Sehen gleich aus, bieten aber viel Spielraum für eine individuelle Nutzung: Knapp 500 neue Häuser sind auf einem Hügel über Constitución entstanden.
Als im Februar 2010 ein schweres Erdbeben der Stärke 8,8 die Region erschütterte, war Carlos Muñoz gerade am Strand, um dort Lautsprecher und die Bühne für das Sommerfestival am nächstenTag aufzubauen. „Ich bin sofort ins Auto gesprungen und nach Hause gefahren“, erzählt der Radiomoderator und Eventmanager. Als der 43-Jährige eine Viertelstunde später dort ankam, lag sein Heim in Trümmern. Frau und Kinder konnten sich in den Garten retten. Doch das nächste Unheil folgte unmittelbar: ein Tsunami. 350 Menschen starben, die Innenstadt war völlig zerstört. Familie Muñoz überlebte auf dem Dach des Nachbarhauses, aber sie hatte alles verloren. Nach dem ersten Schock wurde Carlos Muñoz klar: Die Katastrophe war auch eine Chance für seine geliebte Stadt.
Constitución trug in den 1930er und 1940er Jahren den Beinamen „Die Perle des Maule“. 300 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago, eingeklemmt zwischen Pazifik und der Mündung des Flusses Maule, war sie eines der Lieblingsferienziele der chilenischen Elite, die von Valparaiso aus mit dem Schiff in die Sommerfrische fuhr. Doch dann versandete der Hafen, die Touristen blieben weg, und Constitución fiel in einen Dornröschenschlaf, aus dem es erst durch den Bau einer Zellulosefabrik in den 1970er Jahren erwachte. Die Firma Arauco, im Besitz einer der reichsten Familien Chiles, war Segen und Fluch zugleich. Sie schuf Arbeitsplätze und forstete auf – aber sie verpestete die Luft, verschmutzte das Wasser und sorgte für eine Monokultur aus Kiefern und Eukalyptusbäumen. Die Stadt wuchs auf 45.000 Einwohner an, viele Siedlungen wurden illegal errichtet, während sich die einflussreichsten Familien die besten Ufergrundstücke sicherten und die Fischer verdrängten.
All das hatten Erdbeben und Tsunami zerstört, auch die Fabrik war überschwemmt und beschädigt worden. Constitución musste neu angelegt werden. Und Chiles Stararchitekt Alejandro Aravena, Träger des renommierten Pritzker-Architekturpreises, spielte dabei eine Schlüsselrolle. Bezahlt vom Unternehmen Arauco und unterstützt von der Zentralregierung sowie vom Bürgermeister, sollte er mit seinem Architekturbüro Elemental innerhalb von 100 Tagen einen Wiederaufbauplan erstellen. Aravena erkannte sofort das Potenzial dieser Aufgabe: „Wir konnten ganz von vorne anfangen und wollten dabei die Bürger mit im Boot haben, denn sie sind die Einzigen, die so einem langfristigen Projekt das Rückgrat geben.“
Aravena gründete eine Art Aufsichtsrat mit Vertretern aus Staat, Unternehmen und Bevölkerung, dem sein Büro Rechenschaft ablegte – auch Carlos Muñoz war dabei. Mit dem Programa de Reconstrucción Participativa (PRES) war das erste partizipative Wiederaufbauprogramm Chiles geboren. Über jedes Projekt wurde öffentlich diskutiert und entweder online oder mit der Abgabe von Stimmzetteln abgestimmt. Das Ergebnis inklusive Kostenkalkulation und den Plänen für die architektonische Umsetzung wurde dann Arauco, dem chilenischen Bauministerium und der Gemeinde vorgelegt. Anschließend organisierten sich die Bürger meist als Nachbarschaftskomitees, um ihre Vorschläge weiterzuverfolgen und Druck auszuüben.
Über den Park am Flussufer wurde heftig gestritten
Einfach sei das nicht gewesen, erinnert sich Aravena. Es gab hitzige Debatten und heftige Widerstände. Ein argentinisches Baukonsortium hatte ein Auge auf die Ufergrundstücke geworfen und wollte dort ein Hotel und Luxuswohnungen errichten. Arauco wollte sich die Lorbeeren für den Wiederaufbau gerne allein ans Revers heften, und Politiker wollten den Medien rasch Ergebnisse liefern. Das PRES wurde ein Wettlauf gegen die Zeit und gegen das Geld. „Die Menschen denken kurzfristig nur an ihren eigenen Vorteil, und man muss erst einmal die richtigen Fragen stellen, die das Gemeinwohl berücksichtigen. Nichts ist schlimmer als die richtige Antwort auf eine falsche Frage“, sagt Aravena.
Die Uferzone des Maule war dafür ein Paradebeispiel. Politiker favorisierten dort den Bau einer Hafenmauer. Sie stellten sich die aus ihrer Sicht vernünftige Frage, nämlich, wie man die Bevölkerung künftig am besten vor Tsunamis schützen könne. Das hätte 42 Millionen US-Dollar gekostet. Eine Alternative war ein komplettes Bauverbot im Uferbereich. Das wäre mit 30 Millionen US-Dollar Entschädigung für die Enteignungen etwas billiger gewesen, aber zugleich unpopulär und illusorisch, denn das Land wäre schnell wieder illegal besetzt worden. Das Gespräch mit der Bevölkerung förderte andere Wünsche zutage: Schutz vor den alljährlichen Überschwemmungen und einen öffentlichen Zugang zum Fluss.
Constitución hatte im Gegensatz zu anderen Städten nur wenig öffentliche Grünfläche. Solche Orte, an denen sich die Anwohner treffen und austauschen können, machen Städte erst lebenswert“, sagt Aravena. „Wir haben deshalb eine erhöhte Uferpromenade vorgeschlagen und einen Uferpark mit vielen Bäumen, die bei Tsunamis die Macht der ersten Flutwelle abbremsen.“ Der Park kostete 48 Millionen Dollar und war damit die teuerste Alternative. Doch das Architektenteam prüfte den Haushalt und fand, dass noch vor der Katastrophe drei chilenische Ministerien unabhängig voneinander Projekte in Constitución geplant hatten – im Umfang von 52 Millionen US-Dollar. „Wir mussten nur etwas kreativ sein, damit die Bürokratie das Geld umtitelte“, sagt Aravena und lächelt.
Weitere Bauten entstanden, die den Bürgern wichtig waren. Dazu zählt eine luftige, ganz in Holz gehaltene Bibliothek mit Computern und freiem Internetzugang am zentralen Platz und eine neue Sozialsiedlung für die obdachlos gewordenen Opfer der Naturkatastrophe, bestehend aus sogenannten halben Häusern. Auch das ist eine Idee Aravenas, die er zuvor schon im Norden Chiles ausprobiert hatte. Im sozialen Wohnungsbau in Chile darf ein Haus höchstens 30.000 US-Dollar kosten, was für 40 Quadratmeter reicht. Das ergibt die in ganz Lateinamerika bekannten, aneinander gereihten Schuhschachtelsiedlungen.
Eine Familie braucht laut Experten aber die doppelte Fläche. Die meisten Bewohner erweitern deshalb ihre Sozialbauten schon bald nach dem Einzug: Sie setzen einen zweiten Stock auf oder sie durchschlagen eine Wand, um einen Balkon oder ein weiteres Zimmer anzubauen. „Dabei beschädigen sie tragende Pfeiler, durchstoßen das Dach oder reißen Brandschutzmauern ein“, sagt Aravena. Das kann tödlich sein in einem Land wie Chile, das regelmäßig von Erdbeben, Feuersbrünsten oder Tsunamis heimgesucht wird.
In Villa Verde fühlen sich die Menschen sicher
Aravena errichtet deshalb „halbe Häuser“ – die eine Hälfte ist fertig ausgebaut mit Wohnräumen, Küche und Bad, die andere Hälfte ist lediglich überdacht und die Bewohner können dort ihre eigenen Wünsche verwirklichen. In Villa Verde auf einem Hügel über Constitución sind knapp 500 solcher Einheiten entstanden. Aus der zweiten Hälfte haben die Hauseigentümer Garagen, Zimmer, Werkstätten oder Tante-Emma-Läden gemacht.
Lidia Vergara ist eine der Begünstigten. Die 36-jährige Hausfrau hat sich in der zweiten Hälfte ihres Hauses ein größeres Wohnzimmer inklusive Wintergarten eingerichtet. „Ich liebe Blumen“, sagt Vergara, die mit Mutter, Ehemann und zwei Kindern auf den 80 Quadratmetern lebt. „Manche Dinge wie die Steckdosen sind aus billigem Material, aber das können wir ja mit der Zeit auswechseln. Wichtig ist mir, dass jeder von uns sein Zimmer hat“, sagt sie. Auch das sichere Lebensgefühl gefällt ihr, denn Aravena hat die Häuser nicht wie üblich entlang einer Straße aufgereiht, sondern hufeisenförmig angeordnet: „20 bis 25 Familien können sich gut organisieren, da kennt jeder jeden. Darüber hinaus wird es anonym und konfliktreich“, erklärt er. „Und wenn sie möchten, können sie ihren Bereich zur Straße hin mit einem Zaun absperren, und drinnen können die Kinder gefahrlos spielen.“
Ein besonderes Schmuckstück ist Aravenas Kulturzentrum, das auf Wunsch der Bürger am Hauptplatz entstanden ist. Zur Straße hin lädt ein Café zum Verweilen ein, im Untergeschoss gibt es Musikräume und ein Auditorium, oben Büros und einen kleinen Ausstellungsraum. Dort präsentieren lokale Künstler gerade Gemälde über die Region Maule, in den Musikräumen üben Kinder Klavier und Geige. „Die Kultur hat geholfen, die Wunden der Katastrophe zu heilen“, sagt der Direktor des Zentrums, Luis Valero. „Ohne den Tsunami hätten wir nie gemerkt, dass die Bevölkerung den Wunsch nach mehr Kultur hat.“
Früher war Kultur ein Extra, für das die Stadtverwaltung nur Geld ausgab, wenn sie etwas übrig hatte. Jetzt gibt es eine unabhängige Kulturverwaltung mit festem Budget.Seit der Eröffnung des Zentrums im September 2016 haben mehr als 400 Anwohner an Kursen teilgenommen, Tausende haben Ausstellungen und Konzerte besucht. „Das stärkt den Zusammenhalt und unsere Identität und macht die Stadt lebenswerter“, betont Valero.
„Ein Wiederaufbauprojekt funktioniert nur, wenn jeder seine Rolle erfüllt, auch der Staat“, ergänzt Gemeinderat Fabián Sánchez, der zum Zeitpunkt der Katastrophe die Arbeiten koordiniert hat. Freilich sei das nicht immer einfach, denn bei einem Wechsel im Bürgermeister- oder Präsidentenamt veränderten sich die Prioritäten. Daran ist bisher der Bau eines Theaters gescheitert, ebenfalls ein Wunsch der Einwohner. Aber immerhin, so Sánchez, habe der Staat sein Versprechen erfüllt, in der Sozialsiedlung Villa Verde Bushaltestellen, Sportplätze und einen Versammlungsraum zu bauen – „auch wenn wir da ganz schön Druck machen mussten und selbst mit Hand anlegten beim Bau der Tribünen“, fügt Vergara hinzu.
Autorin
Sandra Weiss
ist Politologin und freie Journalistin in Mexiko-Stadt. Sie berichtet für deutschsprachige Zeitungen und Rundfunksender aus Lateinamerika.„Constitución ist jetzt unsere Stadt“, sagt Carlos Muñoz stolz. Er hat an derselben Stelle ein neues Haus gebaut – inklusive derPension Trocha Angosta, die einen wunderbaren Ausblick auf den Fluss Maule bietet. „Dank der Katastrophe hat der Tourismus wieder eine Chance. Früher gab es hier gerade einmal 480 Betten, jetzt haben wir 3000“, erzählt er. Und weil sich der Tourismus schlecht mit der Umweltverschmutzung verträgt, wird auch Arauco schärfer überwacht. Der ätzende Gestank, über den die Bürger früher klagten und der die Touristen vertrieb, ist seither Geschichte. Und der nächste Tsunami? Der solle nur kommen, meint Muñoz und lacht. „Wir sind vorbereitet. Ich habe völliges Vertrauen in unseren Uferpark.“
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