Anstöße von einem Querdenker

Richard Thaler
An perfekte Märkte glaubt Richard Thaler nicht. Der Träger des Wirtschafts-Nobelpreises 2017 richtet den Blick darauf, wie normale Menschen mit Geld und Werten umgehen. Sein Denken hat die Entwicklungsarbeit stark beeinflusst.

2017 geht der Wirtschaftsnobelpreis an die Entwicklungszusammenarbeit. Ach – Sie wussten nicht, dass der Ökonom Richard Thaler in der Entwicklungszusammenarbeit unterwegs war? Für die spielen seine Ideen heute eine große Rolle – und dort sollten die Ideen und Konzepte „seines“ Arbeitsfeldes, der Verhaltensökonomik, ebenso wie sein Beispiel eine noch größere Rolle spielen.

Richard Thaler ist einer der Wegbereiter der Verhaltensökonomik. Dieses Feld gab es nicht, als er seine Karriere in den 1970er Jahren begann. Damals waren zunehmend mathematisch formalisierte Modelle über rationale Käufer und Verkäufer auf dem Vormarsch. Es war die Zeit, in der sich die Finanzökonomik als theoretisches und empirisches Feld etablierte. Sie behauptet, dass sich an den Finanzmärkten immer die beste Entscheidung durchsetzt (Efficient Market Hypothesis). Bekanntlich übersetzten die Regierungen Reagan in den USA und Thatcher in Großbritannien in den 1980er- und 1990er-Jahren diese Denkgebäude in die Wirtschaftspolitik von Reagonomics und Thatcherismus. Deren entwicklungspolitische Entsprechung war der Washington Consensus, der angebotsorientierte Reformen im Süden vorantrieb.

Obskure Außenseiterthemen

Diesen Zustand seiner Profession fand Richard Thaler dermaßen langweilig, dass er fast seine Karriere als Ökonom hingeschmissen hätte, bevor sie überhaupt begann. Stattdessen blieb er dabei und arbeitete an obskuren Außenseiterthemen: Schnittflächen zwischen Ökonomie und Psychologie – etwa an dem seltsamen Zustand, dass die Finanzökonomik Ergebnisse von Entscheidungen, aber nicht Verhalten untersuchte. Thaler hatte das Glück, in den 1980er Jahren eng mit Daniel Kahneman und Amos Tversky zu arbeiten. In dieser Zeit wurden die Grundlagen der heute weithin anerkannten Theorien über systematische Verhaltensfehler gelegt, für welche der Psychologe Kahneman 2002 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet wurde (Tversky war 1996 verstorben).

Thaler hat mehrere verhaltensökonomische Theoreme begründet, welche heute eine große Rolle in der Entwicklungszusammenarbeit spielen. Eines ist Mental Accounting. Es bedeutet, dass Menschen nicht ihr gesamtes Vermögen oder ihre gesamten Einnahmen (unter Berücksichtigung der erzielbaren Zinsen) als eine Einheit betrachten, welche sie auf die bestmöglichen Verwendungen aufteilen. Sondern sie haben im Geiste verschiedene Schachteln oder Schubladen, deren Inhalte bestimmten Zielen oder Aufgaben zugeordnet sind. Das ist nicht rational, weil es zum Beispiel bedeutet, dass Menschen einen teuren Kredit aufnehmen, um etwa ein Motorrad zu finanzieren, während sie gleichzeitig Geld in einer Sparbüchse haben, das noch nicht einmal Zinsen einbringt. Aber diese Sparbüchse ist für die Bezahlung von Schulgebühren gedacht.

Ein anderes Theorem ist beschränkte Selbstdisziplin: Der besagte Kredit hat den zusätzlichen Vorteil, dass der Kreditgeber, zum Beispiel ein Mikrofinanzinstitut, mit Nachdruck auf der pünktlichen Zahlung der Kreditraten besteht. Wenn man sich selbst nicht zutraut, das Geld für ein Motorrad über längere Zeit anzusparen, so traut man sich doch zu, diese Zahlungen mit dem „Nudge“ (Anstoß) von diesem Institut zu leisten. Das wird noch wichtiger, wenn man keinen Ort hat, wo man seine Ersparnisse „sicher genug vor sich selbst“ aufbewahren kann. In dieser Lage ist die Mehrheit der Menschen in ländlichen Gebieten des globalen Südens. Und auch wenn sie sich selbst disziplinieren können, sind die sozialen Netzwerke ländlicher Gemeinschaften sehr eng geknüpft und Ansprüche, sein Geld mit Verwandten oder Nachbarn zu teilen, sind schwer zu vermeiden. Da ist der glaubhafte Verweis auf das Kreditinstitut, das einem im Nacken sitzt, sehr nützlich.

Auswirkungen auf Mikrofinanz-Programme

Wirtschaftswissenschaftler aus der Schule der „Randomistas“ haben Mental Accounting und beschränkte Selbstdisziplin, die verhaltensökonomischen Konzepte Thalers, in den oben umrissenen Beispielen nachgewiesen. „Randomistas“ werden Forscher wie Esther Duflo, Dean Karlan und ihre Mitstreiterinnen genannt, weil sie ihre empirischen Aussagen ausschließlich auf Experimente mit zufällig ausgewählten Teilnehmenden in Test- und Kontrollgruppe stützen wollen, sogenannte „Randomized Control-Trials“.

Der Nachweis, dass Thaler richtig liegt, hat praktische Auswirkungen auf die Entwicklungszusammenarbeit. So betonen Mikrofinanz-Programme zunehmend Sparprodukte, mit denen die Sparerin sich selbst beschränkt oder zumindest die Nachbarn in dem Glauben lässt, ihr Zugriff auf das eigene Geld sei beschränkt. Andere Beispiele sind, dass explizit formulierte und vielleicht sogar aufgemalte Sparziele das Sparen unterstützen oder regelmäßige SMS an die Sparraten erinnern.

Ein anderes weithin anerkanntes Beispiel ist, dass es Kleinbauern viel leichter fällt, genug in Kunstdünger zu investieren, wenn sie die Zahlung dafür schon zur Erntezeit leisten – dann, wenn sie relativ flüssig sind. Das hat selbst Angus Deaton hervorgehoben, ein weiterer Wirtschaftsnobelpreisträger, der der Methode der Randomistas ansonsten kritisch gegenübersteht. Wie immer man diese Methode bewertet: Die Randomistas haben die Mission von Thaler vorangetrieben, die eingefahrene Kontroverse zwischen den Lagern der angebotsorientierten und der nachfrageorientierten Wirtschaftswissenschaft und, damit verbunden, zwischen „der Markt macht’s“ und „die Regierung macht’s“ aufzubrechen.

Niemals aufgeben!

All diese Erkenntnisse waren für die klassische Ökonomie viele Jahrzehnte blinde Flecken, obwohl sie dem Laien ziemlich offensichtlich vorkommen. Aber Ökonomen gingen eben davon aus, dass alle Leute ständig völlig rational handeln. Sie kaufen Dünger, wenn der Ertrag (unter Berücksichtigung der Zinsen) die Kosten übersteigt, ganz gleich, wie ihr Kontostand gerade ist. Kenneth Arrow spottete einmal, dass ein Ökonom viele Monate damit zubringe, ein Problem systematisch zu lösen, dann aber annehme, dass jeder diese Lösung unmittelbar erkennen könne.

Was wir Praktiker der Entwicklungszusammenarbeit von Richard Thaler auch lernen können, ist, dass man nicht aufgeben sollte – weder sich selbst noch sein Berufsfeld. Das bedeutet, dass wir für die Dinge kämpfen müssen, die wir für richtig erkannt haben, auch wenn wir manchmal an unserem Umfeld verzweifeln könnten: daran, wie Projekte gemacht, durchgehalten und abgebrochen werden, wie Prioritäten gesetzt werden, wie wirkungslose Vorhaben wiederholt werden.

Wie andere Felder auch hat die Entwicklungszusammenarbeit Licht- und Schattenseiten. Die „Entscheidungs-Architektur“ zu verbessern, wie es Richard Thaler und Cass Sunstein in ihrem Buch „Nudge“ nennen, bleibt auch hier eine beständige Aufgabe. Immerhin nimmt niemand in der Entwicklungszusammenarbeit an, dass alle immer rational handeln. Und das tut die Volkswirtschaftslehre dank Richard Thaler und seiner Mitstreiterinnen und Mitstreiter nun auch nicht mehr.

Bücher von Richard Thaler:
Richard H. Thaler, Misbehaving – the making of behavioural economics, New York 2015.
Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein, Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt, Ullstein Taschenbuchverlag, Berlin 2010.

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