Lange Zeit gingen Experten davon aus, dass Populismus vor allem in armen Gesellschaften gedeiht, während reiche Länder gegen das „populistische Virus“ gefeit seien. Doch in den beiden vergangenen Jahrzehnten hat sich gezeigt, dass Populismus in fortgeschrittenen wie in sich entwickelnden Ländern Wurzeln schlagen kann. Populisten machen heute Schlagzeilen in so unterschiedlichen Staaten wie Bolivien (Evo Morales), Ungarn (Viktor Orbán), Spanien (Podemos), den Niederlanden (Geert Wilders) und den USA (Donald Trump). Klar ist, dass über die ganze Welt verstreut verschiedene Arten populistischer Kräfte an Einfluss gewonnen haben. Doch was den Populismus eigentlich ausmacht, ist umstritten.
Die Unklarheiten rühren teilweise daher, dass Wissenschaftler Definitionen entwickelt haben, die auf bestimmte Weltregionen oder spezifische Ausprägungen des Populismus zugeschnitten sind. Sie eignen sich nicht unbedingt für ein breiteres Verständnis des Populismus an sich. So neigen Lateinamerika-Experten dazu, Populismus mit Misswirtschaft und Klientelismus zu verbinden. Dagegen machen Europa-Kenner häufig Fremdenfeindlichkeit und Wohlfahrtschauvinismus als Kennzeichen von Populismus aus. Doch all diese Züge kann man in populistischen wie in nicht populistischen Strömungen finden. Es fehlt ein klares Konzept, das nicht bloß erklärt, was Populismus ist, sondern auch, was ihn von anderen politischen Kräften unterscheidet.
Unverdorbenes Volk, korrupte Elite
Beginnen wir mit dem einfachsten Aspekt: Populismus ist eine politische Ideologie. In der Alltagssprache ist der Begriff „Ideologie“ negativ besetzt. Man muss sich jedoch vor Augen halten, dass politische Ideologien allgegenwärtig und Teil des modernen politischen Kräftespiels sind. Sie bieten uns Denkstrukturen an, mit denen wir die Welt der Politik vermessen und organisieren können. Ideologien bestehen aus seiner Reihe von Überzeugungen und Prinzipien, die von Individuen und Organisationen vertreten werden. Um politische Ideologien angemessen zu verstehen, muss man daher nicht nur anschauen, was Parteiführer verkünden, sondern auch die Alltagssprache der Menschen.
Bei Populismus liegt eine Ideologie vor, nach der erstens die Gesellschaft in „das ehrliche Volk“ und „die korrupte Elite“ gespalten ist und zweitens die Verteidigung der Volkssouveränität um jeden Preis das oberste politische Ziel sein muss. Dies bedeutet, dass Populismus zunächst eine moralische Weltanschauung ist: „Das Volk“ repräsentiert das Gute, „die Elite“ hingegen das Böse. So gesehen ist dann jede Einigung mit dem Establishment nahezu unmöglich, denn es gilt als pervertierte und korrupte, nur am eigenen Vorteil interessierte Gruppierung. Ein Beispiel dafür ist der folgende Auszug aus der Antrittsrede von Donald Trump bei seiner Vereidigung als US-Präsident:„Das Establishment hat sich selbst geschützt, aber nicht die Bürger unseres Landes. Seine Siege waren nicht eure Siege. Seine Triumphe waren nicht eure Triumphe. Während das Establishment in der Hauptstadt unserer Nation feierte, gab es für die Not leidenden Familien in unserem Land nichts zu feiern. Das alles wird sich ändern – und das beginnt hier und heute, denn dies ist euer Augenblick: Er gehört euch… Dies ist euer Tag. Dies ist eure Feier… Worauf es wirklich ankommt, ist nicht, welche Partei die Regierung kontrolliert, sondern ob unsere Regierung vom Volk kontrolliert wird. Der 20. Januar 2017 wird als der Tag in die Geschichte eingehen, an dem die Menschen in dieser Nation wieder die Herrschaft übernommen haben. Die vergessenen Männer und Frauen unseres Landes werden nicht länger vergessen sein.“
Eine weitere Grundannahme des Populismus ist, dass „das Volk“ eine Vereinigung von Individuen mit einem einheitlichen Willen ist, und der sei leicht zu erkennen und nicht zu verfälschen. Bei allen wichtigen programmatischen Unterschieden teilen die verschiedenen Strömungen des Populismus weltweit das Narrativ, nach dem „das Volk“ eine Gemeinschaft mit von allen geteilten Kernüberzeugungen darstellt. Unter einem Narrativ versteht man Erzählungen über die soziale Welt, die bestimmte Deutungen verbreiten, etwa über Flüchtlinge, und damit auch Haltungen dazu prägen.
Zu guter Letzt zeichnen sich populistische Ideologien dadurch aus, dass sie zur Verteidigung der Volkssouveränität um jeden Preis aufrufen. Da sie „das Volk“ als gut, ehrlich und unverdorben, „die Elite“ hingegen als korrupt, verlogen und verdorben ansehen, behaupten Populisten gerne, niemand habe das Recht, über den Willen des Volkes hinwegzugehen. Das hat wichtige Folgen für die Art von Regierung, die Populisten in Theorie und Praxis unterstützen. Sie bejahen zwar Demokratie, insofern sie als Volkssouveränität verstanden wird. Aber sie haben zugleich große Vorbehalte gegenüber einer liberalen Demokratie. Zu der gehört ja, nicht bloß den Willen des Volkes zu berücksichtigen, sondern auch den von Minderheiten; zudem gibt es hier Kräfte und Institutionen, denen Aufsichtsrechte über die Regierenden eingeräumt werden, etwa die Justiz und die Medien.
Gegenpositionen: Elitismus und Pluralismus
Um besser zu verstehen, was das Besondere am populistischen Denken ist, ist es wichtig, die Gegenpositionen dazu betrachten. Im Großen und Ganzen gibt es zwei Gegenentwürfe zum Populismus: Elitismus und Pluralismus. Der Elitismus teilt die simple Gegenüberstellung von „dem Volk“ und „der Elite“, allerdings mit umgekehrter moralischer Bewertung. In der elitären Weltsicht erscheint „das Volk“ als gefährlich, irrational und vulgär, „die Elite“ hingegen als intellektuell und moralisch überlegen, weshalb die Regierung in ihren Händen liegen sollte.
Folglich möchten Elitisten Politik zuerst und vor allem von Experten betrieben sehen. „Das Volk“ solle nur einen sehr begrenzten Einfluss auf den politischen Prozess haben, weil es sich leicht von Demagogen verführen lasse. Ein zeitgenössisches Beispiel für Elitismus ist die von Technokraten vertretene Ansicht, angesichts der Komplexität ökonomischer und politischer Probleme sollten die meisten wichtigen Entscheidungen besser von Experten getroffen und nicht den Wählern überlassen werden. Elitäre Positionen sind auch manchen Umweltaktivisten nicht fremd – besonders wenn sie behaupten, ihre eigene Weltsicht sei moralisch überlegen, weil die einfachen Leute ignorant seien.
Im Gegensatz zum Elitismus wie zum Populismus glaubt der Pluralismus nicht an eine moralische Gegenüberstellung von „Volk“ und „Elite“ und die damit verbundene Schwarz-Weiß-Malerei. Für Pluralisten besteht die Gesellschaft aus Individuen und Gruppen mit sehr unterschiedlichen Ansichten. Diversität gilt ihnen nicht nur als unbestreitbare Realität, sondern auch als politische Stärke. Denn sie zwingt zum Dialog, um zu einer Übereinkunft zu kommen. Aus dieser Perspektive ist „das Volk“ eine in ständigem Wandel begriffene Gesamtheit von Individuen und der einheitliche Volkswille nur eine Fiktion. Nun könnte man argumentieren, die Definition von Populismus als einer Ideologie, die eine Spaltung der Gesellschaft zwischen dem „reinen Volk“ und der „korrupten Elite“ behauptet, erlaube es nicht, die wesentlichen Unterschiede zwischen den heutigen populistischen Strömungen rund um den Globus auszumachen. Immerhin erzählt Donald Trump nicht dasselbe wie Hugo Chavéz in Venezuela oder Beppe Grillo von der Fünf-Sterne-Bewegung in Italien. Es ist deshalb sinnvoll, verschiedene Arten des Populismus zu unterscheiden, je nachdem, welche anderen Ideen mit der populistischen Ideologie verknüpft werden. Alle Populisten greifen spezifische soziale Missstände auf, und die beeinflussen, welche zusätzlichen Ideen ins Spiel kommen. Dies hat wiederum Auswirkungen darauf, wie „das Volk“ und „die Elite“ definiert werden.
Strömungen des Populismus
Generell lassen sich heute zwei Hauptströmungen des Populismus feststellen, die zunehmend an Boden gewinnen: ein Exklusions-Populismus und ein Inklusions-Populismus. Ersterer zeigt sich vor allem in Wohlstandsgesellschaften, die sich zunehmend vor Immigranten und ausländischer Beeinflussung fürchten. Der letztere ist eher ein Phänomen ärmerer Gesellschaften, die von Korruption und verbreiteter Armut gekennzeichnet sind. Exklusions-Populismus ist besonders in Europa zu beobachten, wo rechtspopulistische Parteien in beinahe allen Parlamenten vertreten sind. Sie verbinden die populistische Rhetorik mit einer fremdenfeindlichen Auslegung der Nation, wonach in einem Land nur leben sollte, wer qua Geburt dazu gehört. Und sie propagieren autoritäre Wertvorstellungen, insbesondere Härte gegenüber dem Verbrechen und konservative Haltungen in moralischen Fragen.
Typische Beispiele des Exklusions-Populismus sind der Front National in Frankreich und die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ). Der Aufstieg dieser rechtsradikalen populistischen Parteien in den 1980er Jahre verdankt sich vor allem ihren damaligen Vorsitzenden Jean-Marie Le Pen beziehungsweise Jörg Haider. Beide taten sich mit gegen das Establishment gerichteten Reden und mit einem Frontalangriff auf Immigranten hervor, die ihrer Ansicht nach eine Gefahr darstellten und ausgeschlossen werden sollten.Diese Art Diskurs übernahmen dann andere politische Organisationen in ganz Europa und erzielten damit unterschiedliche Erfolge bei Wahlen. In manchen Ländern ist der Exklusions-Populismus fast bedeutungslos, etwa in Spanien; in anderen konnte er nach einem Wahlsieg die Regierung übernehmen wie im Falle von Trump in den USA und der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in Polen.
Seltsam ist am Exklusions-Populismus, dass er sich kaum um eine Definition bemüht, aus wem „das Volk“ eigentlich besteht – aber er verwendet viel Energie darauf klarzumachen, wer seiner Meinung nach nicht Teil der politischen Gemeinschaft sein sollte. Anfangs stand dabei im Zentrum, die Zahl der Zuwanderer generell zu verringern und dafür zu sorgen, dass die, die doch ins Land kamen, sich anpassten und in die Nationalkultur einfügten. Die Anschläge vom 11. September führten hier zu einer entscheidenden Akzentverschiebung. Danach begann der Exklusions-Populismus den Hauptfeind im Islam zu sehen, der die Werte des Westens attackiere. Geert Wilders in den Niederlanden war hier eine Schlüsselfigur: Er hat einen radikalen Diskurs gegen Immigranten vorangetrieben, die er als „Feinde der Toleranz“ betrachtet.
Gleichzeitig greifen Exklusions-Populisten bei jeder Gelegenheit das Establishment an, dem sie Unterstützung der Immigration vorwerfen. Das Standardargument ist, dass Unternehmen von Zuwanderung profitierten, weil sie ihnen billige Arbeitskräfte liefere, und dass Politiker mittels Einbürgerung von Immigranten neue Wähler für die etablierten Parteien zu gewinnen suchten.
Im Gegensatz zum Exklusions-Populismus setzt der Inklusions-Populismus für die Mobilisierung von Menschen weniger an Identitätsproblemen an als an ihren materiellen Sorgen. Daher hat er kein größeres Problem mit Zuwanderung und dem Einbezug von Randgruppen. Im Gegenteil entwickeln Inklusions-Populisten oft ein sehr offenes Verständnis dessen, was „das Volk“ ausmacht: Sie verstehen darunter alle, die direkt oder indirekt unter der ungerechten Sozial- und Wirtschaftspolitik der Vergangenheit gelitten haben.
Mit sozialistischem Gedankengut verknüpft
Nach ihrem Verständnis gibt es keine Unterschiede zwischen den Menschen und das Volk ist eine homogene Gemeinschaft, die das Establishment von der Macht verdrängen will. Daher ist der Inklusions-Populismus auch besonders kritisch gegenüber Unternehmern und ihren politischen Verbündeten: Nach seiner Ansicht kontrollieren sie die Politik und sorgen für ein Entwicklungsmodell, das Armut schafft. Es ist kein Zufall, dass diese Spielart des Populismus gewöhnlich mit sozialistischem Gedankengut verknüpft ist, Ungleichheiten zum politischen Thema macht und ein radikales, auf der Macht des Volkes beruhendes Demokratiemodell vertritt.
Das beste Beispiel für den Inklusions-Populismus ist die Bewegung, die der 2013 verstorbene Hugo Chávez in Venezuela ins Leben gerufen hat. Er kam Ende der 1990er Jahre an die Macht infolge seiner Kritik am Establishment, dem er die Schuld am Ruin der Wirtschaft gab. Danach versuchte er, mit einer Reihe von Sozialmaßnahmen gegen die Ungleichheit und Armut vorzugehen. Gleichzeitig schob er Reformen der Institutionen an und förderte damit mehr direkte Demokratie, die angeblich „dem Volk“ mehr Macht geben sollte, die Volksvertreter zu kontrollieren. Ohne Zweifel hat sich Chavéz bemüht, die Lebensbedingungen der Armen zu verbessern. Doch seine Nachfolger haben die politische Polarisierung des Landes derart angeheizt, dass man sich ernsthaft Sorgen um die Demokratie in Venezuela machen muss. Ähnliche, wenn auch weniger radikale Versionen des Inklusions-Populismus lassen sich in zwei westeuropäischen Ländern beobachten, die hart von der Wirtschaftskrise 2008/2009 getroffen wurden: Podemos in Spanien und Syriza in Griechenland.
Autor
Cristóbal Rovira Kaltwasser
ist Professor für Politikwissenschaft an der Diego-Portales-Universität in Santiago, Chile. Gemeinsam mit Cas Mudde hat er das Buch „Populism: A Very Short Introduction” (Oxford University Press, 2017) verfasst.Das ist der Grund, warum der Populismus am Ende allgemeines Misstrauen sät und damit die liberale Demokratie unter Druck setzt. Schließlich sind heutige Demokratien komplexe Regierungssysteme, die darauf beruhen, dass einerseits das Volk seinen Willen zum Ausdruck bringt – etwa in regelmäßigen Wahlen –, andererseits aber unabhängige Institutionen wie die Justiz und die Medien eine Aufsicht über die Gewählten ausüben.
Aber Populismus entsteht nicht aus heiterem Himmel. Sein Auftreten steht in direktem Zusammenhang zum Versagen der an der Macht befindlichen Eliten, die Ängste und Sorgen der Bevölkerung zu verstehen. Wenn größere Bereiche der Wählerschaft den Eindruck haben, dass ihre Stimme nicht gehört wird, dann sollte man über den Aufstieg von Populisten nicht überrascht sein. Wie Politiker und Parteien der politischen Mitte auf ihn reagieren, ist eine entscheidende Frage für die Demokratien im 21. Jahrhundert.
Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.
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