Starkes Stigma

Psychische Krankheiten in Indien
Die Organisation Anjali will in Indien mit Vorurteilen gegenüber psychischen Krankheiten aufräumen. Ein neues Gesetz könnte nun helfen.

Die Existenz psychiatrischer Krankenhäuser in Indien geht auf die britischen Kolonialherren zurück. Die Psychiatrie in Großbritannien hat ihre Entwicklung beeinflusst, und die Kliniken waren vor allem für die in Indien stationierten europäischen Soldaten gedacht. Zuvor kümmerten sich traditionelle Heiler um die als „abnormal“ geltenden Kranken. Solche Praktiken existieren bis heute in vielen Regionen des Landes. Sie halten sich vor allem aufgrund der gesellschaftlichen  Stigmatisierung, die viele Betroffene davon abhält, professionelle Hilfe zu suchen. Die Stigmatisierung psychisch Kranker wurzelt in dem klassischen Bild, dass sie ihren Familienpflichten nicht mehr nachkommen können.

Die Familien psychisch Kranker sind eng in die Pflege eingebunden und entscheiden häufig, welche Form der Hilfe gesucht oder welche Behandlung gewählt wird. Sie übernehmen viele Rollen, die in reichen Ländern von Gesundheits- und Pflegepersonal übernommen werden. Die Pflege und die Stigmatisierung belasten Familien auf vielfältige Weise. Das gesellschaftliche Stigma zwingt Betroffene zudem häufig, ihre Krankheit zu verschweigen, und macht es schwer, sie überhaupt zu akzeptieren.

Die finanziellen Mittel für psychische Gesundheit sind knapp und deshalb sind staatliche Psychiatrien in einem schrecklichen Zustand. Die meisten sind in alten und verfallenen Gebäuden untergebracht. Plätze in geschlossenen Abteilungen sind knapp, die Patienten werden nur unzureichend mit Wasser und Nahrungsmitteln versorgt. In einer der Kliniken, in denen die Menschenrechtsorganisation Anjali arbeitet, bekommen Patienten, die sich über die Behandlung beschweren, zur Strafe entweder eine zu hohe Dosis Medikamente oder zu wenig Essen. Die meisten Krankenhäuser sind unterbesetzt, sie haben zu wenig Ärzte, Krankenschwestern und Klinikpersonal.

Wenn die Psychiatrie zur "Heimat" wird

Die geschlossenen Stationen beschränken das Grundrecht der Patienten auf Freiheit. Einige werden gegen ihren Willen in die Psychiatrien eingewiesen und behandelt. Die Einweisung erfordert lediglich ein medizinisches Gutachten von zwei Ärzten, darunter ein Psychiater, das bescheinigt, dass die Person psychisch krank ist. Dieses Gutachten kann von einem Familienmitglied oder einem Freund einem Gericht vorgelegt werden.

Mita Das (Namen geändert) ist genau das geschehen: Sie wurde auf Geheiß ihrer Mutter in eine psychiatrische Klinik gebracht. Mita Das war mit ihrem Kind auf einen Baum geklettert, die Polizei holte sie ab und schlug sie. Das Kind nahmen sie ihr weg und brachten es in ein Heim. Nachdem Mita Das genesen war, musste sie einen langen Rechtsstreit gegen einige ihrer engsten Verwandten führen, um zu beweisen, dass sie in der Lage ist, sich um ihr Kind zu kümmern. Sie hat ihn gewonnen und ist jetzt wieder mit ihrer Tochter vereint.

In anderen Fällen bleiben Patienten nach ihrer Heilung weiter in den Psychiatrien, da ihre Familien sie verstoßen haben. So erging es Purnima (Name geändert). Zum Spaß hatte die 28-Jährige ihren Ehemann aus dem Schlafzimmer gesperrt. Sie glaubt, dass sie in die Psychiatrie eingewiesen wurde, weil die Familie ihres Mannes ihr Verhalten als inakzeptabel und symptomatisch für eine Geisteskrankheit ansah. Sie wurde mehrfach in verschiedene psychiatrische Kliniken eingeliefert und wieder entlassen. Als sie endgültig entlassen werden sollte, wurde sie von der Familie abgelehnt, vernachlässigt und geächtet. Das brachte sie dazu, in die Psychiatrie zurückzukehren, die sie jetzt „Heimat“ nennt.

Von der eigenen Familie diskriminiert

Leider ist das Missverständnis, dass psychisch Kranke nicht geheilt werden können, oft ein Grund, sie zu verstoßen. Studien haben gezeigt, dass Diskriminierungen häufiger aus dem engeren sozialen Umfeld kommen als etwa von der Polizei oder vom Klinikpersonal. Programme auf Gemeindeebene zielen deshalb nicht nur darauf ab, Patienten zu behandeln, sondern auch darauf, mit falschen Vorstellungen über psychische Erkrankungen aufzuräumen. Anjali hat das Programm „Janamanas“ entwickelt: Es schafft therapeutische Zentren, die die Interessen und Rechte psychisch Kranker schützen. Die Initiative war insofern erfolgreich, als die Menschen in den Gemeinschaften nun einen Ort kennen, an dem sie angehört werden. Allerdings suchen bislang weniger Leute Hilfe als erwartet, da sie auch immer eine unmittelbare Lösung für ihre Probleme erwarten.

Autor

Rishita Mukherjee und Sumaiya Baba

arbeiten für die indische Menschenrechtsorganisation Anjali, die sich um psychisch kranke Menschen kümmert.
Darüber hinaus hält die Scham als „geistig krank“ zu gelten, die Menschen davon ab, die Zentren zu besuchen. Selbst Frauen und Männer, die von dem Programm profitiert haben, verleugnen vor anderen ihre Berater, aus Angst, als „verrückt“ abgestempelt zu werden. Trotz dieser Schwierigkeiten geht Janamanas regelmäßig mit Sensibilisierungsprogrammen in die Gemeinden, um mit den Menschen über psychische Gesundheit zu sprechen und darüber aufzuklären, wie wichtig es ist, bei Bedarf Hilfe zu suchen.

Dank dem Engagement einiger Fachleute, Menschenrechtsaktivisten, nichtstaatlichen Organisationen und besorgter Bürger sind die Gefahren, die von einer Vernachlässigung der seelischen Gesundheit ausgehen, inzwischen in das öffentliche Bewusstsein gedrungen. Die Versorgung psychisch Kranker hat in den vergangenen Jahren einige wichtige Meilensteine passiert, darunter das Gesetz über seelische Gesundheit, das 2016 verabschiedet worden ist. Es folgt einem menschenrechtsbasierten Ansatz und spricht die historische Misshandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen an.

Es schreibt das Recht jedes Einzelnen auf den Zugang zu psychosozialer Versorgung fest, die von der Regierung verantwortet oder finanziert werden. Weiter sieht das Gesetz vor, dass jede Person, mit Ausnahme von Minderjährigen, das Recht darauf hat, selbst darüber zu entscheiden, wie sie medizinisch und therapeutisch behandelt werden will. Indem das Gesetz psychische Erkrankungen aus einer ganzheitlichen Perspektive wahrnimmt und psychisch Kranke befähigt, versucht es, Stigmatisierungen zu beseitigen. Bei der Verwirklichung des Gesetzes hat Indien allerdings noch einen langen Weg vor sich.

Aus dem Englischen von Johanna Greuter.

Neuen Kommentar hinzufügen

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
CAPTCHA
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Roller aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.
Diese Sicherheitsfrage überprüft, ob Sie ein menschlicher Besucher sind und verhindert automatisches Spamming.
erschienen in Ausgabe 8 / 2017: Wenn die Seele krank ist
Dies ist keine Paywall.
Aber Geld brauchen wir schon:
Unseren Journalismus, der vernachlässigte Themen und Sichtweisen aus dem globalen Süden aufgreift, gibt es nicht für lau. Wir brauchen dafür Ihre Unterstützung – schon 3 Euro im Monat helfen!
Ja, ich unterstütze die Arbeit von welt-sichten mit einem freiwilligen Beitrag.
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!
„welt-sichten“ schaut auf vernachlässigte Themen und bringt Sichtweisen aus dem globalen Süden. Dafür brauchen wir Ihre Unterstützung. Warum denn das?
Ja, „welt-sichten“ ist mir etwas wert! Ich unterstütze es mit
Schon 3 Euro im Monat helfen
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!