Das neue Jahr begann, wie das alte aufgehört hatte: Kaum war das Meer ruhig, wagten sich die ersten Boote auf die Fahrt von Afrika nach Europa. Keine 24 Stunden später flimmerten wieder Bilder von erschöpften Menschen über die Bildschirme, die nur notdürftig gegen die Kälte geschützt auf der italienischen Insel Lampedusa an Land gezogen wurden. Solche Bilder suggerieren, Europa stünde vor einer Flüchtlingsschwemme aus Afrika.
Autorin
Claudia Mende
ist freie Journalistin in München und ständige Korrespondentin von „welt-sichten“. www.claudia-mende.deDie Zuwanderung aus Afrika ist komplex und – dank europäischer Gesetze – zum großen Teil illegal. Die Möglichkeiten, durch Heirat, für ein Studium oder mit einer regulären Arbeitserlaubnis nach Europa zu kommen, sind für Afrikaner sehr begrenzt. Migranten kommen aus ganz Westafrika – von Nigeria bis zum Senegal –, aus Kamerun und dem Kongo, aber auch aus den Krisenherden im Sudan, in Somalia und am Horn von Afrika. Junge Männer und Frauen, manchmal sogar Jugendliche, schippern in hochseeuntauglichen Nussschalen über das Mittelmeer nach Europa, um ihren persönlichen Traum zu leben auf die Gefahr hin, das Leben zu verlieren. Sie fliehen vor dem Mangel an Perspektiven und Erwerbsmöglichkeiten, vor Krieg, Hunger und Umweltkatastrophen. Sie suchen ein besseres Leben in einem Europa, das sie nur aus Fernsehbildern kennen. Unter ihnen sind zunehmend auch Asiaten aus China, Bangladesch, Indien, Pakistan und Afghanistan, die nach Westafrika einfliegen und sich dann in die Trecks einreihen. Wer es über das Meer geschafft hat, kommt in der Regel in ein Auffanglager und wird dann wieder abgeschoben.
Wie viele von ihnen die gefährliche Überfahrt nicht überleben, weiß niemand genau. Die holländische Organisation United for Intercultural Action in Amsterdam hat alle bekannt gewordenen Todesfälle seit 1992 dokumentiert und kommt auf eine Zahl von insgesamt 9000. Doch die Dunkelziffer ist hoch. Nicht nur die Fahrten in schrottreifen Fischerbooten ohne Navigationshilfen sind gefährlich, auch auf den Landrouten durch die Sahara brechen Lastwagen zusammen oder verirren sich in der Wüste. Flüchtlinge werden von bewaffneten Banden überfallen oder von kriminellen Schleppern mitten im Nichts ausgesetzt.
Verarmte Fischer stellen ihre Boote zur Verfügung
Drei Hauptrouten dieser Migranten hat die Internationale Organisation für Migration aufgezeigt. Auf der ersten, der besonders gefährlichen Atlantikroute, fahren sie aus Westafrika auf Lastwagen oder Toyota-Pickups an die Küste des Senegal oder Mauretaniens und dann per Schiff zu den Kanarischen Inseln. Sie wagen von Dakar oder St. Louis die 1300 Kilometer über den Atlantik. Oder sie fahren weiter nördlich von der Hafenstadt Nouadhibou in Mauretanien ab, die sich zu einem Knotenpunkt der illegalen Migration nach Europa entwickelt hat. Hier treffen sich Flüchtlinge mit Händlern, die die Überfahrt organisieren. Rund 10.000 warten regelmäßig in der Hafenstadt auf ihre Überfahrt. Die Stadt leidet unter ihnen, profitiert aber auch von Dienstleistungen für die Fremden. Verarmte Fischer stellen ihre „pateras“ für die riskanten Fahrten zu den Kanaren zur Verfügung. Bernd Mesovic von Pro Asyl sieht hier einen Zusammenhang zur umstrittenen Fischereipolitik der Europäischen Union (EU), die unter anderem Mauretanien Fischrechte abgehandelt hat. Europäische Fischtrawler nutzen so die reichhaltigen Fischgründe vor der Atlantikküste Mauretaniens, während einheimische Fischer das Nachsehen haben. „Aus zahlreichen Interviews wissen wir, dass mauretanische Fischer entweder selber flüchten oder Menschen auf die Kanaren bringen“, sagt Mesovic.
Die zweite Hauptroute führt durch die Sahara über den beliebten Touristenort Agadez im Niger und Algerien nach Marokko oder Libyen. Die alte Karawanenstadt Agadez lebte Jahrhunderte vom Transsahara-Handel und ist heute ein moderner Verkehrsknotenpunkt, zumal der Transport von Ausreisewilligen im Niger legal ist. Davon lebt dort eine ganze Branche von Transportunternehmen. In Agadez strömen Migranten aus frankophonen und anglophonen Ländern Afrikas zusammen, hier wird die Weiterreise nach Norden geplant. Marokko ist wegen seiner geografischen Lage neben Libyen das wichtigste Sprungbrett nach Europa. Von Rabat, Casablanca, Tanger oder dem Städtchen Oudja an der algerischen Grenze hoffen die Menschen, mit dem Boot über das Mittelmeer an die spanische Küste zu gelangen.
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Noch vor drei Jahren galt der Weg über die spanischen Exklaven in Marokko – Ceuta und Melilla – als weniger gefährliche Alternative. Doch 2005 versuchten Hunderte von Afrikanern, die Grenzzäune von Melilla und Ceuta zu stürmen. Bei Zusammenstößen mit Sicherheitskräften kamen damals elf Menschen ums Leben. Seitdem sind die beiden Überwachungszäune auf sechs Meter erhöht und die Patrouillen der Guardia Civil verstärkt worden. Die Einreise ist auf diesem Weg fast unmöglich geworden. Statt dessen gewann erst die besonders gefährliche Atlantikroute über die Kanaren an Attraktivität, bis hier seit 2007 die Küstengewässer besser überwacht wurden und die Zahlen zurückgingen.
Etwa 15 Monate bleiben die Menschen im Schnitt in Marokko, bis sie die Weiterreise wagen können. In dieser Zeit finden viele im Land ein Auskommen, nicht wenige bleiben freiwillig oder unfreiwillig dort hängen. Sie finden Jobs oder verrichten Dienstleistungen für andere Auswanderer. Nach einer Studie der Universität Oxford ziehen nur zwischen 20 und 38 Prozent der Migranten aus Schwarzafrika, die in den Maghreb kommen, weiter nach Europa, während die übrigen dauerhaft in Nordafrika bleiben. Sie leben jedoch in einer unsicheren Situation und müssen Abschiebungen befürchten. Hierbei werden häufig Menschenrechte verletzt, Menschen ohne Nahrungsmittel- und Wasservorräte in der Wüste ausgesetzt, ihrer Habe beraubt oder von Soldaten mißhandelt. Arabischer Rassismus gegenüber Schwarzafrikanern spielt dabei eine zentrale Rolle.
Das Nadelöhr, die Insel Lampedusa
Nach Libyen verläuft die dritte Hauptroute der Migranten. In der libyschen Ölindustrie arbeiten schätzungsweise zwei Millionen Schwarzafrikaner. Aus Ostafrika und von den Krisenherden im Sudan und in Kenia führen Wege über die sudanesische Oase Selima oder durch Ägypten dorthin. Von der Hauptstadt Tripoli oder der Hafenstadt Benghazi aus versuchen Flüchtlinge, mit dem Boot Malta, Lampedusa oder Sizilien zu erreichen. Die Insel Lampedusa mit ihrer kleineren Nachbarinsel Linosa bildet eines der wichtigsten Nadelöhre auf dem Weg nach Europa. Laut UNHCR versuchten 2008 rund 29.000 Menschen über die nur 290 Kilometer von der libyschen Küste entfernte italienische Insel nach Europa zu gelangen. 60 Prozent aller Asylanträge in Italien werden in dort gestellt. Gerade in jüngster Zeit ist hier die Zahl der Bootsflüchtlinge enorm gestiegen. Das soll sich jedoch 2009 ändern, denn libysche und italienische Schiffe patrouillieren seit Januar gemeinsam vor Nordafrika, um Boote bereits bei der Ausfahrt abzufangen. Europa will seine Grenzen dicht machen und setzt dabei auf die Kooperation der Länder Nordafrikas.
Die Angst vor einem Exodus aus Afrika ist aber übertrieben. Zwar schwanken die statistischen Angaben über die Zahl der afrikanischen Migranten, die nach Europa wollen. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR rechnet insgesamt mit einer über die letzten Jahre ungefähr konstanten Zahl von jährlich rund 120.000 Afrikanern, die über das Mittelmeer illegal nach Europa einreisen wollen. Darunter sind 35.000 aus Afrika südlich der Sahara, die meisten sind jedoch Nordafrikaner. Die Zuwanderung über die Kanaren ist in dieser UNHCR-Statistik nicht berücksichtigt. Laut UNHCR sind 2008 rund 65.000 Flüchtlinge an den Küsten Südeuropas gestrandet; die restlichen wurden vorher abgefangen oder blieben in den Transitländern.
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Die meisten Menschen, die vor den humanitären und politischen Katastrophen in Afrika fliehen, bringen sich nach wie vor in der Region in Sicherheit. Allein Tansania hat mehr als 400.000 Flüchtlinge aufgenommen. Flüchtlinge aus Darfur flüchten in der Regel in den benachbarten Tschad, wo nach UNHCR-Angaben etwa 300.000 Sudanesen leben. Nur ein Bruchteil dieser Flüchtlinge zieht weiter nach Europa. Dennoch wächst dort die Angst vor unkontrolliertem Zustrom illegaler Einwanderer. Seit 1995 koordiniert die europäische Agentur Frontex die operative Zusammenarbeit der Grenz- und Küstenschutzbehörden an den Außengrenzen der EU bis vor die Küste Mauretaniens. „Die Land- und Seemissionen von Frontex sind ein schlagendes Beispiel dafür, dass die EU beim Versuch, die totale Kontrolle über Migrationsbewegungen zu erzwingen, kaum Skrupel kennt“, betont Bernd Mesovic von Pro Asyl.
Die EU verlagert ihre Grenzkontrollen in afrikanische Länder
Im November 2008 hat die EU-Afrika-Konferenz ein Dreijahresprogramm zur Kontrolle der Migration verabschiedet. Nach Angaben des Auswärtigen Amts will die EU damit reguläre Migration steuern, illegale Einwanderung eindämmen und neue „Synergieeffekte zwischen Migration und Entwicklung“ schaffen, wie Staatssekretär Günter Gloser aus dem Auswärtigen Amt formuliert. Man kann es auch anders ausdrücken: Die EU verlagert ihre Grenzkontrollen in afrikanische Länder.
Die Staaten Westafrikas sollen nach europäischem Vorbild kostspielige biometrische Techniken zur Identifikation von Personen einführen. Die Elfenbeinküste hat bereits fälschungssichere biometrische Ausweise beschlossen und mit der Herstellung eine europäische Firma beauftragt. Zudem sollen die Staaten Westafrikas in Zukunft abgeschobene Migranten, auch solche aus Drittländern, unbürokratisch zurücknehmen. Als Gegenleistung verspricht die EU bis 2011 zusätzliche Wirtschaftshilfe und eine Quote für legale Einwanderung von Studenten und qualifizierten Arbeitskräften.
Die Situation ist paradox. Einerseits versucht Europa, die Schlupflöcher für Afrikaner dicht zu machen. Andererseits werden illegale Zuwanderer etwa in der spanischen und italienischen Landwirtschaft dringend gebraucht. Rund 30.000 bis 40.000 von ihnen sollen allein in Sizilien auf den Feldern arbeiten. Beim zu erwartenden Rückgang der Bevölkerung in Europa wird der Bedarf an afrikanischen Arbeitskräften in Zukunft noch steigen.