Wie Rebellen mit Recht gewinnen

Justiz
Aufständische Gruppen wie die Taliban in Afghanistan bieten Gerichtsverfahren an, die als fair und gerecht gelten. Sie sind die wichtigste Waffe, um ihren Machtanspruch durchzusetzen.

Als Anwalt, der mit alltäglichen Problemen gewöhnlicher Leute zu tun hat, entwickelt man ein Gespür für die entscheidende Bedeutung des Rechts und der Beilegung von Streitigkeiten. Ob es um Eigentum geht, um den Ausgleich für einen Schaden oder um Strafsachen: Eine funktionierende Gesellschaft braucht geeignete, funktionierende Schlichtungssysteme. Darüber hinaus hält in fast allen Gesellschaften das Recht auch die Regierung zusammen. Denn was ist sie anderes als die Autorität, die Gesetze erlässt und ihnen Geltung verschafft?

2007 und 2008 habe ich in der afghanischen Provinz Helmand sechs Monate als „Rechtsberater“ im Rahmen der britischen Militärmission gearbeitet. Meine Mission war – ich zitiere einen hohen britischen Regierungsbeamten –, „den Menschen von Helmand einen besseren Deal zu verschaffen“. Schnell wurde mir klar, dass das eine ziemlich knifflige Aufgabe werden würde. Das völlig dysfunktionale Justiz- und Regierungssystem von Afghanistan war für Aufständische geradezu eine Einladung, die „Regierungslücke“ zu füllen.

Das korrupte, diskreditierte Justizsystem befeuerte die Aufstandsbewegung, die der Regierung in Schlüsselbereichen die Legitimität streitig macht. Legitimität ist laut gängigen Theorien der Aufstandsbekämpfung ein entscheidender Bestandteil eines Aufstands. Dass man das Recht beanspruchen kann, in Streitfällen zu entscheiden, und dass dies akzeptiert wird – das ist der eigentliche Ausdruck des Rechts zu regieren, der Legitimität. Ist sie einmal verloren gegangen, wie es in Afghanistan zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Fall war, dann ist es schwer, sie wiederzugewinnen.

Größere Aufstände werden angetrieben von Ungerechtigkeit, Korruption und einem Gefühl der Illegitimität – und nicht, wie oft angenommen wird, vom Wunsch nach freien und fairen Wahlen. Bei den meisten Menschen stehen Wahlen auf der Prioritätenliste ziemlich weit unten. Ihnen ist wichtig, zu wissen: Falls ein Streit auftritt, zum Beispiel mit dem Nachbarn über den Verlauf der Grundstücksgrenze oder mit jemand anderem über den Diebstahl eines Fernsehers, dann wird er angemessen beigelegt. Davon kann schlimmstenfalls die eigene Existenz abhängen. Wenn keine qualifizierten Gerichte oder, im Fall von Stammesgesellschaften, Streitschlichtungsstellen zur Verfügung stehen, dann werden Aufständische sie gerne anbieten. Damit können sie nicht nur ihre eigene Macht festigen, sondern auch die des Staates untergraben.

Korruption, Ineffizienz und allgemeine Unfähigkeit

In relativ sicheren westlichen Gesellschaften gelten Normen, die von den meisten begriffen werden. Dort geht man gewöhnlich davon aus, dass Gerichte als Schlichter der letzten Instanz ordnungsgemäß arbeiten. Das gilt jedoch nicht für Länder, in denen es Aufstände gibt, oder auch für die vielen Staaten, in denen die Legitimität der Machthaber umstritten ist. Da gelten Gerichte vielleicht als formal legal, aber nicht als legitim. So betrachten fast alle Menschen in Afghanistan mit Ausnahme der Taliban die offiziellen Gerichte zwar als legal; schließlich beruhen sie auf einer sorgfältig erarbeiteten, international anerkannten Verfassung. Doch aufgrund von Korruption, Ineffizienz und allgemeiner Unfähigkeit können die staatlichen Gerichte keine Legitimität als Mittel der Streitbeilegung beanspruchen.

Die Justiz ist doppelt gefährlich in der Hand einer einheimischen Rebellenorganisation, die mit Informationen umzugehen weiß. Die Taliban sind dafür nur ein Beispiel. Erstens dienen ihre funktionierenden Streitbeilegungssysteme dazu, die von korrupten Staaten unterhaltenen, dysfunktionalen und oft schlicht kriminellen Justizsysteme zu untergraben. Das greift die Legitimität des Staates selbst an. Zweitens ist für Aufständische von ebenso großer Bedeutung: Wenn sie Streit wirksam beilegen, untermauern sie damit ihren Anspruch auf  Legitimität und auf die Macht.

Erfolgreiche Rebellen verstehen instinktiv viel besser als die meisten westlichen Militärs, dass der preußische Militär und Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz recht hatte: Krieg ist ein politischer Akt. Aufständische mögen nach militärischem Erfolg streben, aber er ist ein verzichtbarer Bestandteil ihrer Offensive. Natürlich können Rebellen nicht hoffen, Macht auszuüben, wenn sie militärisch vernichtet werden – nicht zuletzt, weil sie dann auch jede Fähigkeit verlieren, ihre Autorität durchzusetzen. Die tamilischen „Befreiungstiger“ in Sri Lanka betrieben ein hervorragendes System der Rebellenjustiz, das jedoch zusammen mit ihrem militärischen Arm im Mai 2009 zerstört wurde.

Solange Rebellen eine komplette militärische Niederlage vermeiden, ist jedoch die Schlüsselfrage, ob sie an politischer Macht gewinnen. Und nirgendwo kommt wahre Macht praktischer zum Ausdruck als in der Fähigkeit, über Streitigkeiten zu entscheiden und die Entscheidungen durchzusetzen. Mit jedem Streitfall, den Aufständische schlichten, höhlen sie die Legitimität des Staates aus, dessen Ablösung sie anstreben. Die afghanischen Taliban beherrschen das ausgesprochen gut. Als ich 2007 in Helmand stationiert wurde, betrieben sie dort bereits eine anscheinend durchaus angesehene Gerichtsbarkeit. Mir wurde schon sehr früh vermittelt, dass sie sich zehn Jahre zuvor auf der Grundlage eines Manifests für Gerechtigkeit gegründet hatten und dass sie diesen Ruf aufrechterhalten wollten. Regelmäßig erhielt ich Berichte, was unsere Konkurrenten bei den Taliban taten, um Streitigkeiten beizulegen. 

Die Empfindung von Fairness ist entscheidend

In einem Fall war ein Mann in der Nähe von Garmsir im Süden der Provinz im Verlauf einer Auseinandersetzung um Land getötet worden. Landstreitigkeiten waren und sind ein Hauptauslöser von Konflikten in Afghanistan. Der Schuldige wurde von der Polizei verhaftet und bekam eine kurze Gefängnisstrafe von sechs Monaten. Die Familie des Opfers war damit nicht zufrieden. Als der Mann entlassen wurde, brachten sie den Fall vor das Taliban-Gericht in Garmsir. Vier Richter verhandelten den Fall in Anwesenheit des Beschuldigten. Sie urteilten, dass der Bruder des Opfers die Möglichkeit erhalten sollte, den Mörder zu töten. Das tat er und äußerte sich sehr zufrieden mit dem Ausgang. Nach gängiger Auffassung entsprach das Urteil nicht nur dem islamischen Recht, der Scharia, sondern auch Stammesbrauch.

Das war keineswegs ein Sonderfall. Wie verschiedene wissenschaftliche Studien gezeigt haben, ist in jeder Art Rechtsprechung die Empfindung von Fairness im Verfahren ein entscheidender Faktor, ob das Urteil akzeptiert wird. Genau diese Empfindung haben die Taliban im genannten Fall gefördert – und in Tausend ähnlichen, in denen es meist um weitaus banalere Dinge als Mord ging. Als Folge davon gelten sie nun in großen Teilen Süd- und Ostafghanistans als die legitimierten Schlichter und somit als De-facto-Regierung.

Erheblich gefördert wird dieses Image durch die in Afghanistan weitverbreitete Ansicht, dass Urteile von Taliban-Gerichten nicht nur weitgehend transparent, sondern auch kostengünstig und schnell zustande kommen. Sie gelten also als richtig und fair. Keine dieser Qualitäten wird staatlichen Gerichten in Afghanistan zugeschrieben. Und: Wer vor einem Taliban-Gericht steht, kann ziemlich sicher sein, dass dessen Urteile auch durchgesetzt werden.

Dasselbe Muster ist im Bürgerkrieg in Syrien zu beobachten. Ein Alleinstellungsmerkmal islamistischer Rebellengruppen war die Art ihrer Rechtsprechung. Das war nirgends deutlicher als im Fall des Islamischen Staates (IS), der jüngst militärisch besiegt worden ist. Kommentatoren betonen einmütig, dass der IS großes Gewicht auf seine Fähigkeit legte, seinen Machtanspruch durchzusetzen und soziale Leistungen bereitzustellen. Nicht zuletzt behauptete er, ein weitaus besseres Rechtssystem zu bieten als das vorher existierende: das des chronisch korrupten syrischen Staates.

Die wenigsen IS-Richter galten als korrupt

Nun war die Scharia-Auslegung des IS laut den meisten islamischen Gelehrten und erst recht nach allen anderen Maßstäben falsch und brutal. Aber die wenigsen IS-Richter galten als korrupt. Im Allgemeinen, und das ist entscheidend, waren ihre Urteilssprüche nicht käuflich. Verständlicherweise wurde dieser Aspekt der IS-Herrschaft in den westlichen Medien kaum gesehen. Genau diese Eigenschaften haben aber zum Erfolg der afghanischen Taliban beigetragen. Ob es Kommentatoren im Westen gefällt oder nicht: Der IS und andere Islamistengruppen in Syrien bieten so wie die Taliban einen weitaus besseren Handel an als die Regierungen, die sie ablösen wollen.

Westliche Kommentatoren können leicht das Rechtswesen von Rebellen und hier besonders das islamische Recht als extremistisch abtun. In Fällen wie dem IS haben sie damit sicher recht. Aber man darf nicht vergessen, dass die meisten Entscheidungen, die Richter des IS, der Taliban oder anderer islamistischer Gruppen gefällt haben, weder zu Hinrichtungen noch zu Stockschlägen geführt haben. Es dürfte dabei um die gleichen banalen Streitigkeiten gehen, wie sie jeden Tag in deutschen oder britischen Gerichtssälen verhandelt werden. Und dabei hatten oder – im Fall der Taliban – haben diese Richter den Ruf, eine bessere Alternative anzubieten als die abstoßenden Dienstleistungen der staatlichen Justiz.

Richtig ist auch, dass diese recht extremen Ausprägungen des Islamischen Rechts neu sind. Aus den gesamten 600 Jahren des Osmanischen Reiches, in denen regelmäßig das islamische Recht angewandt wurde, ist nur ein einziger Fall überliefert, in dem ein Mensch zu Tode gesteinigt wurde. Die Scharia war keineswegs ein System rigoroser Disziplin aus der Wüste, sondern, wie der britische Jurist Kadri Sadakat in seinem Buch „Heaven and Earth. A Journey through Shari‘a Law“ betont, über Jahrhunderte der Maßstab für Richtig und Falsch.

In vielen Teilen der Welt gilt das islamische Recht nach wie vor als realistische, moderate und gerechte Art, Streitigkeiten beizulegen. Die Lehre der Scharia wird als verlässlicher Rahmen empfunden. Im besten Fall bietet er klare, verfahrenstechnisch saubere Rechtslösungen, deren Legitimität, weil gottgewollt, über jeden Zweifel erhaben ist. Millionen verständiger Menschen in der ganzen islamischen Welt sind sehr zufrieden mit diesen Verfahren, an denen übrigens von Anfang an auch Richterinnen beteiligt waren.

Das gibt einen Hinweis daruf, wie man Rebellen wirksam entgegentreten kann, die Streitschlichtung und Gerichtsbarkeit als Waffe einsetzen. Milliarden von Euro sind in Konfliktgebieten auf der gesamten Welt in Initiativen für mehr Rechtsstaatlichkeit geflossen. Die meisten haben ein westliches Paradigma von Justiz und Polizei propagiert. Und fast alle sind gescheitert.

Autor

Frank Ledwidge

ist Jurist und hat in verschiedenen Ländern an der Reform des Sicherheitssektors und der Justiz mitgearbeitet. Er lehrt an der Universität Portsmouth, Großbritannien. Im vergangenen Jahr ist sein Buch „Rebel Law: Insurgents, Courts and Justice in Modern Conflict“ erschienen.
Damit ein Rechtssystem als legitim akzeptiert wird, muss es als fair empfunden werden. Außerdem muss es mit der Kultur jener Gesellschaft leben, der es dient. Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen, ist es doch eine Tatsache: In vielen Gesellschaften funktioniert ein Rechtssystem nach westlichem Muster, das auf Vorstellungen von der Herrschaft der Gesetze beruht, vielleicht nicht so gut wie ein System auf der Grundlage stammesrechtlicher oder religiöser Autorität. So ist etwa Xeer, das auf dem Clan-System basierende Gewohnheitsrecht,  in der somalischen Kultur am Horn von Afrika ein hochentwickeltes und allgemein anerkanntes In­stru­­ment der Streitbeilegung. Das Gleiche gilt für das Paschtunwali in großen Teilen Afghanistans.

Müssen wir deshalb Kompromisse bei den Menschenrechten machen? Nein. Es besteht kein Grund, warum ein funktionierendes Rechtssystem mit internationalen Standards unvereinbar sein sollte. Alle Rechtssysteme können sich entwickeln und anpassen, auch stammes- und gewohnheitsrechtliche. Schließlich war vor noch gar nicht so langer Zeit das englische „Common Law“ faktisch und ausdrücklich ein Gewohnheitsrecht. Klar ist: Wie immer das jeweilige Rechtssystem aussieht, es muss unter allen Umständen fairen Verfahren folgen und unbestechlich sein und es muss auch diesen Ruf genießen. Nur so können die Rechtssysteme von Rebellen außer Kraft gesetzt werden.

Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller

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erschienen in Ausgabe 2 / 2018: Diaspora: Zu Hause in zwei Ländern
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