Mehr als schmuckes Beiwerk

Kultur und Entwicklung
In Kunst, Musik und Theater setzen sich Menschen kreativ mit eigenen Lebensumständen auseinander. Wie stark das Gesellschaften voranbringen kann, wird in der Entwicklungspolitik noch immer nicht angemessen berücksichtigt.

Zum Beispiel Managua: Ein Mädchen aus einem Armenviertel der nicaraguanischen Hauptstadt trifft in einem Gemeindezentrum ein. Sie packt ihre Blockflöte aus. Gemeinsam mit anderen Kindern und einer Musikpädagogin wird sie eine Stunde lang musizieren. Sie darf ihren harten Alltag vergessen, sie darf spielen und wird zugleich gefordert. Sie erlebt Erfolge. Das Projekt Música en los Barrios schafft kreative Lerninseln. 25 Jahre Erfahrung zeigen, dass viele, die daran teilgenommen haben, mehr erreichen konnten als andere Kinder des Viertels.

Oder Kinshasa: In der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo ist das Kulturzentrum Espace Masolo eine Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche, die auf der Straße leben. Die Gründer, drei kongolesische Künstler, verbinden Sozialarbeit mit Musik, Tanz und Theater – auch hier sollen Zukunftsperspektiven erschlossen und Erfahrungen aus der Vergangenheit aufgearbeitet werden. Und nicht zuletzt ermöglicht das Zentrum Völkerverständigung: 2017 lud die Hamburger KinderKulturKarawane eine der kongolesischen Künstlergruppen zu Auftritten und Workshops nach Deutschland ein. 

In den palästinensischen Autonomiegebieten macht das Freedom Theatre Kinder und Jugendliche stark, damit sie eine friedliche Zukunft ihres Volkes mitgestalten können. Theaterpädagogik wird als Schlüssel angesehen, den jungen Leuten Umgangsweisen mit ihrem harten Alltag anzubieten. Und im Libanon bemüht sich eine Organisation zur Förderung der Künste im arabischen Raum, Al Mawred al Thaqafy, die Kulturpolitik in einzelnen Ländern fest zu verankern und die Professionalisierung von Künstlern zu fördern. Ergänzend unterhält Al Mawred unter anderem ein Schutzprogramm für bedrohte und verfolgte Künstler. Diese Beispiele haben zwei Dinge gemeinsam. Die Beteiligten können die Wirksamkeit und damit den großen Wert dieser Arbeit mit empirischen Belegen darstellen. Und weder die globale Entwicklungsagenda noch die Förderpraxis der Geber in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit werden diesem Wert gerecht.

Kunst spielt bei den SDGs keine große Rolle

2015 haben die Vereinten Nationen die Agenda 2030 verabschiedet. Die darin enthaltenen 17 Ziele für eine sozial, ökologisch und ökonomisch nachhaltige Entwicklung gelten als Richtschnur für alle Länder. Die tragen eine gemeinsame Verantwortung, Hunger, Armut und andere Missstände auf dieser Welt zu beseitigen. Wie bereits bei den vorangegangenen Millenniumsentwicklungszielen (MDG) legt jedoch auch dieser Katalog keinen gesonderten Akzent auf Kultur im weiteren und das Künstlerisch-Kreative im engeren Sinne.

Das ist verwunderlich, weil bei der UN-Bildungsorganisation Unesco bereits seit 1971 über den Zusammenhang von Kultur und Entwicklung diskutiert wird. Projektbeispiele wie oben zeigen, wie sinnvoll dieser Fokus ist. Der Aktionsplan „The Power of Culture“ von 1998 und die Unesco-Konvention zur kulturellen Vielfalt von 2005 stellen zudem heraus, wie wichtig kulturelle Ausdrucksformen für nachhaltige Entwicklung und kulturpolitische Konzepte für die Ziele der globalen Entwicklungsagenda sind. Zwar unterstreichen die UN in begleitenden Erklärungen zur Agenda 2030 die wichtige Rolle der Kultur, doch wurde dieses Feld entweder nicht als relevant genug erachtet, ein eigenständiger Schwerpunkt zu sein, oder es wurde ihr eine eher unbestimmte übergreifende Rolle zugewiesen. Gerade die Unesco-Konvention zur kulturellen Vielfalt gehört klar zu einer globalen Entwicklungsagenda. Sie enthält das Bekenntnis, dass der Schutz und die Förderung der kulturellen Vielfalt eine verpflichtende Aufgabe für jeden Staat darstellen. Die reichen Staaten im Norden versprechen zudem, den ärmeren und weniger erfahrenen Ländern des globalen Südens mit Hilfe von Außenkulturpolitik und Entwicklungspolitik zur Seite zu stehen.

Sowohl die Agenda 2030 als auch die Unesco-Konvention rechtfertigen sich erst, wenn sie zum Handeln und zur Verbindlichkeit führen. Beide bieten Spielräume, um sie individuell zu interpretieren, sonst hätte die Mehrheit der Staaten nicht dafür gewonnen werden können. Damit besteht allerdings das Risiko, dass Ziele unkonkret und klare Wirkungen nur schwer nachweisbar oder vergleichbar werden. Auch die politischen und wirtschaftlichen Interessen der Regierungen dürfen nicht außer Acht gelassen werden. Sie können sich der globalen Entwicklungsagenda entgegenstellen und deren Umsetzung erschweren.

Laut dieser Agenda geht es darum, die Lebensbedingungen weltweit zu verbessern, und zwar so, dass möglichst viele Menschen selbst dazu beitragen können, gesellschaftliche Missstände zu beseitigen. Im Mittelpunkt stehen „ownership“ und „empowerment“, also die Übernahme von Verantwortung und die Fähigkeit zur Beteiligung. Die Rolle von Kunst innerhalb dieses Gefüges hat im Wesentlichen zwei Aspekte: Einerseits ist sie ein Weg der Kommunikation, vielfach nonverbal, vielfach Grenzen und Barrieren überschreitend. Andererseits bedeutet die künstlerische Betätigung eine ästhetisch aufgeladene Aus­einandersetzung mit dem eigenen Leben und den Lebensumständen der Gesellschaft.

Gesellschaftlichen Wandel voranbringen

Kunst und künstlerische Betätigung sind nicht wertfrei. Religiös motivierte Missionsarbeit oder politische Propagandaarbeit zeigen, dass sie manchmal ausgerechnet dort unterstützt werden, wo sie den Zielen der globalen Entwicklungsagenda ent­gegenwirken können. Doch wenn Kunst sich zur Aufgabe macht, mündige, selbstständige, neugierige und kritische Menschen zu fördern, eröffnet sich ein Handlungsraum, der gesellschaftlichen Wandel voranbringen kann.

Es ist zwar schwierig, die Wirksamkeit solcher Ini­tiativen im globalen Süden wissenschaftlich und über den Einzelfall hinaus zu messen. Auch im reichen Europa lassen sich meist keine eindeutigen Wirkungen von künstlerischer Betätigung nachweisen. Daraus darf jedoch nicht geschlossen werden, solche Aktivitäten seien nur schönes Beiwerk, das bei Mangel an Ressourcen ohne schädliche Folgen für den Einzelnen oder die Gesellschaft einfach wegfallen kann.

Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit widmet sich der Kunst auf vielfache Weise – doch ein Arbeitsschwerpunkt ist sie nicht. In den vergangenen zehn Jahren war die Aufmerksamkeit der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit nur mäßig und hat in diesen Feldern keine sichtbare Position hervorgebracht, im Gegensatz etwa zu Schweden. Dort gibt es seit den 1980er Jahren einen umfangreich ausgestatteten Arbeitsbereich, der unter dem Titel des Schutzes und der Förderung der freien Meinungsäußerung und der Menschenrechte die künstlerischen und kulturellen Ausdrucksformen in den Partnerländern fördert.

Goethe-Institute haben lange nur die deutsche Kultur vermittelt

Die Vielfalt der Mitwirkenden in Deutschland erschwert den Überblick: Beteiligt sind im Rahmen der Entwicklungspolitik und der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik (AKBP) sowohl Bundesministerien als auch Länder und Kommunen sowie die Zivilgesellschaft inklusive der Kirchen. Weder das Entwicklungsministerium noch die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) verfolgen bei der Förderung von Kunst im globalen Süden eine klare Linie.

Am deutlichsten hat sich zuletzt das Goethe-Institut mit seinen rund 150 Niederlassungen in gut 85 Entwicklungsländern positioniert und mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes seine Aktivitäten ausgeweitet. Viele Jahrzehnte haben die Goethe-Institute lediglich die deutsche Kultur im Ausland vermittelt. Inzwischen bieten sie diverse Projekte und Programme, die helfen sollen, lokale Kultureinrichtungen zu fördern, etwa Theater oder Kulturzentren. Das ist der wichtigste Beitrag der Bundesregierung zur Integration von kulturpolitischen Ansätzen in die Kooperation mit dem globalen Süden nach der Unesco-Konvention von 2005.

Auch zivilgesellschaftliche Initiativen fördern Kultur im Rahmen von Entwicklungszusammenarbeit – so wie die eingangs vorgestellten Projekte Música en los Barrios und die KinderKulturKarawane. Die Kontinuität ihrer Arbeit wird jedoch ständig infrage gestellt, weil die finanzielle Unterstützung durch staatliche Geber zeitlich begrenzt ist und immer wieder beantragt werden muss. Private Spenden sind eine wichtige Grundlage für eine langfristige Arbeit.

Die Beteiligten und die Infrastruktur vor Ort müssen gestärkt werden, um einen nachhaltigen gesellschaftlichen Wandel voranzubringen. Dieses „capacity building“ würde den Nährboden schaffen für eine Motivation, die aus den Umständen vor Ort heraus entsteht. Heikel wird es, wenn ausländische Akteure mit Kulturprojekten an Orten aktiv werden, an denen bisher nichts aus lokaler Motivation heraus passiert ist. Denn anschließend stellt sich unweigerlich die Frage nach einer möglichen Übergabe an lokale Partner. Bei Música en los Barrios ist das geglückt, doch funktioniert es nicht, gehen Errungenschaften möglicherweise verloren. Auch besteht die Gefahr, dass die Menschen vor Ort bevormundet werden.

Autor

Daniel Gad

ist Geschäftsführer des Unesco-Lehrstuhls Cultural Policy for the Arts in Development am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim. Er lehrt und forscht zu künstlerischem Schaffen in gesellschaftlichen und politischen Transformationsprozessen.
Im Groben gilt weiter die Devise: Wenn Kunstprojekte in der Entwicklungszusammenarbeit zugleich die Gleichstellung der Geschlechter oder Verbesserungen bei Gesundheit und Umwelt anstreben, werden sie in der Regel gefördert. Geht es jedoch allein um Kunst ohne Bezug zu etwa sozialen Missständen, gibt es in den seltensten Fällen Geld. Der überwiegende Teil der Projekte von Kunst und künstlerischer Bestätigung im globalen Süden wird aus den reichen Industrieländern finanziert. Das bietet die Chance, dass dafür überhaupt Geld zur Verfügung steht und Initiativen angestoßen werden können. Doch aus Sicht der nachhaltigen Entwicklung wirft diese Förderpraxis Fragen im Blick auf den langfristigen Aufbau von Strukturen auf. Denn es kann dazu führen, dass in Entwicklungsländern keine Strukturen für Kunst und Kultur geschaffen werden, die sich selbst tragen und die aus dem jeweils eigenen kulturellen Kontext heraus gedacht sind.

In Deutschland ist die Förderung der Künste und der kulturellen Bildung fest in der Innenpolitik verankert. Das beruht auf einem Bildungsverständnis, das mehrdimensional gedacht und nicht allein auf die Schullaufbahn beschränkt ist. Die Bundesregierung wendet dafür 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes auf; das mag wenig erscheinen, doch steht für die gesamte staatliche Entwicklungszusammenarbeit gerade einmal der doppelte Anteil davon zur Verfügung. Aus der deutschen Praxis der Kulturförderung lässt sich eigentlich nur ableiten, dass Kunst und Kultur für die nationale Entwicklung von großer Relevanz sind – unabhängig davon, ob sich ihre Wirkung präzise messen lässt. Umso schwerer nachzuvollziehen ist die Zurückhaltung der Bundesregierung, Kultur besser in die Außen- und Entwicklungspolitik zu integrieren.

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erschienen in Ausgabe 3 / 2018: Kunst und Politik: Vom Atelier auf die Straße
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