Erhebungen im Boden weisen den Weg: Pedro Waldo mit seinem Labrador Reno im ersten Park von Mexiko-Stadt, dessen Gestaltung Rücksicht nimmt auf Menschen mit Behinderungen.
Du nimmst die gelbe U-Bahn-Linie, steigst im Instituto de Petróleo um und fährst dann fünf Stationen weiter mit der roten Linie bis Tezozomoc.“ Die Anweisung, wie ich zu unserem Treffpunkt in der mexikanischen Hauptstadt komme, ist klar und präzise. Und ein wenig überraschend, denn mein Gesprächspartner ist blind. Doch wer nicht sehen kann, muss das anderweitig wettmachen – mit einem guten Gedächtnis zum Beispiel. Aber nicht alles ist zu kompensieren, und bei vielen Dingen brauchen Menschen mit Behinderungen ein wenig Unterstützung. Ihre Bedürfnisse in die Stadtplanung einzubeziehen ist neu in Lateinamerika. Ausgerechnet die chaotische Millionenmetropole Mexiko-Stadt will mit gutem Beispiel vorangehen. Und Pedro Waldo hilft den Behörden dabei.
Waldo ist ein schlanker Mittfünfziger mit schütterem Haar. Seine vom Grünen Star erblindeten Augen versteckt er hinter einer dunklen Sonnenbrille. Die U-Bahn, die zum ersten behindertengerechten Park der Hauptstadt fährt, ist nicht brechend voll, aber alle Sitzplätze sind belegt – auch der, der für Behinderte, Schwangere und Gebrechliche reserviert ist. „Hier kannst du sehen, wie wenig der Respekt für Schwächere in unserer Gesellschaft ausgeprägt ist“, sagt Waldo so laut, dass die Frau auf dem Sitzplatz beschämt aufsteht. Das sei nicht immer so, schon gar nicht zu den Stoßzeiten, wenn er zur Arbeit fahre, fügt Waldo hinzu. „Manchmal spotten die Leute dann, ich tue nur so, als sei ich blind, um mir Vorteile zu erschleichen.“
Solcher Spott wirft ein schales Licht auf die zerrüttete Großstadt-Gesellschaft, in der mit harten Bandagen und allen Tricks gekämpft wird. Denn so mancher Bettler ist nicht so todkrank, wie sein leidvoller Blick und die schäbigen Röntgenbilder vorgaukeln, mit denen er herumwedelt. Den wirklich Hilfebedürftigen wie Waldo fügen diese Schwindler großen Schaden zu. Knapp 500.000 der 8,8 Millionen Einwohner von Mexiko-Stadt haben laut dem städtischen Institut für die Integration Behinderter (Indepedi) eine Behinderung. Und bis vor kurzem waren sie im öffentlichen Leben weitgehend unsichtbar.
Fahrpläne gibt es hier keine
„Das liegt daran, dass sie in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, und der öffentliche Nahverkehr ihnen bislang mehr Probleme bereitete als nützte“, sagt Jennifer Miranda von der Abteilung für einen barrierefreien öffentlichen Raum des Indepedi. Waldo hat schlimme Erinnerungen an die Minibusse, die einfach irgendwo am Straßenrand Passagiere ein- und aussteigen ließen, nur selten an roten Ampeln bremsten und störende Fußgänger laut hupend von der Fahrbahn trieben. Einmal stolperte er halb aus dem Bus und wurde fast noch überfahren – begleitet von einer Beschimpfung des Fahrers.
Fahrpläne gibt es in Mexiko-Stadt keine; die Fahrer müssen ihre Route so schnell wie möglich absolvieren, um so viel Geld wie möglich für sich und den Eigentümer des Busses herauszuholen. Unterwegs an der Strecke sind „Einpeitscher“ stationiert, die entweder zur Eile antreiben oder bremsen, wenn der vorhergehende Bus erst vor wenigen Minuten passierte. „Wir Behinderte stören ihren Rhythmus“, sagt Waldo. Der 52-Jährige hat in seinem Leben schon viele erniedrigende Erfahrungen gemacht. Er war das zweite von neun Kindern einer armen Familie, die alle Hände voll zu tun hatte, die vielen Münder zu stopfen. Extra Aufmerksamkeit, Arztbesuche und Therapie waren nicht drin – obwohl alle merkten, dass er nicht gut sah.
„Die Kinder in der Nachbarschaft machten sich lustig, weil ich so tollpatschig war. Aber irgendwann gehörte ich einfach so dazu, wie ich war“, erinnert sich Waldo. Er sah damals noch Schatten und Umrisse, in seinem gewohnten Umfeld kam er zurecht. Die Probleme begannen in der Grundschule. „Ich sah die Tafel nicht richtig, und konnte die Buchstaben nicht lesen.“ Der Lehrer hatte keine Geduld mit dem Jungen, der den Lernfortschritt der anderen bremste. Waldo schaffte den Grundschulabschluss nicht, und musste in den Geschäften seines Viertels Hilfsarbeiten erledigen, fegen, putzen, Regale einräumen, Kartons falten. Lesen und Schreiben lernte er erst mit 18 auf der Abendschule bei einem Lehrer, der sich die Zeit nahm und ihm die Buchstaben auf große Schilder schrieb. Gerade noch rechtzeitig, bevor er sein Augenlicht endgültig verlor.
Waldo verfiel in eine Depression, wurde in ein staatliches Hospital eingeliefert, brauchte psychologische Unterstützung. Zu dieser Zeit fingen Menschen mit Behinderungen in der mexikanischen Hauptstadt an, sich zu organisieren. Das war Waldos Rettung. In der politischen Aktion fand er einen neuen Sinn. Zusammen mit anderen organisierte er Demonstrationen, Ausflüge, Petitionen an den Staat. Im Jahr 2000 wurde auf ihr Betreiben hin das erste Handbuch für eine behindertengerechte Stadt herausgegeben. „Doch das waren Absichtserklärungen, denen wenig Taten folgten“, erinnert sich Waldo. Erst als die Vereinten Nationen 2006 die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verabschiedeten, kam Bewegung in die Sache. Mexiko ratifizierte die Konvention 2008 –und wurde fortan regelmäßig von den UN kontrolliert. „Da mussten die Politiker natürlich etwas vorweisen“, sagt Waldo und schmunzelt.
Eines der Vorzeigeprojekte ist der „Taschenpark Tezozomoc“. Er wurde vor drei Jahren eingeweiht und ist der erste, der nach den behindertengerechten Baurichtlinien der Hauptstadt gestaltet wurde. Die Richtlinien wurden 2010 in das Stadtplanungsgesetz aufgenommen. Zielstrebig führt Waldos Blindenhund Reno sein Herrchen zur Plakette, auf der in Braille-Schrift der Plan des Parks erklärt wird. Waldo lässt seine Finger über die erhöhten Punkte gleiten und spricht leise nach: „Skatepark, Spielplatz, Bänke.“ An diesem Samstagvormittag sind zahlreiche Kinder aus der Nachbarschaft mit Rädern und Rollerblades im Park unterwegs; ein kräftiger Mann führt seine Hunde spazieren, ein Liebespärchen sitzt auf einer Bank unter Bäumen, ein Vater beaufsichtigt seinen Sohn beim Rutschen.
Diskutiert, wie der Park aussehen sollte
„Früher war hier ein übles Eck”, berichtet Waldo. Die Architektin Janett Jimenez pflichtet ihm bei: „Es war ein unbebautes Areal, auf dem Drogenabhängige und Taschendiebe herumlungerten. Keiner aus der Nachbarschaft traute sich hierher.“ Jimenez war für die Planung des Parks zuständig, und hat zwischen der Stadtverwaltung, den privaten Bauunternehmen, den Nachbarn und den Menschen mit Behinderungen vermittelt. In gemeinsamen Sitzungen wurde diskutiert, wie der Park aussehen sollte, was sinnvoll war, was nicht. So entstand die klare Dreiteilung: Für Gehbehinderte gibt es Rampen mit einem Geländer, für Blinde taktile Leitstreifen auf dem Boden, die ihnen die Richtung weisen, und Informationstafeln in Braille.
Wer das nicht weiß, dem fällt es nicht weiter auf. Trotzdem mache all das den öffentlichen Raum für alle sichererer und übersichtlicher, meint Jimenez. Das gelte auch für die neuen Schnellbuslinien, die auf sechs Hauptverkehrsstrecken die Minibusse ersetzen. Sie haben einen Fahrplan und klar gekennzeichnete, erhöhte Haltestellen. Das sei auch im Blick auf die demografische Entwicklung wichtig, sagt Jennifer Miranda von Indepedi. Denn die Zahl der alten Menschen wächst, und sie könnten sich in einer barrierefreien Stadt besser bewegen.
Für die Stadtplaner und Architekten waren die neuen Vorschriften zunächst schwierig. Manche der Rampen für Gehbehinderte, die etwa vor Ämtern und Museen errichtet wurden, waren zu steil, andere zu rutschig. Der Lernprozess erforderte große Investitionen. Nicht alle Bürgermeister schenkten dem Anliegen Beachtung – erst der derzeitige Hauptstadtchef, Miguel Angel Mancera, machte die Inklusion zu seiner politischen Sache. Seit seiner Wahl 2012 gibt er jährlich umgerechnet rund drei Millionen Euro aus, um die Stadt behindertengerechter zu gestalten. Die neueste Errungenschaft ist ein behindertengerechtes Schwimmbad; derzeit wird die „Glorieta de Insurgentes“, einer der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte, behindertengerecht umgebaut. Doch es bleibt viel zu tun, wie der Besuch im Tezozomoc-Park vor Augen führt: Die dortige Metrostation hat noch keine Leitlinien und weder eine Rampe noch einen Aufzug.
Autorin
Sandra Weiss
ist Politologin und freie Journalistin in Mexiko-Stadt. Sie berichtet für deutschsprachige Zeitungen und Rundfunksender aus Lateinamerika.Waldo ist gemeinsam mit 300 anderen Blinden und Sehbehinderten in einem Projekt der Stadtverwaltung beschäftigt. Sie erlaubt ihnen, an Ständen in den Metrostationen Getränke, Süßigkeiten und Snacks zu verkaufen. Es ist ein Privileg, denn anderen fliegenden Händlern ist dies strikt untersagt. Für Waldo sind die umgerechnet zehn Euro Gewinn am Tag ein wichtiger Beitrag zu seiner finanziellen Unabhängigkeit. Zusätzlich erhält er 35 Euro monatlich von der Stadtverwaltung, eine Unterstützung, die jeder behinderte Mensch in Mexiko-Stadt beantragen kann.
Viel Trubel herrscht in Metrostation, in der Waldo verkauft. Menschen hetzen vorbei, einige schauen neugierig herüber, vielen fällt gar nicht auf, dass er und seine Kollegen blind sind. Mit Preisen ausgezeichnet sind ihre Waren nicht, so müssen die Kunden immer erst fragen, was denn der Kaugummi oder der Müsliriegel kostet – „ein kleiner Trick“, erklärt Waldo und grinst. Das Geld, das ihm die Kunden reichen, erkennt er an der Größe – auch das ist eine Errungenschaft der Behindertenorganisationen. „Als die Zentralbank vor ein paar Jahren neue Scheine gestaltete, zogen sie uns zur Rate“, erzählt Waldo. „Zuerst wollten sie kleine Erhöhungen auf den Scheinen einbauen, aber das war technisch schwierig, und wir befürchteten, dass die sich mit der Zeit abwetzen. Also haben wir vorgeschlagen, die Scheine, genau wie die Münzen, unterschiedlich groß zu machen.“
Trotz aller Schwierigkeiten: Mexiko-Stadt kann als Vorreiter gelten. „Wenn ich unterwegs bin, merke ich, wie weit die Hauptstadt schon ist im Vergleich zu anderen Städten“, bestätigt Waldo. Nur wenige weitere Metropolen wie Guadalajara, Monterrey oder Puebla haben mit der Umgestaltung des öffentlichen Raums begonnen, alle holen sich Anregungen aus Mexiko-Stadt. Und Waldo, der einst verspottete blinde Junge, ist ein viel gefragter Experte. „Ich bin nicht mehr unsichtbar, sondern helfe mit, unsere Städte behindertengerechter zu gestalten“, sagt er. „Für diese Aufgabe bin ich sehr dankbar.”
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