Kanhu hat ihre Heimat bei den Kamayurá, einem Stamm mit mehr als 600 Mitgliedern am Südrand des brasilianischen Amazonasgebiets, vor mehr als zehn Jahren verlassen. Damals war sie sieben Jahre alt. Sie ist nie zurückgekehrt. „Wenn ich geblieben wäre, dann wäre ich mit Sicherheit nicht mehr am Leben“, erklärte Kanhu, die unter progressiver Muskeldystrophie leidet, im vergangenen Jahr vor brasilianischen Abgeordneten. Ihre Gemeinschaft hätte sie wahrscheinlich getötet – wie sie es seit vielen Generationen mit behinderten Kindern tut.
Auch Zwillinge, die als böses Omen betrachtet werden, oder Kinder von ledigen Müttern zählen zu den Opfern dieser Tradition, die eine Handvoll indigener Völker Brasiliens befolgt. Die evangelikalen Missionare Márcia und Edson Suzuki, die Kanhu und ihrer Familie halfen, in die Hauptstadt Brasília umzusiedeln, führen seitdem eine Kampagne gegen diesen Infantizid. Sie hat zu einem umstrittenen Gesetzesvorschlag geführt, der mit dieser Sitte ein für alle Mal aufräumen will. Die Abgeordnetenkammer stimmte dem Vorschlag 2015 mit überwältigender Mehrheit zu, derzeit prüft ihn der Senat.
Was die einen für eine überfällige Schutzmaßnahme halten, stößt bei einigen Akademikern und Verteidigern der Rechte indigener Gruppen auf breiten Widerspruch. Die brasilianische Gesellschaft für Anthropologie hat den Gesetzesentwurf in einem offenen Brief als einen Versuch bezeichnet, die indigenen Völker „im Dauerzustand der Anklage vor ein Gericht zu zitieren, das ihnen Brutalität attestieren soll“.
Die Kontroverse wirft eine grundsätzliche Frage auf für Brasilien, wo Hunderte geschützte Ethnien leben: Soll sich der Staat in Sitten einmischen, die von außen betrachtet inhuman erscheinen, aber von den indigenen Völkern entwickelt wurden, um in einer gnadenlosen Umwelt zu überleben? Das Indianerstatut von 1973 teilt die indigene Bevölkerung in drei Kategorien ein: solche, die in vollständiger Isolation leben, solche mit begrenztem Kontakt zur Außenwelt, und solche, die sich voll in die moderne Gesellschaft integriert haben. Das Statut besagt, dass Stämme wie die Kamayurá den staatlichen Gesetzen nur in dem Maß unterworfen sind, in dem sie sich akkulturiert haben. Deshalb werden die indigenen Völker für Kindstötungen nicht strafrechtlich verfolgt.
Der Gesetzentwurf, der dies ändern will, wird informell als „Muwajis Gesetz“ bezeichnet. Er ist benannt nach einer Frau, die sich 2005 gegen das Verlangen ihrer Gemeinschaft wehrte, ihre behinderte Tochter zu töten. Sollte das Gesetz den Senat passieren, wird es einen Zusatz zum Indianerstatut bilden. Es wird Regierungsbehörden, die mit den indigenen Gemeinschaften zu tun haben, zu vorbeugenden Maßnahmen verpflichten. Dazu zählt ein Register lediger werdender Mütter und von Frauen, die mit Zwillingen schwanger sind. So könnte der Staat sie im Auge behalten. Zudem müsste die Staatsanwaltschaft über Menschenrechtsverletzungen gegen Neugeborene, Stigmatisierte oder ältere Personen in indigenen Gruppen informiert werden. Und: Jeder Bürger, der erfährt, dass das Leben oder die Sicherheit einer indigenen Person in Gefahr ist und dies den Behörden nicht meldet, würde „nach dem geltenden Recht bestraft“.
Der Gesetzentwurf wurde 2007 von Henrique Afonso eingebracht, einem Mitglied der evangelikalen Parlamentariergruppe Brasiliens und der damals regierenden Arbeiterpartei. Er führte sogleich zu Spannungen zwischen den Verfechtern universeller Menschenrechte, für die das Individuum im Mittelpunkt steht, und den Vertretern eines Kulturrelativismus, die für die Freiheit von Gemeinschaften eintreten, sich selbst nach ihren eigenen Moralvorstellungen zu organisieren.
Diese Spannung ist schon in der seit 1988 geltenden Verfassung Brasiliens angelegt. Sie billigt allen, die innerhalb der Grenzen des Landes leben, „das unverbrüchliche Recht auf Leben“ zu. Zugleich will sie die „soziale Struktur, die Sitten, die Sprache, den Glauben und die Traditionen der indigenen Völker“ bewahren. Die Ratifizierung der Verfassung nach Jahrzehnten der Diktatur war ein Wendepunkt im Verhältnis des Staates gegenüber den indigenen Völkern. Doch der ungelöste Widerspruch darin zwingt die nachfolgenden Generationen von Abgeordneten, sich mit der schwierigen Frage auseinanderzusetzen, wie sie sich zu inhuman erscheinenden Sitten von Indigenen verhalten sollen.
Es ist schwer zu sagen, wie verbreitet der Infantizid bei indigenen Gruppen heute ist. Brasiliens Behörde zum Schutz der Indigenen (Fundação Nacional do Índio – Funai) sammelt dazu keine Daten und weigert sich, die Existenz der Sitte öffentlich anzuerkennen. 2016 erklärte sie in einer Pressemitteilung, die Diskussion darüber sei „in vielen Fällen ein Versuch, die indigenen zu Völker kriminalisieren und Ausdruck von Vorurteilen“. Die brasilianische Gesellschaft für Anthropologie sagt, die Kindstötungen gingen zurück. Eine Organisation von Missionaren schätzt, dass etwa 20 Gruppen der mehr als 300 indigenen Völker Brasiliens solche Bräuche haben. Laut der jüngsten Volkszählung von 2010 leben in Brasilien 897.000 Indigene – das entspricht einem halben Prozent der Gesamtbevölkerung von 191 Millionen.
Evangelikale Missionare haben die landesweite Debatte über die Rechte der Indigenen angestoßen. Kritiker meinen deshalb, sie weise Parallelen zur Kolonialgeschichte und zur Gewalt auf, die Fremde den Ureinwohnern angetan haben, – Gewalt, die bis heute anhält. Die brasilianische Gesellschaft für Anthropologie erklärte in ihrer öffentlichen Ablehnung von Muwajis Gesetz, es stehe in einer Reihe mit den „repressivsten und tödlichsten Maßnahmen, die je gegen die indigenen Völker Amerikas ergriffen wurden, und die von jeher durch Berufung auf edle Absichten, humanitäre Werte und universelle Prinzipien gerechtfertigt wurden“.
Ein Anthropologe der Funai, der anonym bleiben möchte, meint, man müsse die Tötung von Kindern bei indigenen Völkern vor dem Hintergrund ihrer harten Lebensbedingungen verstehen. In seiner Feldforschung an der Grenze zu Venezuela habe er tragische Geschichten über getötete Kinder gehört. Entscheidend sei jedoch der Kontext: „Ein lahmes Bein ist für uns vielleicht kein allzu großes Unglück“, sagt er. Ein Überleben im Dschungel werde damit aber praktisch unmöglich. Solche Kinder seien „dem Verderben geweiht“.
Viele Brasilianer können jedoch nicht akzeptieren, dass der Staat Stämmen erlaubt, behinderte Kinder im Namen kultureller Traditionen zu töten, statt sie in Obhut zu nehmen und medizinisch zu versorgen. Maíra Barreto ist Anwältin für Menschenrechte und hat sich in ihrer Doktorarbeit mit den rechtlichen und bioethischen Fragen des Infantizids beschäftigt. Nach internationalem Recht ist für sie die Sachlage klar. „Gewisse kulturelle Praktiken hier sind unvereinbar mit den Menschenrechten“, sagt Barreto. „Sie müssen abgestellt werden. Da gibt es keinen Mittelweg.“
Autorin
Cleuci de Oliveira
ist freie Journalistin in Brasília, Brasilien.Das Engagement der Suzukis hat eine lange Geschichte. Ende der 1990er Jahre lebten sie bei den Suruwaha, um ihre Sprache zu studieren. Der Stamm mit weniger als 200 Mitgliedern war zum ersten Mal in den 1970er Jahren mit der Außenwelt in Kontakt gekommen. Manche Kritiker meinen, das Paar habe auch den christlichen Glauben verbreiten wollen. Der Stamm hat eine lange Tradition der Selbsttötung und des Infantizids. Erstere stellt für die Suruwaha einen zentralen Bestandteil ihrer Kultur dar und wird als spirituell wünschenswerter Tod betrachtet, letzterer dient als ein Mittel der Bevölkerungskontrolle.
Während eines Aufenthalts der Suzukis bei den Suruwaha entschied der Stamm, dass zwei Kinder, die sich nicht richtig zu entwickeln schienen, sterben sollten. Die Eltern der Kinder zogen den Freitod vor, statt die beiden zu töten. Der Stamm habe die Kinder dem Brauch entsprechend lebendig begraben, erzählt Márcia Suzuki. Ein Mädchen namens Hakani überlebte, wurde aber anschließend dem Hungertod überlassen. Ihr älterer Bruder hielt Hakani einige Jahre am Leben, indem er ihr heimlich Essensreste zukommen ließ. Schließlich legte er Márcia Suzuki seine Schwester zu Füßen.
„Wir kontaktierten Funasa über Funk“, sagt Márcia Suzuki. Funasa war damals die für Gesundheitsfragen in den indigenen Gebieten zuständige Regierungsbehörde. „Wir sagten ihnen, wir hätten ein Kind, das im Sterben liegt.“ Ein Monat verging, ohne dass die Gesundheitsbehörde das Mädchen abholte. „Es sei zu kompliziert, sagten sie. Wenn man das Kind aus seiner Welt heraushole, verlöre es seine Kultur“, erinnert sich Márcia Suzuki. „Und ich antwortete: ,Entweder verliert sie ihre Kultur, oder sie stirbt‘“.
2000 entschlossen sich die Suzukis, die damals fünfjährige Hakani selbst zu einer Behandlung zu bringen. Nach einer langen Bootsfahrt ging es im Charterflugzeug nach Porto Velho, der Hauptstadt des Bundesstaates Rondônia im Norden Brasiliens. Dort diagnostizierte man bei dem Kind Hypothyreose, Unterfunktion der Schilddrüse, eine behandelbare Krankheit. Die Suzukis pflegten Hakani gesund und brachten sie zu ihrem Stamm zurück. „Wir versuchten ihnen klarzumachen, dass kein Fluch auf ihr lastet“, sagt Márcia Suzuki. Doch die Eltern waren tot und niemand war bereit, sich um sie zu kümmern. Also entschlossen sich die Suzukis, Hakani zu adoptieren.
Márcia Suzuki hielt ihr Handeln sicher für selbstlos. Doch sie löste damit 2003 eine Verfügung der Staatsanwaltschaft des Bundesstaates Amazonas aus, die allen nicht indigenen Personen den Zutritt zum Land der Suruwaha verbot. Der Staatsanwalt kritisierte zudem, die Suzukis hätten nie die erforderliche Genehmigung eingeholt, um mit dem Stamm zu leben. Der Anthropologe Marcos Farias de Almeida unterstützte die Position des Staatsanwalts. Er warf den Suzukis vor, bei den Suruwaha westliche Werte zum Nachteil ihrer eigenen propagiert zu haben. Durch das Fortbringen von Hakani hätten sie sich einem „kulturellen, mit Bedeutung gefüllten Brauchtum in den Weg“ gestellt, schrieb Almeida in einem Bericht. Das Mädchen gesund zurückzubringen, sei ein „großer Fehler“ gewesen. Damit sei „in das symbolische Universum der Suruwaha“ die Lösungsmöglichkeit für ein Problem eingeführt worden, „die ihrer traditionellen Lebensweise nicht zur Verfügung steht“. Nach seiner Ansicht fügten die Suzukis den Suruwaha einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zu, indem sie ihnen zeigten, dass nicht jede körperliche Beeinträchtigung eine Tötung erforderlich macht.
Die Rückkehr Hakanis habe die Weltsicht der Suruwaha durcheinanderbracht, räumt Márcia Suzuki. Doch sie sieht das positiv: Seit der Geschichte mit Hakani suchen auch andere Eltern Hilfe. 2005 baten zwei Suruwaha-Familien um medizinischen Beistand für ihre Kinder. Sie wurden aus dem Amazonasgebiet ausgeflogen und in São Paulo behandelt.
Die Diskussion über Kindstötungen in indigenen Stämmen währt schon so lange, dass man darüber mit den betroffenen Kindern selbst sprechen kann. Kanhu und ihre Familie verließen ihren Stamm vor zehn Jahren mit Hilfe der Suzukis. Heute leben sie in einem bescheidenen Haus am Stadtrand von Brasília. Es war nicht leicht für sie, sich an die neue Umgebung anzupassen. „Ich war zuvor nie unter Menschen gewesen, die nicht zu mir gehörten. Ich hatte schreckliche Angst. Ich konnte noch nicht einmal die Sprache“, sagt Kanhu über ihre ersten Wochen außerhalb des Amazonasgebiets. „Das Essen war merkwürdig, auch die Kleider. Alles war so seltsam.“
Jetzt ist Kanhu in ihrem letzten Schuljahr, sie trägt einen modischen Kurzhaarschnitt und einen Nasenring. Sie benutzt einen Rollstuhl und strebt eine höhere Ausbildung an. Im Mai 2017 hielt sie vor dem Kongress eine leidenschaftliche Rede über die Rechte von Behinderten. „Eine Sitte, die den Tod unschuldiger Menschen verlangt, muss aufhören“, sagte sie. „Ihr lasst uns im Stich, ihr tut so, als seien wir unsichtbar, weil wir da draußen mitten im Dschungel leben. Ihr tut so, als seien wir nichts und benutzt unsere Kultur als Entschuldigung. Wir rufen nach Hilfe. Wir rufen nach unseren Rechten.“
Der Beitrag ist im Original bei „Foreign Policy“ erschienen.
Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.
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