Seit 1959 unterstützt die Kindernothilfe benachteiligte Kinder in aller Welt. Bedeutet „benachteiligt“ heute noch das Gleiche wie vor 60 Jahren?
Die Gründungsmütter und -väter der Kindernothilfe hatten anfangs vor allem Kinder im Blick, die zu verhungern drohten. Daher auch der Name Kindernothilfe. Heute verfolgen wir einen ganzheitlichen Ansatz und setzen uns für die Rechte von Kindern ein. Armut und Hunger sind nur ein Teil der Missstände, unter denen Kinder leiden können. Sexueller Missbrauch, Ausbeutung, der mangelnde Zugang zu Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe waren damals zwar auch schon Probleme, aber weniger im Blick.
Geht es den Kindern auf dieser Welt heute besser als vor 60 Jahren?
Global gesehen gibt es durchaus Indikatoren dafür. So ist der Anteil der Kinder, die eine Schule besuchen, deutlich gestiegen. Die Kindersterblichkeit ist gesunken. Und weniger Mädchen werden im Kindesalter verheiratet als früher. Trotzdem gibt es noch viel zu viele Kinder auf der Welt, deren Kindheit weder als glücklich noch als sicher bezeichnet werden kann. Zu viele haben nicht genug zu essen oder keine Zeit zum Spielen. 72 Millionen Kinder und Jugendliche müssen unter härtesten Bedingungen arbeiten. Und 30 Millionen Mädchen und Jungen sind auf der Flucht.
1989 haben die Vereinten Nationen die Kinderrechtskonvention verabschiedet. Was hat sie gebracht?
Sie war auf alle Fälle ein Meilenstein auf dem Weg, Kinder als aktive Persönlichkeiten mit einer eigenen Stimme wahrzunehmen. Es mangelt aber an der Umsetzung der Konvention. Zum Glück ist in ihr das verpflichtende Staatenberichtsverfahren verankert, über das die kritischen Punkte in den einzelnen Ländern benannt werden. Auf dieser Basis kann dann die Zivilgesellschaft Druck auf die Politik ausüben. Gerade im Bildungsbereich konnte so schon viel bewirkt werden. Im Jahr 2000 hatten noch 374 Millionen Kinder keinen Zugang zu Bildung. Heute sind es gut 100 Millionen weniger - obwohl die Weltbevölkerung in den letzten zwanzig Jahren stark gewachsen ist.
Inwiefern hat die Kindernothilfe im internationalen Bereich ihre Strategien in den letzten sechs Jahrzehnten verändert? Schon 1989 haben wir das Konzept für Kinderpatenschaften geändert. Ursprünglich wurden ja einzelne Kinder gefördert. Heute beziehen wir ihr gesamtes soziales Umfeld mit ein. In den vergangenen zehn Jahren haben wir vor allem mit Selbsthilfegruppen und Gemeinwesenarbeit extrem viel bewirkt. So kann die Hilfe Kreise ziehen, und wir erreichen mehr Kinder. Wenn zum Beispiel eine Mutter durch eine Selbsthilfegruppe gestärkt wird, neuen Lebensmut schöpft und durch Kleinkredite aus der Gruppe eigenständig ein Einkommen erwirtschaftet, dann profitiert ihre ganze Familie davon. Wir arbeiten heute auch viel vernetzter als früher und sind in der Lobby- und Advocacy-Arbeit aktiv. Armut kann langfristig nur beseitigt werden, wenn sich Strukturen ändern.
Und wie sieht es in Deutschland aus?
Es ist beunruhigend, dass in Deutschland zum Beispiel die Missbrauchszahlen steigen. Täglich werden 36 Fälle sexuellen Missbrauchs zur Anzeige gebracht. Und zwei Kinder pro Woche kommen gewaltsam zu Tode. Da sehen wir uns gefordert. Kinderrechte haben schließlich keine Grenzen. Es macht keinen Unterschied, ob es um die Rechte von Kindern in Äthiopien oder in Deutschland geht. Vor einem Jahr haben wir begonnen, auch hierzulande Schulungen für den Kinderschutz durchzuführen zum Beispiel bei Trägern, die sich um unbegleitete minderjährige Geflüchtete kümmern, oder in der allgemeinen Kinder- und Jugendhilfe. Da können wir auf unsere langjährigen Erfahrungen im internationalen Bereich zurückgreifen. Unsere erfahrenen Trainer und Trainerinnen haben bereits mehr als 650 Organisationen in 30 Ländern darin geschult, Systeme zum Kindesschutz in ihre Arbeit zu integrieren.
Spielen Kinderrechte in der deutschen Öffentlichkeit eine ausreichend große Rolle?
Die Sensibilisierung nimmt zu. Das zeigt die Diskussion, die Kinderrechte auch im Grundgesetz zu verankern, wie es im Koalitionsvertrag steht. Trotzdem gibt es noch viel zu tun. Laut dem Deutschen Kinderhilfswerks können zwölf Prozent der Erwachsenen mit dem Begriff Kinderrechtskonvention nichts anfangen. Drei Viertel hatten zwar schon einmal etwas davon gehört, aber nur zwölf Prozent kannten sich wirklich aus.
Was haben Sie sich für die kommenden Jahre vorgenommen?
Im Jubiläumsjahr lenken wir den Blick besonders auf die gesellschaftliche Teilhabe von Kindern. Dabei sollen Kinder und Jugendliche nicht nur Zielgruppe sein, sondern selbst an der Entwicklung der Projekte beteiligt werden. Wir haben vor internationalen Konferenz gegen Kinderarbeit im Dezember 2017 die Kampagne „Time to talk“ gestartet, bei der fast 2000 arbeitende Kinder zu ihren Erfahrungen und Bedürfnisse befragt wurden. Sie waren auch an der Befragung selbst und bei der Entwicklung der Methodik beteiligt.
Was hat sich durch die Mitarbeit der Kinder geändert?
Es wurden Methoden verwendet, die Kinder mehr ansprechen, bei denen mit allen Sinnen gearbeitet wird. Zum Thema Gewalt und körperliche Belastung haben sich die Kinder zum Beispiel auf den Boden gelegt, wo ihre Umrisse nachgezeichnet wurden. Mit Steinen oder mit Blumen konnten sie dann die Körperpartien belegen, die entweder weh taten oder denen es gut ging. Der Abschlussbericht ist – neben der wissenschaftlichen Fassung – ein quicklebendiges Dokument in kindgerechter Sprache mit vielen Illustrationen. Das verstehen nun nicht nur die Kinder ausgezeichnet – es hat auch vielen Erwachsenen und sogar Journalisten in Deutschland den Zugang zum komplexen und kontrovers diskutierten Thema Kinderarbeit erleichtert.
Das Gespräch führte Katja Dorothea Buck.
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