Die Aufstände in der arabischen Welt haben Grenzen und Widersprüche der europäischen Mittelmeerpolitik aufgedeckt. Die Europäische Union (EU) hat nie das Ausmaß der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen im Süden des Mittelmeerraums begriffen – weder in der 1995 begonnenen euro-mediterranen Partnerschaft (Barcelona-Prozess) noch in der 2008 mit großem Pomp ausgerufenen Union für den Mittelmeerraum. Sie hat sich so sehr auf die Stabilität der Regime und damit auf Sicherheitsfragen konzentriert, dass sie die Forderungen der Menschen und Zivilgesellschaften in Nordafrika nicht begreifen konnte. Bezeichnenderweise waren die beiden Staatschefs, die im Arabischen Frühling gestürzt wurden, die zwei Stützen der Union für den Mittelmeerraum: Zine el-Abidine Ben Ali in Tunesien und Hosni Mubarak in Ägypten.
Nach dem 11. September 2001 profitierten autoritäre Regime vom „Krieg gegen den Terror“ der Regierung Bush: Libyen, Algerien, Ägypten und Tunesien boten ihre Hilfe gegen die Bedrohung durch al-Qaida an und gewannen so Legitimität auf der internationalen Bühne. Internationale Menschenrechtsorganisationen widerstanden im Jahrzehnt nach 2000 noch der Logik des Sicherheitsdenkens und prangerten die schweren Menschenrechtsverletzungen an, die im Namen des „Kriegs gegen den Terror“ begangen wurden. Hier ist inzwischen viel Terrain verlorengegangen, haben doch die demokratischen Länder Europas aus Angst vor dem Terrorismus Rückschritte bei der Achtung des Rechts hingenommen und dafür ihre Sicherheitsausgaben deutlich erhöht. Blind aus Angst vor dem Terrorismus, verkünden Europas Demokratien ihre Werte nur noch mit Schalldämpfer.
Nach dem 11. September 2001 ging es nicht nur um die Frage, mit welchen Mitteln man den Terror bekämpft, sondern auch, was überhaupt auf dem Spiel stand: Was sind die größten Bedrohungen für die Staaten in Nordafrika? Vor dem Arabischen Frühling und der weltweiten Finanzkrise von 2007-08 schien der internationale Terrorismus die größte Gefahr für die Stabilität dieser Staaten zu sein. Doch dann war ihre Destabilisierung seit 2011 nicht eine Folge des Terrors, sondern gesellschaftlicher Umwälzungen. Nun steht die einseitig auf Sicherheit ausgerichtete Mittelmeerpolitik der EU sechs Jahre nach dem Arabischen Frühling vor einem sicherheitspolitischen Desaster in Nordafrika und im Nahen Osten.
Keine demokratische Kontrolle der Finanzen
Leider hat die EU in ihrer Nordafrika-Politik nie die Verbitterung, Wut und Empörung der Bevölkerung angesichts der Korruption der politischen Eliten berücksichtigt. Daher haben die Menschen in Nordafrika nicht den Eindruck, dass sich die EU für ihre Probleme interessiert. Wirtschafts- und Sicherheitsfragen hatten in der euro-mediterranen Partnerschaft stets eine erheblich größere Bedeutung als politische Reformen.
Fragen der Demokratie wurden zwischen der EU und Nordafrika stets eher stiefmütterlich behandelt. In der euro-mediterranen Partnerschaft wurde weitgehend ausgeblendet, dass skrupellose Herrscher sich an öffentlichen Mitteln bereicherten. Das hat in den Gesellschaften Nordafrikas islamistische Bewegungen wachsen lassen, die sich auf die „Tugend“ berufen und diese der Korruption der Regime entgegenstellen. Zwar prangern große nichtstaatliche Organisationen die Korruption im Maghreb an, aber in der offiziellen Partnerschaft schwieg man darüber.
Seit ihrer Unabhängigkeit mangelte es in den nordafrikanischen Staaten an politischen Institutionen, die die Staatsfinanzen demokratisch kontrollieren konnten. So konnten einzelne politische Kräfte auch in der Wirtschaft dominant werden. Dagegen richteten sich die Proteste des Arabischen Frühlings. Enthüllungen von Wikileaks haben bestätigt, was die Menschen der Region längst wussten: Die Korruption war systemisch und durchdrang alles. Dass die EU und internationale Organisationen bis zum Arabischen Frühling das Bild Nordafrikas in leuchtenden Farben malten, kann man nur mit bewusstem Wegsehen erklären. So galt lange Zeit das Tunesien unter Ben Ali als Musterschüler im Maghreb. Stets betonte die EU die wirtschaftlichen Erfolge des Landes im Unterschied zu dessen Nachbarstaaten, die zwar wohlhabender, aber weniger entwickelt waren. Ein Wirtschaftswachstum um fünf Prozent pro Jahr erklärt teilweise das damalige gute Image Tunesiens, doch das Wachstum war vor allem durch Kredite gespeist. Für die Opposition verbarg sich hinter den Zahlen, dass der herrschende Klan der Trabelsi alle Wirtschaftsbereiche in Besitz nahm.
Bis zum Arabischen Frühling wiegte sich die EU in der Illusion, gegenüber Nordafrika ihre Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) unter Kontrolle zu haben. Mit dieser Politik setzte die EU 2004 – zugleich mit ihrer großen Erweiterung um zehn neue Mitgliedsländer, darunter acht in Osteuropa – einen neuen Rahmen für enge Beziehungen zu südlich und östlich angrenzenden Ländern, die keine Aussicht auf einen Beitritt hatten. Das Angebot richtete sich im Süden an Algerien, Ägypten, Israel, Jordanien, Libanon, Libyen, Marokko, die Palästinensischen Autonomiegebiete, Syrien und Tunesien. Die EU erklärt, sie offeriere „ihren Nachbarn eine privilegierte Partnerschaft auf der Grundlage des beiderseitigen Bekenntnisses zu gemeinsamen Werten (Demokratie und Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, verantwortungsvolle Regierungsführung, Grundsätze der Marktwirtschaft und nachhaltige Entwicklung). Die ENP umfasst eine politische Koordination und eine vertiefte wirtschaftliche Integration sowie mehr Mobilität und direkte persönliche Kontakte. Der Umfang der Beziehungen hängt davon ab, inwieweit der jeweilige Partner sich tatsächlich für diese gemeinsamen Werte einsetzt.“
Die ENP knüpft an den Barcelona-Prozess an, der nie die erhofften Wirkungen gezeitigt hatte – seine Bilanz ist lachhaft. Am Vorabend der arabischen Revolten gab es immer noch keine Demokratie in Nordafrika, der Wirtschaftsaufschwung war schwach und der Handel zwischen den Ländern der Region erreichte nicht einmal zehn Prozent ihres gesamten Außenhandels. Die arabischen Revolten ließen dann die Illusionen des ENP zerplatzen: Das Regime in Tunesien wurde gestürzt, Gaddafis Libyen brach zusammen, Algerien wurde von Angriffen dschihadistischer Gruppierungen aus der Sahara bedroht.
Frankreich wird zum "Feind der Muslime"
Das eröffnete militanten Islamisten unerwartete Möglichkeiten. Lokale Dschihadistengruppen knüpften neue Bündnisse und betrieben das Vordringen des Islamischen Staats (IS) in die Region. Eine Fülle solcher Gruppierungen, die sich teils al-Qaida und teils dem IS anschlossen, breitete sich von der algerischen Sahara bis in den Westen Afrikas aus. Sie wollen die aus der Kolonialzeit hervorgegangenen Nationalstaaten zerstören und das Kalifat wiederherstellen; dazu greifen sie Ölförderanlagen und den Tourismus an.
Zugleich erklärten sie es zum Ziel, Frankreich und die Franzosen aus der Region zu vertreiben. Nach den Nationalisten der 1950er und 1960er Jahre wollten nun die Dschihadisten die alten Kolonialherren hinauswerfen, die sie als „Ungläubige“ bezeichnen. Die Militärintervention Frankreichs in Mali liefert ihnen das willkommene Feindbild des „französischen Eindringlings“. Ähnlich wie die USA im Nahen Osten werden nun Frankreich und seine lokalen Verbündeten in der Sahelzone zum „Feind der Muslime“, den es zu bekämpfen gelte.
Die dschihadistischen Gruppen, die seit mehr als einem Jahrzehnt in der Region aktiv sind, haben bedeutende Verbindungen zur lokalen Bevölkerung geknüpft. Die Staaten der Region haben nur sehr begrenzte Mittel, um gegen diese neuartige Bedrohung durch Gruppen zu kämpfen, die sich die unermessliche Weite der Sahara und der Sahelzone zunutze machten. Die Kontrolle der Grenzen bekommt damit vorrangige strategische Bedeutung; Armeen beziehen in bis dahin menschenleeren Grenzregionen Stellung.
Mit den Attentaten von Paris im November 2015, Brüssel im März 2016 und Berlin im Dezember 2016 ist nun auch in Europa die terroristische Bedrohung direkt spürbar. Zwar verständigt sich die EU über eine Einwanderungspolitik, hat aber keine gemeinsame Politik für den Kampf gegen den Terrorismus. Im Rahmen des „Instruments für Stabilität und Frieden“, aus dem die EU Projekte zur Krisenreaktion, Konfliktverhütung und Friedenskonsolidierung finanziert, gab es einige Maßnahmen zur Vorbeugung von Radikalisierung in Nordafrika und in der Sahelzone. Inzwischen geht es dort aber für die Staaten, die täglich mit der Gewalt von Dschihadisten konfrontiert sind, um ihren Fortbestand.
Die Politik der EU in Nordafrika ist gelähmt infolge der Unfähigkeit, sie an den Bedürfnissen der Menschen dort auszurichten. Tatsächlich konnte die EU von Beginn an nur eine Nebenrolle in der europäischen Mittelmeerpolitik spielen. Denn für den Austausch mit dem südlichen Mittelmeerraum hatten Frankreich, Spanien und Italien die Führungsrolle. Deutschland war seit 1990 hauptsächlich mit seiner Wiedervereinigung und der EU-Osterweiterung beschäftigt und gestand den drei EU-Mitgliedern stillschweigend zu, dass der Maghreb aufgrund der geographischen Nähe und der historischen Verbindungen ihr Zuständigkeitsbereich war.
"Das Somalia des Mittelmeers"
Der Barcelona-Prozess lief in gewisser Weise auf die Institutionalisierung dieser Privilegien hinaus. Im Osten des Mittelmeers waren die Probleme so komplex und stand mit dem Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern und der Sicherheit des Suezkanals so viel auf dem Spiel, dass die EU und ihre Mitgliedsländer die Führungsrolle den USA überlassen mussten. Das Gebiet von Marokko bis Libyen ist hingegen mehr oder weniger zur Domäne Frankreichs, Spaniens und Italiens geworden – auf Kosten der Förderung der Werte und Prinzipien der EU.
Nach Jahrzehnten dieser Politik herrscht nun in Nordafrika Unsicherheit. Man kann sich heute nur schwer vorstellen, was die EU zur Lösung des Problems beitragen könnte. Die Revolten in der arabischen Welt haben auch die Politik der EU erschüttert. Obwohl Europa der wichtigste Handelspartner der Länder am Südrand des Mittelmeers ist, beschränkt sich seine strategische Vision darauf, Nordafrika als Pufferzone zu betrachten, in der Migranten aus der Sahelzone und Westafrika von Europa fern gehalten und Dschihadisten bekämpft werden. Grenzsicherung ist ein vorrangiges Ziel der EU geworden.
Autor
Luis Martinez
ist Forschungsdirektor am Centre d’études et de recherches internationales in Paris und Experte für den Maghreb.Die Dschihadisten rufen uralte Ängste wach, die in der Jahrtausende langen Geschichte des Mittelmeerraums öfter wiedergekehrt sind. Der Historiker Georges Duby erinnert in seinem Buch „L’an mil“ (Das Jahr 1000) daran, dass die Hauptbedrohungen, denen der europäische Kontinent damals ausgesetzt war, von den Wikingern, den Magyaren und den Sarrazenen ausgingen – so nannte man islamische Völker aus dem Süden. Tausend Jahre später sind die Staaten Skandinaviens friedliche Demokratien. Die Magyaren sind zu Ungarn geworden und, obwohl sie unter der Fuchtel von Viktor Orbán gelegentlich Unruhe stiften, in die Europäische Union integriert. Von Norden und Osten scheint Europa keine große Gefahr mehr zu drohen. Bleibt der Süden, wo die Sarrazenen in neuem Gewand und unter anderem Namen erneut Angst hervorrufen. Sie bereichern die Sicherheitspolitik im Mittelmeerraum um zwei neue Gestalten auf der langen Liste der Schreckgespenster des Abendlands: Den Migranten und den dschihadistischen Terroristen.
Aus dem Französischen von Thomas Wollermann.
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