"Es fehlt an Analysen und Debatten"

Humanitäre Hilfe
Die Stellenbesetzungen laufen, spätestens im Oktober soll es seine Arbeit aufnehmen: In Berlin entsteht ein neues Zentrum für Humanitäre Hilfe. Die Denkfabrik „Centre for Humanitarian Action“ (CHA) soll sich wissenschaftlich mit Grundsatzfragen der humanitären Hilfe befassen und sie auf diese Weise verbessern helfen.

Finanziert wird das Zentrum derzeit von Ärzte ohne Grenzen, Caritas international und der Diakonie Katastrophenhilfe, getragen wird es von der Maecenata Stiftung. Fragen an den Berater und Gutachter Martin Quack, der den Aufbau des Zentrums koordiniert.

Warum braucht es ein solches Zentrum für die humanitäre Hilfe?
Einige Hilfsorganisationen sind schon seit einigen Jahren der Meinung, dass es in Deutschland an Analyse und an Debatte zu den Grundlagen und zu Rahmenbedingungen der humanitären Hilfe mangelt. Es gab früher schon Versuche, eine Institution zu schaffen, die sich darum kümmert. Die sind aber gescheitert. Mit dem neuen Zentrum ist das jetzt gelungen. Ganz wichtig dafür war, dass die humanitäre Hilfe in den vergangenen Jahren enorm an Bedeutung gewonnen hat. Sowohl die staatliche Förderung als auch die privaten Spenden sind stark gestiegen, ebenso die Zahl der Hilfsorganisationen. Leider hat vor allem der Bedarf an humanitärer Hilfe international zugenommen. Der ganze Bereich wächst also kräftig, aber viele Fragen sind offen.

Wie äußert sich der Mangel an Analyse und Debatte in der Praxis?
Zum einen gibt es die Tendenz, politische Fragen auszublenden. Humanitäre Hilfe soll zwar keine Politik verändern, aber ihre Notwendigkeit hat politische Ursachen,  politisches Scheitern ist der Ausgangspunkt für humanitäre Hilfe. Sie braucht geeignete politische Rahmenbedingungen, um gut zu funktionieren und sie hat politische Folgen, auch wenn diese nicht ihr Ziel sind. Es gibt also eine Menge Politik in der humanitären Hilfe. Deshalb ist es missverständlich, dass manche Vertreter der humanitären Hilfe sagen, sie sei „nicht politisch“. Zum anderen ist es so, dass sich diejenigen, die sich mit solchen Fragen befassen wollen, bisher vor allem an Thinktanks und Institutionen in anderen Ländern wenden müssen. Die Folge ist, dass deutsche Erfahrungen wenig einfließen in internationale Debatten.

Wie wirkt sich das aus, wenn humanitäre Hilfe nicht politisch gedacht wird?
Ein Beispiel ist die Hilfe in Ländern wie der Türkei, durch die Menschen Richtung Europa fliehen. Da gibt es großen humanitären Bedarf, zugleich besteht die Gefahr, ein Teil der europäischen Abschottungspolitik zu sein. Deshalb muss eine Hilfsorganisation genau überlegen, wo kann ich sinnvoll humanitär arbeiten, ohne aus Versehen oder aus Ignoranz die Abschottung zu unterstützen.

Was können Sie aus anderen Ländern für die Arbeit des neuen Zentrums lernen?
Es gibt gute Thinktanks zum Beispiel in Großbritannien oder in Frankreich. Von denen werden vor allem die in der Debatte wahrgenommen, in denen Leute arbeiten, die in der humanitären Hilfe tätig waren und selbst praktische Erfahrungen gesammelt haben. Für das neue Zentrum wird es wichtig sein, die Brücke zwischen Praxis und Wissenschaft zu schlagen.

Drei Hilfsorganisationen finanzieren das Zentrum vorerst. Wie steht es um die Unabhängigkeit?
Das Zentrum ist ausdrücklich eine zivilgesellschaftliche Initiative. Die Finanzierung durch drei Organisationen ist ein guter Anfang, längerfristig braucht es eine breitere Basis, und zwar finanziell und politisch. Es ist nicht daran gedacht, dass das Zentrum der verlängerte Arm der drei Gründungsorganisationen ist, und es gibt bereits Interesse bei anderen Organisationen. Wir sind auch im Gespräch mit staatlichen Stellen und würden deren Unterstützung begrüßen – auf der Grundlage, dass es sich um eine zivilgesellschaftliche Initiative handelt.

Wie ist es um die humanitäre Hilfe aus Deutschland derzeit bestellt?
Das Bewusstsein für die Bedeutung der humanitären Hilfe insgesamt ist gestiegen – und vor allem dafür, dass sie überwiegend im Kontext von Konflikten und nicht von Naturkatastrophen gebraucht wird. Neben dem Auswärtigen Amt haben auch einige nichtstaatliche Hilfsorganisationen in den vergangenen Jahren ihre Kapazitäten ausgebaut, um diesen Anforderungen gerecht zu werden. Im Vergleich dazu gibt es aber in der Entwicklungspolitik noch immer viel mehr Ressourcen für Analyse, politische Debatte und Advocacy-Arbeit. Das ändert sich jetzt langsam, und das ist auch für das neue Zentrum wichtig: Die Hilfsorganisationen brauchen Mitarbeiter mit der erforderlichen Zeit und den Kompetenzen, diese Diskussionen zu führen.

Entwicklungspolitiker beklagen manchmal umgekehrt, dass die Mittel für kurzfristige humanitäre Hilfe in den vergangenen Jahren viel stärker gestiegen sind als die für langfristig orientierte Entwicklungszusammenarbeit…
Da würde ich einwenden, dass die humanitäre Hilfe ja leider oft nicht wirklich kurzfristig ist, weil viele humanitäre Notlagen sehr langwierig sind, etwa in der Demokratischen Republik Kongo. Zum anderen gibt es wohl niemanden in der humanitären Hilfe, der sich nicht für mehr sinnvolle Entwicklungspolitik, Krisenprävention und Katastrophenvorsorge aussprechen würde. Denn all das würde den Bedarf an humanitärer Hilfe senken, wenn es gut läuft. Es wäre falsch, da einen Gegensatz aufzubauen. Im Gegenteil: Es gibt ja die Debatte, humanitäre Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit sowie Frieden und Sicherheit stärker miteinander zu verbinden. Wobei darauf geachtet werden muss, dass das besondere Merkmal der humanitären Hilfe – die Unparteilichkeit, also Hilfe allein nach dem Maßstab der Not – nicht verloren geht.

Soll das neue Zentrum auch Lobbyarbeit machen?
Nein, das ist Aufgabe der Hilfsorganisationen und ihres Verbandes VENRO. Aber das Zentrum soll für Verständnis für humanitäre Hilfe in Politik und Gesellschaft werben und das Thema in der politischen Bildung stärken.

Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.

 

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