Zurück in eine leere Stadt

Cecibel Romero

Nicht viel los: San Isidro in El Salvador.

El Salvador
US-Präsident Donald Trump will 200.000 Salvadorianer in ihre Heimat zurückschicken. Doch von dort machen sich jeden Tag junge Leute Richtung Norden auf den Weg – etwa aus dem Städtchen San Isidro.

Er ist gewissermaßen die Vorhut, einer von den vielen, die noch kommen sollen. Kevin Alejandro Flamenco hat vier Jahre in den USA gelebt und gearbeitet. Monat für Monat hat er seiner Mutter Geld geschickt, in guten Monaten 200, in schlechten nur 100 US-Dollar. Er hat sich in Los Angeles mit einer Frau zusammengetan, die ebenfalls aus El Salvador stammt. Er wurde Vater von zwei Kindern. Dann hat ihn seine  Partnerin nach einem Streit bei der Polizei angezeigt. Und weil er sich, wie Hunderttausende Salvadorianer, illegal in den USA aufhielt, wurde er schnell abgeschoben.

Jetzt ist der 21-Jährige zurück in San Isidro, einem 11.000-Einwohner-Städtchen eine gute Autostunde nordöstlich der Hauptstadt San Salvador. Weil es dort so gut wie keine formellen Arbeitsplätze gibt, hat der Ort eine der höchsten Auswanderungsraten des Landes. Fast jede Familie hat Verwandte in den Vereinigten Staaten. Nur dank deren regelmäßiger Überweisungen kommen die meisten über die Runden. Auch Flamencos Familie hat immer Geld aus dem Norden erhalten.

Als Erste ist seine Mutter gegangen. Damals war Kevin Alejandro gerade elf Jahre alt, ist beim Großvater geblieben und hat sich um die kleinen Geschwister gekümmert. „Ich habe ihnen das Essen gemacht und ihre Windeln gewechselt.“ Dann kam die Mutter zurück und schickte ihn nach Los Angeles. Jetzt ist niemand mehr aus der Familie in den USA, und es kommt kein Geld mehr von dort. Flamenco hilft nun seinem Großvater, der Korbsessel und -bänke repariert. Für einen mit frischem Geflecht ausgestatteten Sessel, an dem sie zu zweit einen ganzen Tag arbeiten, bekommen sie zwölf Dollar.

Gingen sie nicht freiwillig, würden sie deportiert

In diesem und im nächsten Jahr werden wohl sehr viel mehr Frauen und Männer genauso unfreiwillig zurückkehren wie Flamenco. Anfang des Jahres hat US-Präsident Donald Trump ankündigen lassen, dass 200.000 Salvadorianer, die derzeit mit einer vorübergehenden Aufenthaltsgenehmigung in den Vereinigten Staaten leben, bis zum September 2019 das Land verlassen müssen. Gingen sie nicht freiwillig, würden sie deportiert. Dann nämlich werde ein Programm auslaufen, das ihnen bislang einen „Temporary Protected Status“ (TPS), einen zeitweiligen Schutz vor Abschiebung, zugestanden hat.

Das TPS-Gesetz ist 1990 vom damaligen US-Präsidenten George Bush lanciert worden und beschert illegalen Einwanderern aus Ländern, die unter Bürgerkriegen oder Naturkatastrophen leiden, vorübergehend eine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis. Dieser Status kann für sechs, zwölf oder achtzehn Monate gewährt und beliebig oft verlängert werden. Als das Gesetz in Kraft trat, herrschte in El Salvador ein blutiger Bürgerkrieg; Salvadorianer waren unter den ersten, auf die es angewandt wurde. Anfang 1992 endete der Krieg mit einem Friedensvertrag, 1994 wurde das TPS-Programm für Migranten aus diesem Land aufgehoben. Es folgten Abschiebungen in großem Stil.

Seit März 2001 genießen illegale Migranten aus El Salvador erneut diesen Schutz. Der Grund: Im Januar und Februar jenes Jahres war das Land von einer Serie schwerer Erdbeben erschüttert worden. Mehr als tausend Menschen kamen ums Leben, Zehntausende wurden obdachlos. Heute argumentiert das US-Ministerium für Heimatschutz, dass „die Bedingungen, die durch die Erdbeben von 2001 verursacht wurden, nicht mehr existieren“. Das ist zwar richtig, war aber auch schon vor zehn Jahren der Fall. Dafür gibt es längst andere Gründe, aus diesem Land zu fliehen: Kriminelle Gewalt steht an erster Stelle.

Die große Abschiebungswelle aus den USA nach dem Ende des Bürgerkriegs hatte für El Salvador fatale Folgen. Unter den ersten, die damals deportiert wurden, waren Mitglieder von Jugendbanden, die Kinder der Bürgerkriegsflüchtlinge in den ärmeren Gegenden von Los Angeles gegründet hatten. Sie machten den dortigen Banden der Afroamerikaner im Drogenhandel Konkurrenz und fochten mit ihnen blutige Revierkämpfe aus. Die beiden großen salvadorianischen Bandenverbände – die Mara Salvatrucha und ihre Gegner von Barrio 18 – wurden beide in Los Angeles gegründet.

Ihre deportierten Mitglieder fanden schnell neue Anhänger in den zu Slums gewordenen Flüchtlingslagern der Heimat. Die Jugendlichen dort hatten in aller Regel keinen Schulabschluss, waren auf dem Arbeitsmarkt chancenlos und leicht für kriminelle Geschäfte zu gewinnen. Heute haben diese Banden in El Salvador mindestens 60.000 Mitglieder, erpressen flächendeckend Schutzgelder und sind jedes Jahr für Tausende von Morden verantwortlich. Besonders gefährdet sind Jugendliche. Widersetzen sie sich den Anwerbeversuchen der Banden, werden sie mindestens zusammengeschlagen, oft aber auch umgebracht.

Aufmerksam nur im Englischunterricht

„Die Jugendlichen hier sind immer die Opfer“, sagt der Lehrer Pedro Escobar. Entweder werden sie Beute der Maras, „oder sie werden von der Polizei bedrängt und manchmal auch verprügelt, weil die alle Jugendlichen für potenzielle Bandenmitglieder hält“. Allein im vergangenen Jahr seien zehn seiner Schüler in die USA gegangen. „Und fast alle anderen denken darüber nach.“ Es sei schwierig, junge Leute für den Schulstoff zu interessieren. Allenfalls im Englischunterricht seien sie aufmerksam, weil Kenntnisse in dieser Sprache in den USA nützlich sind. Sonst aber „versuchen sie, mit minimalem Aufwand ihren Abschluss zu machen und dann zu verschwinden“. Er kann es verstehen.

Jeden Tag fliehen durchschnittlich 250 Menschen aus El Salvador. Jeder dritte der insgesamt neun Millionen Salvadorianer lebt inzwischen im Ausland, mindestens zwei Millionen in den Vereinigten Staaten. Knapp fünf Milliarden US-Dollar haben sie im vergangenen Jahr an ihre Verwandten zu Hause überwiesen. Die Summe entspricht rund vier Fünfteln des Außenhandelsdefizits. Anders gesagt: Arbeitskraft ist das bei weitem wichtigste Exportprodukt des Landes. Im landesweiten Durchschnitt bekommt jeder fünfte Haushalt Überweisungen aus den USA, in San Isidro sind es fast alle.

Daysi Moreno ist die jüngste von vier Schwestern. Die anderen drei sind in die USA gegangen, alle illegal, die älteste schon 1993. „Ich durfte nicht gehen, weil meine Mutter nicht alleine hier bleiben wollte“, sagt die 38-Jährige. Ihr Ehemann lebt und arbeitet in den USA, er schickt jeden Monat 200 US-Dollar für seine Frau und die vier Söhne. Ihre Schwestern steuern weitere 50 Dollar für die Mutter bei. Um etwas dazuzuverdienen, backt Moreno am Abend vor ihrem Haus auf einer mit Gasfeuer erhitzten Eisenplatte Pupusas zum Verkauf: mit Bohnenmus, Käse oder Bauchspeck gefüllte Maisfladen, das billigste traditionelle Gericht El Salvadors. Ihre Mutter verkauft am Morgen aus einem Korb heraus Äpfel, Mangos und Gurken.

Arbeit gibt es in der Viehzucht

Für ihre Söhne – der älteste ist zwanzig, der jüngste elf – sieht Moreno keine Zukunft in San Isi­dro. Arbeit gibt es lediglich auf einer Schweinefarm und bei ein paar Viehzüchtern. Die hügelige Gegend rund um den Ort ist trocken und karg, der Anbau der traditionellen Grundnahrungsmittel Mais und Bohnen lohnt sich allenfalls für den Eigenbedarf. „Glaubst du, dass die Jungen Kühe melken wollen für vier Dollar am Tag?“, fragt Moreno und schüttelt den Kopf. Dazu kommt die Gefahr, die von Banden ausgeht. „Es gibt zu viel Gewalt hier“, sagt sie. Nein, wenn ihre Kinder eine Zukunft haben wollten, dann müssten sie weg.

Die letzte Boomzeit von San Isidro liegt bald 70 Jahre zurück. In den 1940er Jahren hatten Minengesellschaften aus den USA in den Hügeln rund um das Städtchen Gold entdeckt und gefördert. Die Minen waren nach einem Jahrzehnt erschöpft. Die Bergbaufirmen verschwanden wieder und die Bevölkerung blieb arbeitslos zurück. Viele gingen damals ins nahe Honduras, das viel spärlicher besiedelt ist als El Salvador. Dort gab es Land, das man bebauen konnte.

1969 zettelten die Militärs beider Länder einen Krieg an, der als Fußballkrieg in die Geschichte eingegangen ist, weil er nach einem Spiel der Nationalmannschaften ausbrach. Die Salvadorianer wurden aus Honduras vertrieben. Damals wanderten die ersten aus San Isidro auf der Suche nach Arbeit in die USA aus. Sie ließen sich in Los Angeles nieder und holten dann einen Verwandten nach dem anderen nach. Heute leben in der Stadt an der Westküste der USA fast 500.000 Salvadorianer, darunter die größte Diasporakolonie aus San Isidro. Eine weitere, aber deutlich kleinere Gemeinschaft ist auf der anderen Seite der USA in Miami entstanden.

Altersruhesitz nach einem harten Berufsleben in den USA

Das Geld dieser Verwandten im Norden hat San Isidro schmucker gemacht als manche andere Städtchen. Die meisten Straßen sind mit Natursteinen gepflastert, viele Gebäude frisch verputzt. Häuschen mit einem oder zwei Zimmern, Wänden aus einem Gemisch aus Lehm und Stroh und einem Dach aus Ziegeln, wie sie in den ländlichen Gegenden El Salvadors üblich sind, sind in San Isidro immer seltener zu sehen. Die neuen Häuser sind größer, aus Hohlblocks gebaut und haben oft ein zweites Stockwerk. Die verspielten Fassaden erinnern an Vorstadtsiedlungen im Süden von Kalifornien.

Viele dieser Häuser sind voll eingerichtet, aber verrammelt. Ihre Besitzer hatten sie als Altersruhesitz gedacht, nach einem harten Berufsleben in den USA. Doch die Auswanderer bekamen erst Kinder, dann Enkelkinder, um die sie sich als Großeltern kümmern müssen. Kaum jemand kehrte zurück. Nun, da mit dem Auslaufen des TPS-Programms Massenabschiebungen drohen, werden die Häuser vielleicht bald bewohnt sein.

Autorin

Cecibel Romero

ist freie Journalistin in San Salvador.
El Salvadors Außenminister Hugo Martínez will die verbleibenden Monate nutzen, um mit der US-Regierung zu verhandeln. Denn es könnte um sehr viel mehr Menschen gehen als um die 200.000, die noch den TPS-Schutz genießen. Dazu kommt ein nur schwer zu schätzender Teil ihrer ebenfalls rund 200.000 Kinder, die in den USA geboren sind, die dortige Staatsbürgerschaft besitzen und folglich bleiben dürfen. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen unter ihnen werden das wohl tun, kleine Kinder aber sicher mit ihren Eltern zurückkommen.

Der Außenminister wünscht sich „eine Gesetzgebung, die den Schritt von der bisherigen temporären zur dauerhaften Aufenthaltsgenehmigung vollzieht“. Das glatte Gegenteil also von dem, was Präsident Trump vorschwebt. Ob das zu verhandeln sein wird? Schon im vergangenen Jahr wurden 20.000 Salvadorianer aus den USA deportiert – fünf vollgepackte Flugzeuge jede Woche. Darunter waren mehr als 1200 Mitglieder von Jugendbanden. Im kommenden Jahr können es leicht zehnmal so viele werden.

Kevin Alejandro Flamenco will nicht lange bleiben. „Natürlich werde ich wieder gehen“, sagt er. Aber nicht mehr in die USA. Wegen stärkerer Grenzkontrollen sind die Preise der Schlepper gestiegen. Als sich Flamenco 2013 auf den Weg machte, musste seine Familie 6000 Dollar zusammenkratzen. Heute verlangen die Schlepperbanden 10.000 Dollar. Nun will Flamenco sein Abitur nachholen, nach Möglichkeit ein bisschen Geld verdienen „und dann mein Glück in Spanien versuchen“.

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erschienen in Ausgabe 3 / 2018: Kunst und Politik: Vom Atelier auf die Straße
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