Wert der Vielfalt

Vernachlässigte Nahrungspflanzen
Immer weniger Pflanzenarten werden angebaut. Dabei sind seltene Kulturen für eine gesunde Ernährung wie für eine nachhaltige Landwirtschaft wichtig. Doch sie zu nutzen, stößt auf mehrere Hindernisse.

Weltweit hat sich das Spektrum der Nahrungsmittelpflanzen in den letzten 500 Jahren dramatisch verringert. Heute wird die Hälfte des globalen Bedarfs an Kohlenhydraten und Proteinen aus nur drei Kulturarten gedeckt – Mais, Weizen und Reis – und 95 Prozent des gesamten Nahrungsbedarfes stellen gerade 30 Nutzpflanzenarten zur Verfügung. Diese Arten erhalten die meiste Aufmerksamkeit in Forschung und Züchtung. Deshalb sind sie auch wesentlich ertragreicher und viel kostengünstiger zu produzieren. Zudem sind für diese Kulturarten die Verarbeitungsketten etabliert und die Absatzwege weltweit geebnet.

Ein Teil des großen Restes an Nutzpflanzen – derzeit sind es noch rund 7000, historisch waren es mindestens 40.000 – ist demgegenüber weitgehend sich selbst überlassen. Für viele engt sich die Verbreitung somit immer mehr ein und viele sind als Nutzpflanzen bereits ganz verschwunden.

Vernachlässigte Kulturarten finden sich in allen Pflanzengruppen, aber besonders viele solche Nutzpflanzenarten sind Gemüsekulturen und Baumfrüchte. Ein bekanntes Beispiel sind die vitaminreichen grünen Blattgemüsearten in Afrika wie die Blätter des Amarants, die früher Zutat jeder Speise waren; sie sind nach und nach von den in der Kolonialzeit eingeführten Zwiebeln, Tomaten und Karotten in den Hintergrund gedrängt worden. Unter den Baumfrüchten zählen beispielsweise Affenbrotbaum (Baobab), Desert Plum, Tamarinde und Black Plum zu den vernachlässigten Kulturarten, um nur wenige zu nennen.

Genetisches Reservoir

Von jeder Nutzpflanzenart gibt es wiederum zahlreiche Sorten sowie Untergruppen, sogenannte Ökotypen. Diese sind besonders gut an bestimmte, manchmal extreme Standorte angepasst und stellen daher auch für die Anpassung an den Klimawandel ein genetisches Reservoir dar. Wenn diese Sorten verschwinden, weil Bäuerinnen und Bauern eher die ertragreicheren üblichen Sorten anbauen, geht dieses genetische Reservoir verloren. Einen Vorrat an Sorten zu erhalten ist daher ein wichtiges Ziel.

Autorin

Susanne Neubert

ist Direktorin des Seminars für Ländliche Entwicklung (SEL) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2013 bis 2018 hat sie zwei Teilprojekte des vom Bundesforschungsminis­te­rium finanzierten Projekts HORTINLEA zur Erforschung und Verbreitung indigener Blattgemüsearten in Kenia geleitet (www.hortinlea.org).
Inzwischen hat die Fachwelt das Problem erkannt. Auf Grundlage der Konvention über die biologische Vielfalt und des Internationalen Vertrags über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft haben viele Länder Programme und Vorschriften erlassen, die biologische Vielfalt zu erhalten, zum Beispiel in Genbanken. Solche Anstrengungen sind gut, reichen allerdings nicht aus, um den Rückgang in der praktischen Landwirtschaft und bei der Ernährung zu stoppen.

Vernachlässigte Kulturarten stärker praktisch zu nutzen, hätte zahlreiche Vorteile. So würde ein vermehrter Anbau zur Diversifizierung der Landwirtschaft beitragen – ein Ziel, das aus agrarökologischer Sicht und mit Blick auf die Anpassung an den Klimawandel zentrale Bedeutung hat. Ein diversifizierter Anbau stellt eine Risikominderungsstrategie dar, denn wenn eine Kulturart aufgrund eines Desasters, Schädlingsbefalls oder eines Preisverfalls keinen Ertrag erbringt, kann die andere den Ausfall zumindest teilweise kompensieren.

Unter den vernachlässigten Kulturarten sind auch viele Hülsenfrüchte oder Leguminosen, die früher als Untersaaten oder als Zwischenkulturen zwischen zwei Hauptfrüchten eingesetzt wurden, um den Boden zu verbessern. So kann der Boden zwischen den Reihen der Hauptkultur bedeckt und vor Austrocknung geschützt werden. Außerdem binden Leguminosen den Stickstoff aus der Luft, wodurch Mineraldünger eingespart wird. Der Boden wird so organisch angereichert und kann Dürre und Starkregen besser abpuffern.

Reich an Mikronährstoffen

Doch nicht nur der Anbau, auch der Verzehr von einer breiteren Palette an Nahrungspflanzen ist wichtig. Der weltweite Trend in Richtung kohlenhydrat- und fettreicher, oft industriell verarbeiteter Nahrung mit oft geringem Gehalt an Vitaminen und Spurenelementen verursacht bekanntlich Gesundheitsprobleme bei einer wachsenden Zahl von Menschen. Eine solche einseitige Ernährung, die unter Menschen mit geringem Einkommen und geringem Ernährungsbewusstsein verbreitet ist, wird als versteckter Hunger bezeichnet. Er ist ein zunehmendes weltweites Problem – auch da, wo genügend oder sogar zu viele Kalorien verzehrt werden. Von Übergewicht ist laut der Weltgesundheitsorganisation WHO heute bereits mehr als ein Viertel der Weltbevölkerung betroffen. Vernachlässigte Kulturarten sind oft sehr reich an Mikronährstoffen, also Vitaminen, Mineralstoffen sowie Antioxidantien. Sie zu essen ist eine gewisse Art der Gesundheitsvorsorge, da sie das Immunsystem stärken.

Warum so viele Kulturarten trotz dieser vielen Vorteile immer weniger verzehrt werden, ist nicht ganz leicht zu beantworten. Hindernisse gibt es sowohl auf Seiten der Erzeuger als auch der Konsumenten.

Erzeugerseitig ist das größte Dilemma im globalen Norden die Tatsache, dass Monokulturen Arbeitskosten sparen und leichter und vollständiger zu mechanisieren (und auch zu digitalisieren) sind als Mischkulturen und Fruchtfolgen. Diese wirtschaftlichen Vorteile der Monokulturen plus die höheren Erträge durch größere Züchtungsfortschritte bei den Hauptkulturarten führen zu einem einseitigen Anbau. Eine Spirale kommt in Gang, denn dadurch gehen langsam auch die Kenntnisse über den Anbau zurück und die Wertschöpfungsketten für weniger häufige Kulturen, also Weiterverarbeitung und Vermarktungswege, entwickeln sich zurück. Die Produktion verteuert sich dadurch weiter.

Wenig Auswahl an Saatgut

Im globalen Süden und insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent liegt dagegen der Hauptgrund dafür, dass viele Kulturarten kaum noch angebaut werden, im mangelnden Zugang zu einer breiten Palette an Saatgut. Bis heute ist das Saatgutsystem in Afri­ka stark unterentwickelt und man findet bereits in leicht abgelegenen Gebieten kaum eine Auswahl an Saatgut. Natürlich könnten Bäuerinnen und Bauern, die heute noch vernachlässigte Kulturarten anbauen, selbst das Saatgut erzeugen und vermehren. Dies tun sie auch – aber in viel zu kleinen Mengen, um den Gesamttrend umzudrehen.

Für einen landwirtschaftlichen Betrieb stellt der Anbau einer neuen, beispielsweise vernachlässigten Kulturart ein Risiko dar – so wie jede Innovation. Der zu erwartende Ertrag sowie der Abnahmepreis sind unsicher. Insbesondere bei Dauer- oder Baumkulturen, bei denen die erste Ernte erst einige Jahre nach dem Anpflanzen möglich ist, ist das Risiko gerade für ärmere Bauern oft zu groß. Es fehlt zumeist der sichere Abnehmer und die Abnahmepreise werden von Vertragspartnern nicht im Voraus garantiert. Ein gutes Beispiel ist Jatropha, eine Baumart mit ölhaltigen Samen, die viele Jahre als Wunderpflanze für die Herstellung von Biodiesel galt. Aufgrund des hohen Abnahmerisikos und der schwankenden Preise für Jatropha, die vom Erdölpreis abhängen, scheiterten zahlreiche innovationsfreudige Bauern.

Je weniger finanzielle Mittel ein landwirtschaftlicher Betrieb hat, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er die Barrieren für Innovationen überwinden kann. Daher wäre es wichtig, die politischen Rahmenbedingungen für den Anbau vernachlässigter Kulturarten zu verbessern, damit die Produzenten damit ein geringeres Risiko eingehen. Wirksame Schritte können sein, Qualitätssaatgut und Beratung kostenlos bereitzustellen und den Anbau bestimmter Kulturarten oder -sorten, womöglich zeitlich begrenzt, zu subventionieren oder Abnahmegarantien dafür zu geben.

Teurer als die international gehandelten Alternativen

Die Hürden auf Seiten der Konsumenten sind andere: Viele vernachlässigte Nahrungsmittel sind außerhalb der lokalen Anbauzentren, in denen traditionell diese Pflanzen verzehrt werden, teurer als die international gehandelten Alternativen. Hinzu kommt, dass manche bei Verbrauchern ein schlechtes Image haben: Einige gelten als Armenessen, da sie als „Unkraut“ auch wild wachsen, zum Beispiel Amarant in Äthiopien.

Zudem haben sich als Folge der Globalisierung die Geschmackspräferenzen weltweit verändert. Es mangelt an Bewusstsein und in ländlichen Regionen des globalen Südens oft auch an Selbstvertrauen für die Bewahrung einer eigenen Esskultur. Dies führt dazu, dass das Wissen über die Zubereitung lokaler Speisen nach und nach verloren geht und schließlich ganze Mahlzeitenkulturen aussterben.

Vernachlässigte Kulturarten ergänzen Mahlzeiten oft ideal. Das bloße Wissen darum verändert jedoch nicht automatisch das Ernährungsverhalten. Eine gesunde, abwechslungsreiche Koch- und Mahlzeitenkultur und das Bewusstsein von ihrem sozialen Wert müssten wiederbelebt werden. Dazu sind auch Kenntnisse über die geeignete Kombination mit anderen Lebensmitteln nötig, damit es gut schmeckt und Mikronährstoffe möglichst leicht aufgeschlossen werden. Auf diese Weise könnten schöne und gesunde Traditionen fortbestehen, eine nachhaltige Landwirtschaft betrieben werden und artenreiche Landschaften erhalten bleiben. Ziel müsste dabei sein, eine schrittweise Verschiebung in den Konsumgewohnheiten zugunsten vernachlässigter Kulturarten zu erreichen. So könnte auch die Gefahr von Preisschocks vermieden werden, die bei zu schnellen Veränderungen der Nachfrage eintreten können.

Parallel dazu sollten die Bedingungen für einen verstärkten Anbau und die damit verbundenen Wertschöpfungsketten, also Verarbeitungswege und Märkte entwickelt werden. Der Export kann dabei helfen, ist jedoch ein zweischneidiges Schwert. Bei vielen der betroffenen Kulturarten ist es sinnvoller, zunächst eine lokale oder regionale Verbreitung anzustreben. Abwechslungsreiche Esskulturen schöpfen aus einer Bandbreite standortangepasster Kulturarten, die in verschiedenen Weltregionen eben verschieden sind. Das ist ja das kulturell Interessante und Erhaltenswerte. Auch wenn man vernachlässigte Kulturarten bewahren will, kann es daher nicht das Ziel sein, alle Kulturen überall hin zu verbreiten.

Zum Weiterlesen

Food and Agriculture Organisation
Zweiter Weltzustandsbericht über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft
Rom 2012, verfügbar unter www.fao.org

Brigitte Hamburger und Parto Teherani-Krönner (Hg.)
Mahlzeitenpolitik
Zur Kulturökologie von Ernährung
und Gender
Oekom-Verlag, München 2014,
254 Seiten, 34,95 Euro

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erschienen in Ausgabe 12 / 2018: Mehr als Reis und Weizen
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