Der Unrat ist überall

Sam Olukoya
Nigeria
In Lagos gibt es in den armen Stadtteilen kaum Toiletten. Ein paar private Anbieter füllen die Lücke, doch viele Einwohner bleiben dabei, sich kostenlos überall zu erleichtern – mit schweren Folgen für die Gesundheit.

Lagos, das Wirtschaftszentrum Nigerias, kann sich mit ihrer Bevölkerung von mehr als 20 Millionen Menschen Megastadt nennen. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, verfolgt die Stadtverwaltung ehrgeizige Pläne, um die Infrastruktur zu entwickeln. So wurden dem Ozean zehn Quadratkilometer Land abgerungen, auf denen jetzt modernste High-Tech-Bauten für 400.000 Menschen errichtet werden. Aufwendige Straßen- und Schienenbauprojekte sind im Gange, und überall in der Küstenstadt entstehen schöne Parks und Gärten.

Während Lagos den Traum von einer echte Mega-Metropole zur Wirklichkeit machen will, fällt es der Stadt schwer, allen Bewohnern eine sanitäre Grundversorgen mit Toiletten und Latrinen zu verschaffen – so wie es eines der von den Vereinten Nationen beschlossenen Ziele für nachhaltige Entwicklung vorsieht. In Lagos leben viele Arme in Häusern ohne Toiletten. Sie erleichtern sich im Freien oder müssen für die Benutzung einer Toilette bezahlen.

Nirgends zeigt sich das deutlicher als in Makoko. Der ausgedehnte Slum erstreckt sich von den Feuchtgebieten am Rand des Festlands bis in die Lagune von Lagos. Die Menschen leben dort auf Pfahlhütten über dem Wasser, weshalb die Lagunensiedlung oft auch das Venedig von Afrika genannt wird. Doch im Unterschied zu den Venezianern haben die Einwohner von Makoko keine Toiletten, sondern nur ein Loch im Boden ihrer Bretterhütten, durch das sie sich direkt in die Lagune erleichtern. Der Atlantik verteilt die Fäkalien in der ganzen Siedlung.

In dem Teil von Makoko, der im versumpften Gebiet am Rand der Lagune liegt, sind die sanitären Verhältnisse kaum besser. „Die Menschen benutzen kleine Plastiktüten, die sie auf die Straße oder in die offenen Abwasserkanäle werfen. Manche schmeißen sie auch einfach aus dem Fenster“, erklärt Joseph Blabo, ein Einwohner von Makoko. „Wenn man dort unterwegs ist, tritt man öfter in Fäkalien.“

Eine Kirche steigt ins Toilettengeschäft ein

Inzwischen haben drei Privatfirmen für die 100.000 Einwohner und die Tausende Menschen, die täglich dorthin zur Arbeit gehen, Toilettenanlagen aufgestellt. Die Redeemed Christian Church of God (RCCG), eine nigerianische Kirche der Pfingstbewegung, betreibt eine davon. Wie Paul Aworetan, ein Vertreter der Kirche, erklärt, bietet die Einrichtung neben Toiletten noch zwei weitere sanitäre Dienste an: Waschgelegenheiten und sauberes Wasser. Die Benutzungsgebühr für die Toiletten beträgt 30 Naira, das entspricht neun Cent.

Es gibt fünf Toiletten, drei Duschen und mehrere Wasserzapfstellen. Um all das kümmert sich Michael Lawson – und zwar ganz allein. Denn die Gebühren sind so niedrig, dass die Erlöse gerade für das Gehalt eines Mitarbeiters reichen.

Viele seiner Kunden gehen hier zum ersten Mal in ihrem Leben auf eine Toilette. Er verbringt den größten Teil des Tages damit, in schwarzen Sicherheitsschuhen und ausgerüstet mit Desinfektionsmitteln und einem Schrubber die Toiletten zu reinigen. „Viele meiner Kunden wissen noch nicht, wie man mit einer Toilette umgeht. Sie machen alles dreckig und ich muss ständig putzen“, sagte Lawson. „Wenn ich mal ein paar Minuten weg bin, ist alles total versaut.“

Und das ist nicht sein einziges Problem. Oft beschädigt seine unerfahrene Kundschaft auch die Wasserhähne, die Handwaschbecken und die Duschen. „Manche lassen sogar die Seife und das Papier mitgehen, nachdem sie das Klo benutzt haben“, klagt er.

Einen halben Kilometer entfernt steht eine weitere Toilettenanlage. Hier arbeitet Ibrahim Bello. Lawson und Bello sagen beide, dass sie viele Stunden für ihre Kunden im Einsatz sind, die manchmal vor den Anlagen Schlange stehen. Lawson fängt um 3.30 Uhr in der Frühe an und schließt erst um 11 Uhr abends. Bello arbeitet sogar noch länger. „Normalerweise schlafe ich in der Anlage, um meinen Kunden den Service rund um die Uhr bieten zu können“, sagt er.

Wenn es ums Bezahlen geht, fliegen schon mal die Fetzen

Es ist sehr schwierig, die Leute davon zu überzeugen, für die Benutzung von Toiletten zu zahlen. „Sie stürmen an mir vorbei und sagen, sie müssten ganz dringend. Wenn sie dann fertig sind, heißt es, sie wollten ein anderes Mal zahlen. Aber wenn sie dann wiederkommen, streiten sie ab, irgendetwas schuldig zu sein.“ Gelegentlich gerät Lawson über die Bezahlung in handfeste Auseinandersetzungen mit Kunden. Er kann Kratzwunden vorweisen, die ihm zahlungsunwillige Frauen beigebracht haben. Das ist eine der unschönen Seiten seines Jobs. „Es war nie mein Traum, in einer Toilette zu arbeiten“, sagte er. „Aber wenn ich das schon machen muss, dann möchte ich von meinen Kunden respektiert und für meine Dienste bezahlt werden.“

Die RCCG sieht die Anlage als eine Art Pilotprojekt; kann sie erfolgreich betrieben werden, dann sollen noch mehr eingerichtet werden. Aber die Ergebnisse sind bisher nicht ermutigend – die Einnahmen sind sehr niedrig. Zudem häufen viele Kunden Schulden an und die Reparaturkosten für Schäden sind hoch. „Die Leute wollen die Anlage umsonst benutzen und uns die Verantwortung für ihren Unterhalt aufbürden“, sagt Lawson. „Aber wenn sie für die Benutzung nichts zahlen, werden sie auch ihren Wert nicht schätzen.“

Der Mangel an Toiletten in Makoko ist symptomatisch für die Verhältnisse im Rest von Lagos und in Nigeria insgesamt. Es ist im ganzen Land verbreitet, die Notdurft im Freien zu verrichten, denn in den nigerianischen Städten gibt es wenige oder gar keine öffentlichen Toiletten. Laut einem Bericht von Unicef, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, haben 122 Millionen Nigerianer keinen Zugang zu modernen Sanitäranlagen, 34 Millionen verrichten ihre Notdurft im Freien. Die Weltgesundheitsorganisation WHO listet Nigeria an fünfter Stelle der Länder, in denen dieses Problem am größten ist.

Für Lagos und andere nigerianische Städte ist dies eine große Hürde auf dem Weg zur Erfüllung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG). Das sechste SDG fordert eine nachhaltige Wasser- und Sanitärversorgung für alle. Dazu gehört auch, dass bis zum Jahr 2030 niemand mehr seine Notdurft im Freien verrichten muss.

Nicht nur in Makoko, auch in den anderen Slums von Lagos haben die meisten Häuser keine Toiletten. „Die Vermieter wollen das Land, das vor allem in den Slums knapp ist, maximal ausnutzen“, sagt Blabo, der im Makoko-Slum aufgewachsen ist. „Wenn die Wohnungen keine Toiletten haben, können sie ein Zimmer mehr vermieten und noch mehr Geld herausschlagen.“ Die meisten Behausungen in den Slums von Lagos bestehen aus kleinen Räumen, die einzeln vermietet werden.

Aber warum genehmigen die Behörden überhaupt Häuser ohne Toiletten? „Die meisten dieser Häuser sind ohnehin ohne Baugenehmigung errichtet“, erklärt Babatunde Adejare, zuständig für das Umweltressort im Bundesstaat Lagos.

Ein weiteres Problem ist die geringe Akzeptanz öffentlicher Toiletten bei vielen Slumbewohnern. „Manche Leute erleichtern sich überall, weil sie nicht einsehen, für die Benutzung einer Toilette zu bezahlen, oder weil sie Toiletten für überflüssig halten“, sagt Blabo. Lawson ist der Ansicht, der Staat solle öffentliche und kostenlose Toiletten zur Verfügung stellen, weil die Leute nicht bereit seien, für solche Einrichtungen zu zahlen. Bislang gibt es dafür aber keine Pläne. Nach Auskunft von Adejare setzt die Politik vor allem darauf, private Betreiber von Toiletten zu fördern.

Das Trinkwasser der Armen ist mit Fäkalien verseucht

Ein Umgang mit Fäkalien, wie man ihn in Lagos beobachten kann, birgt eine Menge Gesundheitsgefahren. „Die unzureichende Behandlung von Fäkalien und Abwasser stellt ein großes Risiko für die öffentliche Gesundheit und die Umwelt dar“, stellen die Vereinten Nationen fest. Cholera, Durchfallerkrankungen, Typhus und Polio sind einige der Krankheiten, die übertragen werden können, wenn Trinkwasser und Lebensmittel mit Fäkalien verunreinigt sind. In den Armenvierteln von Lagos wie Makoko haben sie schon viele Menschenleben gekostet. „Meine Mutter ist an Cholera gestorben“, sagt Blabo traurig.

Das Problem wird in Lagos dadurch verschärft, dass weniger als 40 Prozent der Einwohner Zugang zu Leitungswasser haben. Diese Glücklichen wohnen vor allem auf Lagos Island, der überwiegend wohlhabenden Hauptinsel der Stadt. Die zumeist armen Bewohnerinnen und Bewohner  auf dem dicht besiedelten Festland sind hingegen auf Grundwasser aus Tiefbohrungen und Brunnen angewiesen.

Autor

Sam Olukoya

ist freier Journalist im nigerianischen Lagos.
Dieses Wasser ist oft mit unbehandelten Abwässern verseucht. Das ist nicht anders zu erwarten, wenn Fäkalien über offene Kanäle entsorgt und einfach in die Lagune geleitet werden oder wenn Fäkaliengruben in unmittelbarer Nähe zu Bohrlöchern und Brunnen liegen. Erst vor kurzem wurden mehr als tausend Studenten des Queens College, einer staatlichen Elitehochschule, ins Krankenhaus eingeliefert mit Beschwerden, die von verunreinigtem Wasser verursacht waren. Zwei von ihnen starben.

Die Regierung sagt, sie tue eine Menge, um die sanitäre Situation zu verbessern. „Die Sanitärversorgung steht für uns an oberster Stelle. Wir wollen ein sauberes Lagos, ein ordentliches Lagos, das sich mit jeder Megastadt der Welt messen kann“, sagt Adejare. „Die Umweltgesetze sind überarbeitet worden, um den Gesetzeshütern mehr Handlungsmöglichkeiten zu geben.“

Eines dieser Gesetze stellt es unter Strafe, unbehandelte menschliche Fäkalien in einen öffentlichen Kanal, einen Wasserlauf oder einfach ins Gelände zu kippen. Doch im Lichte früherer Erfahrungen muss man an der Entschlossenheit der Regierung zweifeln, Umweltgesetze konsequent durchzusetzen. 2014 erließ die Regierung ein Verbot, sich im Freien zu erleichtern. Durchgesetzt wurde es nie, und geändert hat sich nichts.

Doch über diesen düsteren Aussichten darf man nicht den unermüdlichen, entbehrungsreichen Einsatz von Leuten wie Lawson und Bello vergessen, die in den Slums öffentliche Toiletten betreiben. Er bewirkt etwas: „In Makoko stinkt es nicht mehr so sehr, weil weniger Menschen überall ihren Unrat hinterlassen“, erklärt Bello stolz.

Aus dem Englischen von Thomas Wollermann

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