aber es sind viel zu wenige.“ Im Durchschnitt teilen sich 24 Menschen eine Latrine. Weil sie nicht warten können, setzen sich vor allem die kleinen Kinder einfach auf den Boden. So verbreiten sich Parasiten und Krankheiten schnell.
Und seit Anfang Mai müssen die ohnehin überfüllten Lager den Zustrom weiterer Flüchtlinge verkraften: Mehr als 100.000 Menschen sind aus Mogadischu geflohen, seit erneut heftige Kämpfe zwischen Regierungstruppen und den radikal-islamistischen Milizen Al-Shabaab und Hisbul Islam aufgeflammt sind. Der Anführer der Hisbul Islam, Scheich Hassan Dahir Aweys, ist im April aus seinem zweijährigen Exil in Eritrea nach Somalia zurückgekehrt. Er hatte sich von seinem früheren Verbündeten in der Union islamischer Gerichtshöfe Scheich Scharif Ahmed getrennt, nachdem dieser in die von den Vereinten Nationen moderierten Friedensgespräche eingewilligt hatte. Nun versucht Aweys, der von den USA als Terrorist eingestuft wird, mit allen Mitteln, ihn zu stürzen und selbst die Macht zu übernehmen.
Inzwischen hat er eingestanden, dass seine Miliz Unterstützung aus arabischen Ländern und aus Eritrea erhält – was von der Regierung in Asmara dementiert wird. Auf Regierungsseite soll der Präsident erneut die Äthiopier zu Hilfe gerufen haben; laut Augenzeugenberichten haben äthiopische Soldaten mehrfach die Grenze zwischen beiden Ländern überschritten. Addis Abeba streitet dies jedoch ebenfalls ab. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat die Kämpfe verurteilt und das Mandat der Friedenstruppen der Afrikanischen Union (AMISOM) bis zum 31. Januar 2010 verlängert. Doch deren etwa 4300 Soldaten aus Uganda und Burundi sind kaum in der Lage, der Gewalt entgegenzutreten; sie können gerade einmal den Hafen und die Umgebung der Präsidentenvilla in Mogadischu sichern. Es ist sehr fraglich, ob sich das Land unter der neuen Führung stabilisieren kann.