Unzählige junge Frauen haben in Afghanistan durch Anschläge und Bomben ihre Ehemänner verloren. Sie werden sozial ausgegrenzt und sind von Armut bedroht.
Etwas stimmte nicht – das war Nasreen* klar. Fünf Tage lang hatte sie nichts von ihrem Ehemann gehört. In der Regel kam der Polizist aus der Provinz Kandahar jeden Tag nach der Arbeit nach Hause. Nach dem Morgengebet am sechsten Tag klopften der Geistliche und die Ältesten aus dem Dorf an ihre Tür. „Sie teilten mir mit, dass mein Mann gestorben ist“, erzählt die 16-Jährige am Grab ihres Mannes.
Nasreen und ihr Ehemann waren nur sieben Monate lang verheiratet, als er Ende November vergangenen Jahres auf dem Heimweg von den Taliban erschossen wurde. Nasreen trauert um ihn und sorgt sich, wie sie ohne seine Einnahmen überleben soll. Und sie ist Opfer eines unbarmherzigen Brauches: Paschtunische Gemeinden in ländlichen Teilen Afghanistans glauben, wenn ein Mann innerhalb der ersten zehn Ehemonate der Ehe stirbt, sei das die Schuld der Braut, die die Familie verflucht hat.
„Kurz nach dem Tod meines Ehemannes hat sich nicht nur seine Familie von mir abgewandt, sondern auch die Frauen aus dem ganzen Dorf,“ erzählt Nasreen. Nachbarn hätten sie beschimpft, Familienmitglieder ihres Mannes hätten sie geschlagen. „Ich habe zwei Tragödien erlebt“, sagt sie. „Ich habe meinen Ehemann verloren, mit dem ich ein glückliches Leben geführt habe. Außerdem habe ich keine Kinder, und erneut heiraten kann ich nicht, weil ich als unglücksbringende Braut verschrien bin.“
Nach fast vier Jahrzehnten Krieg ist Afghanistan ein Land der Kriegswitwen. Es gibt keine offiziellen Zahlen, wie viele Frauen ihre Ehemänner verloren haben, aber laut Schätzungen sind es rund zweieinhalb Millionen. Etwa ein Drittel der Mädchen heiratet vor dem 18. Lebensjahr – deshalb ist eine afghanische Witwe im Durchschnitt nur 35 Jahre alt. Für diese jungen Frauen ist der Tod des Ehemannes ein mehrfaches Unglück. Sie kennen ihre Rechte nicht und werden aus traditionellen Gründen gebrandmarkt. Häufig bleibt ihnen nur ein kinderloses und einsames Leben in Armut.
Laut Schätzungen der Vereinten Nationen (UN) können rund 94 Prozent der afghanischen Witwen nicht lesen und schreiben. Sie leiden vor allem unter dem plötzlichen Zusammenbruch der Rollenverteilung in der Familie, die von strengen kulturellen Regeln bestimmt ist. Frauen übernehmen üblicherweise die Kindererziehung und den Haushalt, der Mann sorgt für Unterkunft und Nahrung. Wenn ein Mädchen ihren Ehemann verliert, ist es schwierig für sie, beide Rollen zu übernehmen.
„Junge Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren sind die Hauptopfer des Krieges. Die meisten Kriegswitwen sind Mädchen, keine Frauen“, sagt die Aktivistin Uzma Azimi. Sie hätten zwar einen Anspruch auf finanzielle Entschädigung durch die afghanische Regierung, doch das wüssten sie häufig nicht – und schon gar nicht, wie sie die staatlichen Zuschüsse beantragen können.
Und selbst wenn sie ihre Rechte kennen, verlieren sie aufgrund der konservativen Traditionen häufig ihre Entschädigungen. Der kulturelle Brauch in ländlichen Paschtun-Gemeinden sieht vor, dass eine Frau, die ihren Ehemann verliert, zunächst ein Jahr trauert und danach die Zweitfrau eines verheirateten Schwagers wird. Jegliches Erbe oder Kapital der Witwe gehört von nun an dem neuen Ehemann.
Die Traditionen zwingen Witwen auch in eine soziale Isolation, die vor allem für junge Frauen katastrophal sein kann. „Jugendliche Witwen verlieren nach dem Tod des Ehemannes all ihre Freiheiten, sie bieten ein trauriges Bild“, sagt Azimi. „Sie dürfen keine Hochzeiten besuchen, nicht laut sprechen oder Spaß haben. In der afghanischen Kultur ist es Witwen sogar verboten, bunte Kleidung und Schmuck zu tragen oder sich zu schminken.“
Azimi appelliert an die Regierung, Witwen gesetzlich vor den alten Traditionen zu schützen, damit sie nach dem Tod des Mannes nicht mehr ausgenutzt werden. Aber sie weiß auch, dass ein neues Gesetz allein nichts verändern wird – solange die Dorfältesten sich nicht dazu verpflichten, die Rechte der Witwen zu achten und zu schützen. „Die meisten Witwen in ländlichen Gebieten haben kaum Zugang zu Gerichten und glauben an traditionelle Rechtssysteme“, erzählt sie. „Die Ältesten sollten die Traditionen durch eine Loja Dschirga – eine traditionelle große Ratsversammlung in Afghanistan – reformieren.“ Azimi fordert die Regierung außerdem auf, Berufsmöglichkeiten für Witwen zu schaffen – schließlich hätten sie mit dem Verlust ihres Ehemannes nicht nur ihn, sondern auch die einzige Einnahmequelle verloren.
Fatima*, eine 18-jährige Mutter von zwei Kindern, ist seit einem Jahr Witwe. Ihr Mann wurde an ihrem zweiten Hochzeitstag durch eine Explosion in der Provinz Helmand getötet. Bevor der Immobilienhändler an diesem Tag zur Arbeit ging, feierte das Paar morgens seinen Jahrestag – in der Nacht kam er in einem Sarg zurück. Wie so vielen anderen jungen Witwen fällt es Fatima schwer, ihre Familie zu ernähren. Das liegt nicht zuletzt an den unnachgiebigen Vorstellungen ihrer Gemeinschaft, was Frauen dürfen, – selbst wenn sie die Einzigen in der Familie sind, die Geld verdienen können.
"Ich habe keine Hilfe von der Regierung erhalten, seitdem wir unseren Ernährer verloren haben. Es war sehr schwer für mich, die Rolle eines Familienoberhauptes zu übernehmen, da Witwen strengen kulturellen Vorschriften folgen müssen“, sagt sie. Zunächst hat sie versucht, bei einer Behörde Arbeit zu finden, doch ohne Ausbildung und Erfahrung wollte sie niemand einstellen. „Nun bettele ich auf der Straße und bitte Fremde um Hilfe, damit meine Kinder überleben.“
Von Hizbullah Khan. Der Beitrag ist im Original bei News Deeply erschienen.
Aus dem Englischen von Johanna Greuter.
* Die Namen der Protagonistinnen sind geändert.
Auch im Jemen sind viele Frauen gezwungen, ihre Familien allein zu ernähren, weil ihre Ehemänner ums Leben gekommen sind. Sie setzen sich erfolgreich gegen ein Tabu zur Wehr – und gehen arbeiten.
Jeden Morgen um sechs Uhr steht Mona Hasan auf. Sie geht in den Wald, um Feuerholz zu sammeln. Dann verkauft sie es auf dem nächstgelegenen Markt. Manchmal liefert sie auch Wasser aus und verdient damit ein wenig zusätzliches Geld. Die 40-Jährige lebt in Sabaran, 70 Kilometer von der jemenitischen Stadt Taiz entfernt, und muss allein für zwölf Familienmitglieder sorgen, darunter neun Kinder. Ihr Ehemann Saeed al-Zumeri wurde vor anderthalb Jahren auf dem Weg zur Arbeit im Bombenhagel getötet.
Damit verstößt Hasan gegen eine althergebrachte Überzeugung, die im Jemen vor allem auf dem Land auch heute noch gilt: Viele Familien halten es für unnütz, dass ihre Töchter die Schule besuchen. Sie sollen früh heiraten, den Haushalt machen und ihren Ehemännern dienen. Dass sie arbeiten und selbst Geld verdienen, ist verpönt. Doch Mona Hasan blieb nichts anderes übrig. Nach dem Tod ihres Mannes habe sie zunächst auf Hilfe gewartet, von den Behörden oder nichtstaatlichen Organisationen, erzählt sie: Lebensmittel und Medikamente für ihren Schwiegervater, der an Diabetes leidet. Doch die Unterstützung für ihre Familie, die in einem kleinen Haus mit drei Zimmern wohnt, blieb aus. „Ich stand vor einer schwierigen Entscheidung“, sagt Hasan. „Entweder konnte ich meine Familie verhungern sehen, oder ich konnte die Gesellschaft herausfordern und arbeiten.“
Mona Hasan wählte die Arbeit. „Viele Menschen kritisierten mich dafür, sie sagten, das sei eine Schande. Aber ich hörte nicht auf sie. Das Leid meiner Kinder zwang mich dazu“, erklärt sie. Hasan verdient etwa 1000 jemenitische Rial (3,25 Euro) am Tag. Damit kann sie die nötigsten Lebensmittel, die Arznei für ihren Schwiegervater und den Schulbesuch ihrer Kinder bezahlen – das ist ihr das Wichtigste. „Kleider und Luxus bedeuten mir nichts. Ich mache Arbeiten, die für Frauen nicht schicklich sind, damit meine Kinder lernen können.“
Hasan kann nicht lesen und schreiben. Sie besteht auf Bildung für ihre Kinder, damit sie später ein besseres Leben führen als ihre Eltern. Neben Kritik an ihrer Haltung erfährt sie auch Anerkennung und Sympathie. „Ich freue mich, wenn mich Leute fragen, ob ich mit ihnen zusammenarbeiten will. Arbeiten ist besser als betteln“, betont sie. Mona Hasan ist nicht die Einzige, die das Tabu gebrochen hat, als Frau in einer konservativen Gesellschaft arbeiten zu gehen. Tausende Frauen im Jemen teilen ihr Schicksal. Sie sind gezwungen, ihre Familien zu ernähren, weil die Ehemänner im Krieg getötet wurden.
Auch Kahiraea Salem hat ihren Mann im März 2016 verloren. Sie hat monatelang vergeblich auf Hilfe für sich, ihre Eltern und ihre beiden Kinder gewartet und schließlich beschlossen, ihr eigenes Geschäft zu gründen. Sie verkaufte ihren Schmuck und schaffte ein Fass an, das sie nutzt, um in ihrer Nachbarschaft sauberes Trinkwasser anzubieten, das sie zuvor selbst bei Tankwagen erworben hat. Außerdem verkauft sie Eis an die Kinder, die eine Schule in der Nähe ihres Hauses besuchen. „Nach dem Tod meines Mannes waren mir alle Türen verschlossen“, erzählt sie. „Deshalb habe ich mir eine Arbeit gesucht, mit der ich meine Familie unterhalten kann.“
Auf die Kritik ihrer Umgebung gibt Kahiraea Salem nichts, aber Lob und Ansporn hört sie gerne. „Ich bedanke mich bei allen, die mich ermutigen“, sagt sie. „Ich denke, es ist nicht problematisch, dass Frauen ihre Familien ernähren, wenn sie dazu in der Lage sind. Ich verdiene jetzt mehr als 1000 Rial am Tag und das ist genug, um meine Kinder und meine Eltern durchzubringen.“
Fadhl al-Thobhani, Soziologieprofessor an der Universität von Taiz, bestätigt, dass der Krieg Tausende Frauen in die Rolle der Ernährerin gezwungen hat. „Vor dem Krieg gab es viele Wohltäter, die sich um arme Menschen gekümmert haben“, sagt er. „Nun sind Millionen Menschen auf Hilfe angewiesen und nur noch wenige sind da, die sie unterstützen.“ Laut Schätzungen der Vereinten Nationen (UN) haben zwei Drittel der jemenitischen Bevölkerung zu wenig zu essen. Mehr als eine Million Schwangere sind laut UN mangelernährt, das erhöht das Risiko für Komplikationen bei der Geburt. Zudem steigt das Risiko, dass die Kinder sich verzögert entwickeln. Laut der Weltbank hat sich die Armutsquote im Land seit Beginn des Krieges auf 62 Prozent verdoppelt.
„Frauen werden vom Krieg und seinen Folgen am härtesten getroffen. Es ist niemand da, der ihnen hilft, und sie sind nicht an Arbeit gewöhnt“, meint al-Thobhani. Doch manche von ihnen hätten den harten Bedingungen getrotzt und ihr Elend in Erfolgsgeschichten verwandelt. „Unsere Traditionen verbieten, dass Frauen in bestimmten Bereichen arbeiten. Das ist schädlich, weil Frauen dazu sehr wohl in der Lage sind. Die Frauen, die diese Einschränkungen nun überwunden haben, werden auch nach dem Krieg weiter arbeiten.“ Dieser Tabubruch, so al-Thobhani, sei eine positive Auswirkung des blutigen Bürgerkrieges, der den Jemen seit mittlerweile drei Jahren erschüttert.
„Die Frauen tun ihr Bestes, um mit den Schwierigkeiten in ihrem Leben fertigzuwerden“, sagt die Aktivistin Jamila Abdulwareth. „Aber manche von ihnen verhungern mit ihren Kindern, weil sie sich nicht trauen zu arbeiten oder es nicht können.“ Die jemenitische Regierung und nichtstaatliche Hilfsorganisationen müssten diese Frauen stärker unterstützen, fordert Abdulwareth. Die Hilfe für Familien, in denen Ehemänner und Väter im Krieg gestorben sind, müsse Vorrang haben.
Mona Hasan ist stolz darauf, dass sie einen Sieg über die restriktiven Traditionen im Jemen errungen hat und ihre Familie ernähren kann. Doch sie hofft auch, dass der Staat und die Hilfsorganisationen vor allem Waisenkindern künftig mehr Hilfe zukommen lassen. Denn sie weiß: Nicht alle Opfer des Krieges sind in der Lage, ihrem Beispiel zu folgen.
Von Nasser al-Sakkaf.
Aus dem Englischen von Gesine Kauffmann.
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