Auf Stimmenfang im Namen des Herrn

Evangelikale
Evangelikale Prediger mischen neuerdings in Lateinamerika erfolgreich bei Wahlen mit. Mangel an politischer Erfahrung machen sie mit starker Medienpräsenz wett.

Die Präsidentschaftswahlen in Costa Rica Anfang des Jahres haben aufhorchen lassen. Völlig unerwartet gewann ein evangelikaler Prediger den ersten Wahlgang mit fast einem Viertel der Stimmen und kam in die Stichwahl. Fabricio Alvarado Muñoz hatte vier Jahre lang als einziger Abgeordneter die rechtsevangelikale Splitterpartei Restauración Nacional im Parlament vertreten. Am Ende verlor er die Stichwahl gegen Carlos Alvarado Quesada.

Doch es war bemerkenswert, dass ein Evangelikaler in einem Land, in dem die römisch-katholische Konfession Staatsreligion ist, so viele Stimmen auf sich vereinigen konnte. Costa Rica ist kein Einzelfall: Auch im Wahlkampf in Venezuela mischte in den vergangenen Monaten ein evangelikaler Kandidat kräftig mit. Der freikirchliche Pastor Javier Bertucci, Chef der Maranatha-Kirche, landete am Ende mit knapp elf Prozent immerhin auf dem dritten Platz.

Die evangelikale Bewegung in Lateinamerika ist seit den 1970er Jahren stark gewachsen, und das insbesondere auf Kosten der katholischen Kirche. 1970 waren noch 92 Prozent der Menschen in Mittel- und Südamerika katholisch, 2014 nur noch rund zwei Drittel. Entsprechend gegenläufig lesen sich die Zuwachszahlen der Evangelikalen. In Honduras sind 41 Prozent der Bevölkerung Mitglied in einer Freikirche, in Nicaragua 37 Prozent und in Brasilien und Costa Rica mehr als 20 Prozent.

Neu ist, dass Evangelikale in die Politik gehen

Lange Zeit begnügten sich die Freikirchen damit, den Menschen eine religiöse Alternative anzubieten. Neu ist, dass evangelikale Prediger nun auch in der Politik mitmischen wollen. Guatemala, wo bereits 40 Prozent der Bevölkerung von der katholischen in eine der evangelikalen Kirchen gewechselt sind, hat mit Jimmy Morales seit 2015 einen evangelikalen Präsidenten. Und Rio de Janeiro, die zweitgrößte Stadt Brasiliens, wird seit 2016 von Marcelo Crivella regiert, einem ehemaligen Bischof der evangelikalen Megachurch Igreja Universal do Reino de Deus.

Auch die kolumbianische Regierung musste im Oktober 2016 feststellen, dass die evangelikalen Christen ein politischer Faktor sind. Sie unterlag bei der Volksbefragung über das Friedensabkommen mit der linksgerichteten Farc-Guerilla auch deshalb, weil es ihr nicht gelungen war, Halbwahrheiten und Mythen, die um das 297 Seiten starke Papier entstanden waren, zu zerstreuen. So hatten evangelikale Führer im Vorfeld ihre Anhänger dezidiert aufgefordert, mit Nein zu stimmen, weil sich das Gerücht hielt, mit dem Abkommen käme auch die Homo-Ehe und die Familie werde zerstört.

Bahnt sich in der Politik auf dem lateinamerikanischen Kontinent nun die evangelikale Wende an? Der frühere peruanische Innenminister José Luis Pérez Guadalupe und der Leiter des Peru-Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung, Sebastian Grundberger, haben für die Stiftung Ende vergangenen Jahres den politischen Einfluss evangelikaler Kirchen in Lateinamerika untersucht. Sie sehen noch nicht, dass die Evangelikalen kurz vor dem Durchmarsch durch die Institutionen stünden.

Evangelikale sind organisatorisch zersplittert

Zwar halten sie fest, „dass sich die evangelikalen Kirchen nicht nur anschicken, fünf Jahrhunderte konfessionellen Monopols der römisch-katholischen Kirche zu durchbrechen, sondern auch deren religiöse und politische Hegemonie auf dem Kontinent infrage zu stellen“. Um aber Wahlen zu gewinnen, fehlten ihnen die nötigen Strukturen. „Bisher haben es evangelikale Kirchen kaum vermocht oder gewollt, strukturierte und beständige eigene politische Parteien zu gründen“, heißt es in ihrer Studie.

Trotz ihres beachtlichen Wachstums seien die Evangelikalen in Lateinamerika organisatorisch wie seelsorgerisch stark zersplittert. Meist engagierten sich nur einzelne Führer politisch, nicht die gesamte Kirche. Mit ihrer „moralischen Agenda“ stellten die Evangelikalen in vielen Ländern Lateinamerikas dennoch eine Wählermacht dar, um die kaum ein Politiker mehr herumkomme, schreiben Guadalupe und Grundberger.

Die Bibel irrt nie

Mit „evangelikal“ wird keine Konfession, sondern eine theologische Richtung bezeichnet, die von einer irrtumsfreien Autorität der Bibel ausgeht und die persönliche Beziehung jedes einzelnen Menschen zu ...

Wie politisch wirksam diese „moralische Agenda“ sein kann, wurde im Wahlkampf in Costa Rica deutlich. Beobachter sind sich einig, dass der evangelikale Kandidat Fabricio Alvarado Muñoz seinen kometenhaften Aufstieg nur dem Umstand zu verdanken hatte, dass der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte wenige Wochen vor dem Urnengang Costa Rica aufgefordert hatte, gleichgeschlechtliche Partnerschaften der Ehe zwischen Mann und Frau rechtlich gleichzustellen. Im Wahlkampf drehte sich fortan alles nur noch um die Frage der Homo-Ehe.

Mit seiner deutlichen Distanzierung davon konnte Fabricio Alvarado Muñoz schnell viele Konservative, auch aus den Reihen der Katholiken, um sich scharen. Er kündigte für den Fall seines Wahlsieges den Austritt aus dem Interamerikanischen Menschenrechtssystem und der Organisation Amerikanischer Staaten an sowie härtere Strafen für Abtreibung und homosexuelle Handlungen. Zudem stellte er in Aussicht, dass in seiner Regierung evangelikale Pastoren wichtige Posten einnehmen würden, um die „traditionellen Familienwerte“ gegen die vermeintliche „Gender-Ideologie“ zu verteidigen.

Sehr konservatives Welt- und Gesellschaftsbild

Sein hastig zusammengezimmertes Regierungsprogramm las sich wie der Wertekanon der evangelikalen Bewegung. Denn trotz ihrer Heterogenität verbindet die evangelikalen Gruppen über alle Länder- und Konfessionsgrenzen hinweg ein sehr konservatives Welt- und Gesellschaftsbild. Egal, ob in Hinterhöfen vor einer kleinen Zahl von Gläubigen oder in Fußballstadien vor Zehntausenden Anhängern gepredigt wird: Stets wird betont, dass andere als heterosexuelle Lebensentwürfe in Gottes Schöpfung nicht vorgesehen sind, Mann und Frau klare, von Gott zugewiesene Rollen haben, Abtreibung eine unverzeihliche Sünde ist und außerehelicher Geschlechtsverkehr in die Hölle führt.

Es mag verwundern, dass evangelikale Prediger mit diesem Programm ausgerechnet in Lateinamerika der katholischen Kirche Konkurrenz machen. Denn die vertritt seit jeher mit Vehemenz dieselben Überzeugungen. Für eine Erklärung lohnt ein Blick in die Geschichte der evangelikalen Bewegung auf dem Kontinent. Die ersten US-amerikanischen Missionare predigten an den Rändern der Gesellschaft. Sie wandten sich denen zu, die von der Wirtschaft abgehängt und von der Politik vergessen waren. In den Favelas der Großstädte, in denen Alkoholmissbrauch, Drogenhandel und Gewalt das Leben beherrschten, boten sie den Menschen eine einfache Alternative: Enthaltsamkeit, Bibeltreue und das Gefühl, zu einer besseren Gemeinschaft zu gehören.

Zwar kann die katholische Kirche mit ihren Befreiungstheologen in Lateinamerika auf eine ähnliche Zuwendung zu den Armen und Benachteiligten verweisen. Doch genau diesen Aufbruch in den eigenen Reihen versuchte die Amtskirche in Rom lange Zeit zu unterdrücken. Mit Papst Johannes Paul II. hatte mehr als 26 Jahre lang ein Mann die Zügel in der Hand, der aufgrund seiner eigenen Biografie alles ablehnte, was sozialistische Grundideen enthielt. Und in den Bischofskonferenzen in Lateinamerika hatten lange Zeit diejenigen das Sagen, die sich gegen die Befreiungstheologie stellten und lieber die Nähe zu den Mächtigen suchten.

Armut und Krankheit gelten als Fluch

Genau dieses Feld besetzten die evangelikalen Prediger aus dem US-amerikanischen Ausland. Heute haben längst Einheimische ihre Rolle übernommen. Und aus vielen der kleinen Hinterhofkirchen sind regelrechte Wirtschaftsimperien geworden. Ihr finanzielles Fundament bilden oft Spenden, die nicht nur aus dem Ausland kommen. Einheimische Kirchenmitglieder, auch wenn sie arm sind, geben bereitwillig, denn gepredigt wird vielerorts eine Form von Wohlstandsevangelium. Diese Art, die Bibel auszulegen, stammt aus den USA und geht davon aus, dass Gott den Gläubigen Gesundheit und Reichtum schenkt, wenn sie nur richtig an ihn glauben. Krankheit und Armut gelten in diesem Weltbild als Fluch. Wer würde sich da die Blöße geben, kein Geld für die Kirche übrigzuhaben?

Autorin

Katja Dorothea Buck

ist Religionswissen- schaftlerin und Journalistin in Tübingen.
Nun ließen sich der Zulauf zu den Evangelikalen und ihr wachsender Einfluss auf Gesellschaft und Politik mit einem schlichten Verweis auf die Religionsfreiheit abtun. Jeder soll glauben dürfen, was er für richtig hält und sich der Kirche anschließen, in der er sich am besten aufgehoben fühlt. Doch ganz so einfach ist das nicht. Denn das Recht auf die freie Wahl des Glaubens oder Unglaubens setzt eine gewisse Chancengleichheit der religiösen Angebote voraus. Angesichts der finanziellen Mittel, die gerne nur für die eigene Gemeinde eingesetzt werden, sowie der starken Medienpräsenz evangelikaler Prediger ist die aber nicht mehr gegeben. So besitzt die Heimatkirche des Bürgermeisters von Rio de Janeiro, die Igreja Universal do Reino de Deus, das zweitgrößte Medienimperium Brasiliens. Für Marcelo Crivella war es ein Leichtes, sich und sein Programm einer großen Öffentlichkeit vorzustellen.

Guatemalas Präsident Jimmy Morales war nicht durch seine Arbeit als Politiker bekannt geworden, sondern durch seine Fernsehshows. Auch in Costa Rica hat der einflussreiche evangelikale TV-Sender Enlace maßgeblich die Diskussionen im Wahlkampf bestimmt. Er hat in unterschiedlichen Fernsehformaten allen konservativen Präsidentschaftskandidaten Raum gegeben, nicht aber denen, die sich für eine liberale und progressive Gesellschaftspolitik aussprachen. Fabricio Alvarado Muñoz hatte sich schon im Vorfeld die Unterstützung des Senders gesichert und mit Ivonne Acuña Cabrera als Kandidatin für die Vizepräsidentschaft die Tochter eines bekannten und einflussreichen Enlace-Predigers ins Rennen gebracht.

In Ländern, in denen das Fernsehen die wichtigste Informationsquelle ist und es keine öffentlich-rechtlichen-Sender gibt, die der Neutralität und Transparenz verpflichtet sind, haben private Sender einen ungemein großen Einfluss. Crivella, Morales und Alvarado Muñoz haben gezeigt, dass es nicht unbedingt große Parteiapparate und politische Organisationen im Hintergrund braucht, um bei Wahlen erfolgreich abzuschneiden. Je länger die evangelikalen Sender ihr erzkonservatives Weltbild predigen, das anders Lebenden, anders Denkenden und anders Glaubenden nur wenig Raum lässt, desto mehr verändern sie die Gesellschaft. Und desto wahrscheinlicher werden in Zukunft evangelikale Prediger an die Macht kommen.

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erschienen in Ausgabe 7 / 2018: Vormarsch der starken Männer
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