Mehr als 700.000 Menschen sind seit dem Sturz des libyschen Machthabers Muammar Gaddafi im Jahr 2011 über das Mittelmehr nach Italien gekommen. Laut Schätzungen verloren rund 15.000 von ihnen das Leben. Und die meisten Migranten und Flüchtlinge machten sich dabei von Libyen aus auf den Weg.
Schon vorher, mindestens seit der Jahrhundertwende, war Libyen eine Art Durchgangszone für Afrikaner, die in den Norden wollten. Doch seit dem Zusammenbruch des libyschen Staates 2011 eskalierte die Situation: Die Zahl der Menschen, die an der libyschen Küste in ein Boot stiegen, stieg von Spitzenwerten um 40.000 pro Jahr vor der Revolution auf einen Jahresdurchschnitt von fast 170.000 zwischen 2014 und 2016, der auch in diesem Jahr wahrscheinlich erreicht wird. Die Ausbeutung und Misshandlung von Migranten in Libyen nahmen ähnlich dramatisch zu. Was sie heute darüber erzählen, ist zwar vergleichbar mit Berichten vor zehn Jahren – doch haben die Größenordnung der Schikanen und das Ausmaß an Straffreiheit eine nie gekannte Dimension erreicht.
Der Zusammenbruch des libyschen Staates hat dazu geführt, dass sich Menschenschmuggel und Menschenhandel im Inneren des Landes ausgebreitet haben. Ferner haben sich grenzüberschreitende Netzwerke gebildet, die das Geschäft im Vergleich zu früher zu einem gut vernetzten, erfolgreichen Industriezweig gemacht haben. Die Geschichte über die Entwicklung des Menschenschmuggels in Libyen während der vergangenen sechs Jahre eröffnet zugleich eine neue Sicht auf die umfassendere Krise, in der sich das Land befindet.
Die häufigste Erklärung dafür, dass die Zahl der Menschen, die Libyen durchqueren, seit der Revolution signifikant gestiegen ist, verweist auf Ereignisse entlang eines 150 Kilometer langen Streifens der Westküste. Dazu zählt insbesondere die Entscheidung Italiens, die Suche nach Flüchtlingen und ihre Rettung in Richtung Libyen auszuweiten. Auch Hilfsorganisationen tragen dazu bei. Italien hatte im November 2013 nach den Tragödien von Lampedusa, bei denen mehr als 360 Asylsuchende ertrunken waren, die Operation Mare Nostrum gestartet. Dahinter stand die Einschätzung, dass die Boote, die Schleuser mit Migranten vollstopften, für die 200 Seemeilen lange Überfahrt bis zur europäischen Küste schlicht nicht konstruiert waren. Deshalb erhielten europäische Schiffe den Auftrag, Flüchtlinge aus einem Gebiet unmittelbar vor libyschen Hoheitsgewässern, das heißt zwölf bis 20 Seemeilen vor der Küste Libyens, zu retten.
Nach Ansicht europäischer Sicherheitsbehörden machte dieser Schritt die Überfahrt leichter und billiger und wirkte folglich als „pull factor“. Genau diese Erklärung zieht Italien nun bei seinem Versuch heran, einen neuen Verhaltenskodex einzuführen, der die Arbeit der Hilfsorganisationen bei der Rettung von Flüchtlingen vor Libyen regulieren soll – manche würden sagen: einschränken.
Nun steht außer Frage, dass die Seenotrettung den Schleusern das Leben erleichtert hat. Die Logistik ist weniger kompliziert, und die Kosten für Schleuser an der Küste sind gesunken. Ein junger Schleuser aus der Küstenstadt Zuwara sagte mir im vergangenen Jahr, er habe nur deshalb die Bande, für die er bis dahin gearbeitet hatte, verlassen und ein eigenes Geschäft gegründet, weil das Schleusen einfacher geworden war.
Dennoch war insbesondere der Anstieg der Flüchtlingszahlen seit 2013 das Ergebnis eines viel tiefer gehenden Wandels in der Schmuggelindustrie in ganz Libyen. Die bedeutendste Veränderung gleich nach der Revolution war die Liberalisierung des Schmugglermarkts. Bis dahin hatten sich Schleuser in Libyen nur betätigen können, wenn sie vom Regime geduldet wurden. Vor allem in den Küstenregionen wurde der Zugang zu diesem Geschäft – von dem die Schlepperei nur einen kleinen Teil darstellte – als Kontrollinstrument benutzt: Familien oder Stämmen, die im Einklang mit dem Regime standen, wurde Zugang gewährt, den anderen nicht.
Mit dem Zusammenbruch des Regimes verschwand auch die zentralisierte Kontrolle. Der Markt wurde um 2012/2013 auch für Geschäftsneulinge attraktiv. Gleichzeitig nutzten die erfahreneren Kriminellen die neu gewonnene Freiheit, um zu expandieren und sich besser zu vernetzen. Das Gaddafi-Regime und sein Geheimdienst hatten ihr Augenmerk darauf gerichtet, die Größe und Leistungsfähigkeit von Schlepperbanden und die Zahl der Familien und Stämme, die von deren Tätigkeit profitierten, zu begrenzen. Sie zerstörten interregionale und grenzüberschreitende Kontakte, sobald sie ermittelt worden waren. Sie zerschlugen Schmugglerringe, die an verschiedenen Teilen einer bestimmten Route operierten, und überwachten informelle Finanztransaktionen.
Mit dem Wegfall dieser Einschränkungen bot sich den Großen der Schleuser-Branche nach 2011 die Gelegenheit, effizientere Netzwerke sowohl im Land als auch über seine Grenzen hinweg zu knüpfen. Zum ersten Mal bekamen Flüchtlinge nun Komplettpakete angeboten. Es begann mit Syrern, die 2013 aus Istanbul nach Libyen kamen. Schließlich boten eritreische Schleusernetzwerke auch Pakete „gegen Vorauskasse“ an. Flüchtlinge aus dem Sudan können heute davon ausgehen, dass sie für die gesamte Strecke von Khartum bis zur Rettungszone vor Libyen 5000 US-Dollar zahlen – eine Reise, zu der die Koordinierung mehrerer Schleuserbanden über eine Strecke von mehr als 3000 Kilometern gehört. Es mehren sich die Anzeichen, dass sich diese Praxis auch auf westafrikanische Netzwerke ausdehnt.
Vor der Revolution nutzten Flüchtlinge und Migranten auf ihrem Weg durch Libyen verschiedene Schleusernetzwerke und mussten an jedem Knotenpunkt neue Vorkehrungen für die Weiterreise treffen. Für viele gilt das nach wie vor, aber immer mehr Menschen werden von koordinierten Organisationen geschleust, die weitgehend als ein einziges kriminelles Unternehmen handeln. Paradoxerweise vollzog sich diese Konsolidierung der Branche, während das Land zunehmend zerfiel und sowohl für Migranten als auch für Libyer immer schwieriger zu durchqueren war.
Ende 2012 kam zudem eine weitere neue Dynamik in Gang: Die Schlepperei wurde zusehends von Milizen beherrscht, die inzwischen einen großen Teil von Libyen kontrollieren. Ein Jahr nach der Revolution war der politische Prozess in Libyen bereits ins Stocken geraten. Die Entwaffnung von Kämpfern wurde von innen wie von außen untergraben. Auf der einen pumpten Staaten – zum Beispiel Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate, um nur zwei zu nennen – Geld in Milizen, die ihre eigenen Interessen förderten. Auf der anderen Seite waren im Land selbst wichtige politische Makler eifrig bemüht, ihnen ergebene Milizen zu legalisieren und auf die staatliche Gehaltsliste zu bekommen.
Das löste eine Art Wettstreit aus. Besonders in den Grenzregionen wurden Milizen weiter ermunterte, sich alle verfügbaren Mittel zunutze zu machen. Vielen bot die Schlepperei eine günstige und üppig sprudelnde Finanzquelle. Anfangs verdienten sie mit klassischer Schutzgelderpressung, bei der Schlepper dafür bezahlen mussten, dass sie von bestimmten Straßen oder Stränden aus operieren durften. Seit ein paar Jahren sind Milizen aber selbst in das Schleusergeschäft eingestiegen oder schließen sich mit erfahrenen Schleppern zu schlagkräftigen kriminellen Einheiten zusammen.
Normale Bürgerinnen und Bürger wollen mit den Milizen wenig zu tun haben. Doch auch viele, die deren Herrschaft ablehnen, sehen sie als notwendiges Übel an. Angesichts der chaotischen politischen Verhältnisse suchen viele Bürger Zuflucht in lokalen Systemen – dem Stamm, der Stadt, dem Viertel. Oft gilt das mit der Schlepperei verdiente Geld als einzige Möglichkeit, die Kosten für Sold, Unterhalt und Ausrüstung von bewaffneten Gruppen zu finanzieren, die in diesen Formen von Gemeinschaft die grundlegenden staatlichen Funktionen erfüllen.
Das führt zur gesellschaftlichen Akzeptanz, wenn nicht sogar offenen Legitimierung von kriminellen Geschäften. Ein junger Libyer, der für den Sicherheitsdienst in seiner Stadt arbeitete, drückte das Dilemma im Juni 2016 so aus: „Wenn Sie sich in einem Raum voller Menschen befänden, die ihre Waffe aufeinander richten – würden Sie da Ihre Waffe abgeben, wenn Sie wüssten, dass sie mit Blut finanziert wurde?“
Dieser Prozess hat die Liberalisierung des Marktes wieder umgekehrt. Die früher vom Regime ausgeübte Kontrolle ist auf die unzähligen Milizen übergegangen, die jetzt Libyens Landkarte sprenkeln. Doch obwohl die Schlepper einen Teil ihrer Freiheit eingebüßt haben, hat die Militarisierung der Industrie ihre Möglichkeiten erweitert – vor allem wenn sie erfahren und gut vernetzt sind.
In ganz Libyen betreiben Schleuser inzwischen große Lagerhäuser, in denen sie die Migranten festhalten, während sie die Logistik für die Weiterreise koordinieren. Die Einrichtungen liegen tendenziell näher an städtischen Gebieten; somit können Flüchtlinge schneller transportiert werden. In bestimmten Gegenden können Schlepper sogar asphaltierte Straßen statt der langsameren Wüstenpfade benutzen.
Autor
Mark Micallef
ist investigativer Journalist und arbeitet unter anderem für die Global Initiative Against Transnational Organised Crime.Ein Blick auf die Küstenstadt Zuwara zeigt jedoch, dass es Hoffnung gibt. Historisch war Zuwara der wichtigste Knotenpunkt, von dem die meisten Flüchtlinge nach Europa aufbrachen. Doch nach Massenprotesten der einheimischen Bevölkerung gegen die „Vampire“, wie die Schlepper genannt wurden, kam deren Tätigkeit ab August 2015 plötzlich innerhalb kurzer Zeit zum Erliegen.
Auslöser für die Proteste waren drei Bootsunglücke, bei denen vor der Küste der Stadt rund 650 Menschen ums Leben kamen. Es war das größte Unglück in libyschen Gewässern in dem Jahr. Von 450 Menschen an Bord eines der Boote überlebten nur 197, und viele der Leichen, darunter auch die von mehreren kleinen Kindern, wurden an die Strände von Zuwara geschwemmt. Libyens Alan-Kurdi-Tragödie ereignete sich eine Woche, bevor das Bild des toten syrisch-kurdischen Jungen an einem türkischen Strand die Welt schockierte.
Noch am Tag des Unglücks verhaftete die Polizei von Zuwara die verantwortlichen Schlepper und postete deren Fotos mit Bildern ihrer Opfer in der Hand auf Facebook. Zwischen September und Dezember wurden weitere rund 60 Personen verhaftet, die mit der Schlepperei in Verbindung gebracht wurden. Die Stadt schloss ihre Reihen, um den Menschenschmuggel aus der örtlichen Wirtschaft zu verbannen.
Die Verdächtigen wurden vor ein Ad-hoc-Gericht gestellt und die für schuldig Befundenen mit Geldstrafen von 25.000 libyschen Dinar (damals etwa 6000 Euro) und sechs Monaten Gefängnis belegt. Einem Außenstehenden mag das als milde Strafe erscheinen. Doch eine solche Aktion, bei der eine Gemeinschaft ihre eigenen Leute derart sanktioniert, ist in Libyen praktisch ohne Beispiel, ganz sicher im Zusammenhang mit Schlepperei. Dass sich Zuwara gegen die Menschenschmuggler gestellt hat, ist eine der Erfolgsgeschichten des gesellschaftlichen Widerstandes gegen die Kriminalität in Libyen, die gerne übersehen werden.
Die Motive der Bevölkerung und der Stadtverwaltung waren vielfältig. Doch das Hauptmotiv lag in der wachsenden Sorge der mehrheitlich berberischen Einwohner, die Schlepperei in der Stadt würde die Gemeinschaft als Ganze stigmatisieren. Das Geschäft hatte nicht nur seine Rechtfertigung verloren, sondern war zu einer Bedrohung für die Gesellschaft geworden.
Von dem Beispiel sollte die Staatengemeinschaft lernen. In Libyen sind illegale Migranten zur Ware geworden, die man in den im Land tobenden Machtkämpfen ausbeuten kann. Eine Strategie gegen den Menschenschmuggel muss das einbeziehen und lokale Gemeinschaften einbinden, um sie von den Erlösen aus der Schlepperei unabhängig zu machen und so den Kreislauf, in dem Flüchtlinge zur Ware werden, zu durchbrechen. Das ist ein mittel- bis langfristiges Ziel, das wahrscheinlich in keinem europäischen Land in die politischen Entscheidungsprozesse passt. Doch schnelle Lösungen suchen wird nicht funktionieren – erst recht nicht in der politischen Sackgasse, in der Libyen derzeit steckt.
Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller.
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