Speiseöl statt Kokain

Sacha Inche
Ein ehemaliger kolum­bianischer Guerillero glaubt, eine Ersatzpflanze für Koka­sträucher gefunden zu haben: Sacha Inche ist genauso rentabel und noch dazu gesund.

Piamonte ist die Stadt des Verbotenen. Die 11.000 Einwohner zählende Gemeinde liegt in der Provinz Caquetá im hügeligen Südwesten Kolumbiens, am Rand des Urwalds von Amazonien. Länger als zwei Jahrzehnte haben Aufständische der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Farc) die Gegend kontrolliert. Bis vor etwas mehr als einem Jahr war hier nicht der Staat, sondern die Guerilla die Ordnungsmacht, und das hat den Ort von einem kleinen Weiler mit einem halben Dutzend Holzhäusern zur Kleinstadt wachsen lassen.

Hier ist alles möglich. In Piamonte werden illegal geschlagene tropische Stämme zu Brettern gesägt und zu Möbeln verarbeitet. In den Läden kann man mit Gold bezahlen, das in den illegalen Minen der Umgebung meist mit massivem Einsatz von Dynamit und Quecksilber geschürft wurde. Das Hauptgeschäft aber ist Koka und seine Verarbeitung zu Kokain. In Piamonte besitzt jeder Bauer mindestens einen Hektar mit Kokasträuchern. Fast jeder.

Cedulfo Rodríguez war lange Guerillakämpfer, und er nimmt den Friedensvertrag ernst, den die Regierung Kolumbiens Ende November 2016 mit der Farc unterzeichnet hat. Das Abkommen sieht vor,  dass Kokabauern freiwillig von dem verbotenen Strauch auf legale Pflanzungen umsatteln sollen, der Staat will dafür Übergangshilfen leisten. Rodríguez ist davon überzeugt, dass er die ideale Ersatzpflanze gefunden hat: Sacha Inche, eine Pflanze aus der Familie der Wolfsmilchgewächse mit dem wissenschaftlichen Namen Plukenetia volubilis.

Rodríguez hat Sacha Inche in seinen Jahren als Rebell im Dschungel des Amazonasbeckens kennengelernt. Die Indígenas dort bauen die sonst weitgehend unbekannte Pflanze seit Jahrhunderten an. In der wissenschaftlichen Literatur wurde sie zum ersten Mal 1980 erwähnt. Damals war Sacha Inche an der Universität Cornell in den USA analysiert worden, und die Wissenschaftler entdeckten Erstaunliches: Die dunkelbraunen, ovalen Samen mit Durchmessern zwischen 1,5 und zwei Zentimetern enthielten 49 Prozent Öl, 33 Prozent Proteine, jede Menge Fettsäuren vom Typ Omega drei, sechs und neun, einen hohen Jodanteil, Aminosäuren, die Vitamine A und E und Cholesterolblocker. Inzwischen wurden sogar Samen mit einem Ölanteil von bis zu 54 Prozent gefunden.

Kalt gepresst ergeben sie ein gelbliches bis zartgrünes Speiseöl, das nach frischen Blättern riecht. Sein nussiger, leicht fruchtiger Geschmack ist dezent und macht es vielseitig verwendbar. Und es ist gesünder als alle anderen Öle aus Oliven, Sonnenblumenkernen, Soja, Mais, Raps, Palmfrüchten oder Erdnüssen. Ferner kann Sacha-Inche-Öl in der Kosmetik- und der Pharmaindustrie verwendet werden, für belebende Gesichtsöle etwa oder in Desinfektionsmitteln für Wunden.

Zudem verspricht das Öl einen guten Verdienst. „Für ein Kilo der Frucht werden derzeit 4000 Pesos bezahlt“, sagt Rodríguez, umgerechnet 1,10 Euro. Auf einer Pflanzung von einem Hektar könne man drei Tonnen im Jahr ernten. „Sacha Inche ist so rentabel wie Koka.“ Bislang waren alle Konversionsprogramme gescheitert, weil jeder Ersatz für Koka deutlich weniger Geld einbrachte. Oder weil die Früchte verdarben, bevor sie verkauft werden konnten. Im Hinterland von Kolumbien gibt es außer Menschen, Pferden und Booten so gut wie keine Transportmittel. Bananen und andere Früchte verfaulen auf dem Weg zum nächsten Markt.

Sacha Inche aber ist haltbar. Die Pflanze rankt bis zu zwei Metern hoch, sie liebt heiße Temperaturen und feuchte Böden, ist also geradezu ideal für das Amazonasgebiet. Ihre Früchte sind zunächst rund und grün, wenn sie reifen, werden sie dunkelbraun bis schwarz und trocknen aus. Nun sieht die Frucht aus wie großer Sternanis: rund fünf Zentimeter Durchmesser und vier bis sieben Samenkammern. Sie kann ohne Qualitätseinbußen monatelang gelagert werden. Sieben Monate braucht eine Pflanze von der Saat bis zur ersten Ernte. Danach kann ständig geerntet werden: Sacha Inche blüht und bildet gleichzeitig Früchte aus.

Rodríguez baut auf knapp zwei Hektar Sancha Inche an und wirbt bei anderen Bauern für die Verbreitung. Er verschenkt Samen an alle, die versprechen, es damit ebenfalls zu versuchen. Jetzt, im Frieden, fühlt er sich als ehemaliger Guerillero verantwortlich dafür, dass auch die Bauern in seinem Städtchen langsam aus der Illegalität herauskommen. 50 Familien habe er schon gewonnen, sagt er. Rund um Piamonte gebe es derzeit 38 Hektar solcher Pflanzungen. In einem Schuppen hinter seinem Haus lagern ein paar Säcke mit Früchten, im Hinterhaus soll eine  Verarbeitungsanlage entstehen. Zunächst müssen die Samen mit einer Maschine aus den Kammern gelöst werden, danach kommen sie in die Presse, und schließlich wird das Öl in Flaschen abgefüllt. „Der ausgepresste Rest eignet sich sehr gut als Viehfutter“, sagt Rodríguez.

Noch hat Rodríguez keine Maschinen, die Investition würde seine Möglichkeiten weit übersteigen. Die Verarbeitung wird eine Firma für Biolebensmittel aus der Hauptstadt Bogotá übernehmen, die das meiste Öl nach Spanien exportieren will. Der Inhaber kannte Sacha Inche und ist davon überzeugt, dass sich die Investition in eine Presse und Abfüllanlage mittelfristig rentieren wird, auch wenn sie zunächst nicht ausgelastet sein wird. Er wird die kleine Fabrik betreiben, die Bauern von Piamonte liefern den Rohstoff. „Wir haben einen langfristigen Abnahmevertrag mit festen Preisen, als Sicherheit für die Bauern“, sagt Rodríguez. Die geplante Anlage habe eine Kapazität für Sacha Inche von 500 Hektar. Rodríguez muss also noch viele überzeugen – denn die meisten Bauern stellen eher vorsichtig auf die neue Pflanze um und behalten zunächst noch mindestens ein Kokafeld.

Autor

Toni Keppeler

ist freier Journalist und berichtet für mehrere deutschsprachige Zeitungen und Magazine aus Lateinamerika.
José gehört zu diesen Skeptikern. Seine Hütte liegt eine gute Stunde Fußmarsch von Piamonte entfernt. Sein Nachname soll nicht genannt werden; was José tut, ist illegal. Er besitzt 1,5 Hektar mit Kokasträuchern und produziert Kokain in einem eigenen Labor. „Ich mache zwei Kilo alle zwei Monate“, sagt er. Reich wird er damit nicht. Der Händler in Piamonte bezahlt ihm 1,7 Millionen Pesos pro Kilo. Nach Abzug seiner Investitionen bleiben ihm, seiner Frau und den drei Kindern etwa die Hälfte – umgerechnet knapp 240 Euro, sein durchschnittlicher Monatsverdienst. Das große Geld stecken die Händler ein. José gefällt nicht, was er tut. „Es ist nicht schön, wenn man sich dauernd verstecken muss“, sagt er. Von Sacha Inche hat er schon gehört. Er lässt sich eine Handvoll Samen geben und verspricht, sie einzupflanzen. Aber gleich einen ganzen Hektar anlegen, das gehe nicht, dafür fehle ihm das Geld.

„Das größte Problem sind die Anfangsinvestitionen“, weiß auch Cedulfo Rodríguez. Das Säubern des Geländes, die Pfosten und die Drähte, an denen die Pflanze ranken soll, schnell sind 15 bis 18 Millionen Pesos zusammen – so viel, wie José in zwei Jahren verdient. „Danach wächst Sacha Inche von selbst.“ Die Pflanze brauche kaum Pflege und keinen Dünger. „Man muss nur noch ernten.“ Doch einen Hek­tar mit Koka zu bestellen, kostet nur fünf Millionen Pesos. Ohne staatliche Übergangshilfen wird Sacha Inche kaum zum nennenswerten Ersatz für die verbotenen Sträucher werden. Und die Programme, die im Friedensvertrag zwischen der Regierung und der Farc vorgesehen sind, sind in den meisten Gegenden noch nicht angelaufen.

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erschienen in Ausgabe 2 / 2018: Diaspora: Zu Hause in zwei Ländern
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