Sinnsuche in der Fremde

Christentum
Viele Chinesen, die in den USA studieren, kommen dort zum ersten Mal mit gelebter Religion in Berührung. Und viele fühlen sich vom Christentum angezogen.

Shelly Cai war 18 Jahre alt, als sie aus der chinesischen Metropole Nanjing zum Studium an die Universität Madison-Wisconsin kam. Eine entfernte Cousine nahm sie im August 2010 nach einem dreizehnstündigen Flug und einer dreistündigen Busfahrt in Empfang. Die ersten Tage kämpfte Cai mit dem Jetlag und mit der englischen Sprache. Am fünften Tag erfuhr sie, dass ihr Großvater in Nanjing gestorben war. Um ihre Tränen vor ihrer neuen Zimmergefährtin zu verbergen, verbrachte sie eine Nacht im Keller des Studentenwohnheims zwischen Waschmaschinen, Trocknern und Fahrrädern.

An einem kalten Tag Anfang September wurde Cai auf dem Flur des Wohnheims von einer Gruppe Studierender angesprochen: Wie sie es mit Gott halte? Ihr wurde klar, dass sie darüber noch nie nachgedacht hatte. Aus schierer Neugier nahm sie an einer Bibelgruppe teil. Das war der Beginn einer spirituellen Reise. Vier Jahre nach ihrer Ankunft in Wisconsin ließ sich Cai taufen, und bald darauf fand in einer Kirche von Madison ihre Trauung mit einem Amerikaner statt.

Cais Weg zum Christentum ähnelt dem vieler junger Chinesen, die zum Studium in die Staaten kommen. Wie viele genau das sind, weiß niemand. Fest steht nur, dass die Zahl chinesischer Studierender an amerikanischen Hochschulen steigt. Im Jahr 2015 waren es 304.000, viele kamen aus großen Städten wie Peking und Schanghai. Viele junge Menschen aus dem größten säkularen Staat der Welt bezeichnen sich als Atheisten, auch wenn sie vor einer Prüfung schon mal in einem buddhistischen Tempel beten oder an den traditionellen chinesischen Festen teilnehmen, die ihre Wurzeln in chinesischer Folklore haben. Öffentliches Predigen ist in China verboten, und der kommunistische Staatsapparat überwacht das gesamte religiöse Leben – oft mit harter Hand. Die staatlichen Lehrpläne sorgen für Schulunterricht in Patriotismus und Sozialismus; dort wird ein rein materialistisches, wissenschaftlich orientiertes Weltbild vermittelt.

So kommen Hunderttausende gebildeter junger Chinesen an amerikanischen Universitäten zum ersten Mal mit religiösen Ideen in Berührung und können sie frei für sich prüfen. Hier haben christliche Studentengruppen und Gemeinden eine Chance erkannt: Sie bemühen sich sehr um die Neulinge aus China. An einigen Universitäten haben sie einen Willkommensdienst eingerichtet, der die Studierenden am Flughafen abholt und sie vorübergehend in christlichen Einrichtungen unterbringt, bis sie ein Zimmer finden. Manche helfen ihnen beim Einzug und gehen sogar mit ihnen im Einkaufszentrum bummeln.

Trotz ihrer marxistischen Erziehung, die den Glauben an Gott missbilligt, passen Neuankömmlinge aus China gut zu christlichen Studentengruppen. Studierende aus der Volksrepublik bleiben sonst gerne unter sich. Sie sind nicht amerikanisiert wie die chinesisch-stämmigen Bürger, die schon in zweiter oder dritter Generation in den USA leben. Sie identifizieren sich aber auch nicht mit den weniger gebildeten chinesischen Einwanderern in den Chinatowns, die zum Arbeiten hergekommen sind. Amerika und oft auch die englische Sprache sind ihnen noch fremd, und das trinkfreudige Gemeinschaftsleben auf manchem Campus schreckt sie ab.

Viele suchen Anschluss, einen Platz, wo sie hingehören. Christliche Gruppen können Studierenden aus dem Ausland helfen, sich auf das amerikanische Uni-Leben einzustellen, indem sie ihnen eine Gemeinschaft und Freizeitgestaltung anbieten – häufig mit religiösem Touch. Viele christliche Studentengruppen organisieren Veranstaltungen, um ausländische Studierende anzulocken, zum Beispiel Festessen an chinesischen Feiertagen, Wochenendausflüge und englische Konversationszirkel. Eine christliche Gruppe an der Columbia University, in der Mandarin gesprochen wird, hat einen Führer für Studienanfänger herausgebracht; er erklärt die Universitätsbibliotheken und führt die Lebensmittelläden im Stadtteil – garniert mit Bibelversen.

Es gibt keine Statistik, wie viele Studierende aus der Volksrepublik in den USA Christen werden. Aber Beteiligte am spirituellen Leben an den Universitäten erklären, ihre Zahl sei beachtlich und steige. Gregory Jao leitet das Engagement der landesweit tätigen evangelikalen Gemeinschaft InterVarsity Christian Fellowship/USA an den Hochschulen. Er schätzt, dass von den 5000 ausländischen Studierenden unter dem Dach seiner Organisation zwischen 1600 und 1800 aus der Volksrepublik kommen. Laut Valerie Althouse, die neun Jahre Seelsorgerin an der New York University war, kam die Mehrheit der Teilnehmenden an den spirituellen Angeboten der Universität aus China. „Zum Teil kommen sie, um ihr Englisch zu verbessern. Und sie sind sehr neugierig, mehr über uns Amerikaner zu erfahren, unseren Lebensstil, unsere religiösen Überzeugungen, das demokratische System“, sagt Althouse.

Im September 2010 besuchte Cai ihren ersten Sonntagsgottesdienst an der Harvest Church of Madison nahe dem Campus, einer im Jahr 2007 gegründeten Gemeinde mit etwa 40 meist jüngeren Mitgliedern. Zunächst verstand sie nur wenig, sah scheu zu und machte nach, wenn die anderen sich erhoben und setzten. Wenn über Scherze des Priesters gelacht wurde, blieb sie stumm. Obwohl die Menschen freundlich und gut gelaunt waren, hatte sie das Gefühl, nicht richtig dazuzugehören. „Als ich begann, in die Kirche zu gehen, hatte ich anfangs den Eindruck, das ist mir alles sehr fern“, sagt Cai. Sie habe sich nicht vorstellen können, dass sie als Erwachsene noch gläubig werden könnte. „Wenn ich als Kind damit in Berührung gekommen wäre, vielleicht. Aber nun, dachte ich, ist es zu spät.“

Auch Bai Yucheng kam 2010 aus China in die USA, um an der Universität von Arizona zu studieren. Seine Vorstellungen vom Uni-Leben beruhten vor allem auf den Studentenpartys, die er in Filmen und Fernsehserien gesehen hatte. Ursprünglich wollte er Ingenieur werden oder im Finanzsektor Karriere machen. Aber er konnte sich mit dem gesellschaftlichen Leben in Amerika nicht anfreunden. „Mir waren die Beziehungen zu oberflächlich“, sagt er.

Fragen zur Existenz Gottes

Einmal nahm ihn ein Freund zu einer Veranstaltung von InterVarsity mit. Erstaunt bemerkte er, dass die Christen dort klug und offen waren und sich bereitwillig auf tiefe Gespräche  mit ihm einließen – auch wenn seine Fragen zur Existenz Gottes ein wenig bissig ausfielen. „Ich finde es traurig, dass viele christliche Studenten in Amerika nicht wissen, wie sie solche Fragen beantworten sollen. Aber ich fand es gut, dass sie ihren Glauben nicht versteckten“, sagt Bai, der in diesem Kreis rasch viele Freunde fand.

Bai merkte auch, dass er weder zum Ingenieur noch zum Banker berufen war. Inzwischen macht er an der Columbia-Universität mit einer Arbeit über die Geschichte des Christentums im neuzeitlichen China seinen Master. Das Thema seiner Magisterarbeit ist die Geschichte zweier chinesische Priester, die in den 1950er Jahren, kurz nach der Machtübernahme der Kommunistischen Partei, zu Rivalen wurden. Sie stritten sich darüber, ob das Christentum mit dem Kommunismus vereinbar sei. Bai organisiert auf dem Campus auch eine Diskussionsgruppe für nichtchristliche Studierende. Die meisten sind Chinesen, die sich für die Bibel interessieren.

Die Begegnungen von Bai und Cai mit dem Christentum scheinen individuelle Zufälle zu sein. Doch laut Forschern ist es typisch, dass ausländische Studierende in den USA Orientierung und Sinn in der Religion suchen, wenn das, was sie von zu Hause mitgebracht haben, auf einmal nicht mehr anwendbar ist.

„Wer an einen neuen Ort zieht, sucht automatisch eine neue Identität als Immigrant, einen Sinn: Warum ich? Warum passiert das mir? Und wer beginnt, solche Fragen zu stellen, dem bietet das Christentum Antworten an, die viele akzeptabel finden“, sagt Yang Fenggang. Der Soziologieprofessor an der Purdue-Universität ist Autor eines Buches über chinesische Christen in Amerika, ihre Bekehrung und ihre Identität. „Sie müssen lernen, wie sie mit Kommilitonen anderer Herkunft und mit Professoren zurechtkommen“, sagt Yang. „Sie kommen nicht weit, wenn sie sich im täglichen Leben von Marx und Mao leiten lassen.“

Einige Geistliche finden chinesische Studierende gerade deshalb so empfänglich für die Botschaft des Evangeliums, weil sie keinerlei Erfahrung mit Religion haben. Anders ist das bei Indern, der zweitgrößten Gruppe der ausländischen Studierenden in den USA nach denen aus China: Sie kommen aus einem Land mit vielen sehr lebendigen Religionen, die frei praktiziert werden. Und sie halten gewöhnlich in den USA an ihrem Glauben fest, sei es Hinduismus, Sikhismus oder Jainismus, berichtet Hon Eng aus Erfahrung. Er ist Prediger von InterVarsity und Berater für Religionsfragen an der Columbia-Universität. Auch Studenten aus Südkorea oder Taiwan haben vielfach schon in ihrer Heimat das Christentum kennengelernt.

Der Zustrom chinesischer Studierender hat auch die Welt mancher Prediger an Universitäten verändert. Ariane Brotto, eine brasilianische Doktorandin an der Columbia-Universität, predigt heute hauptsächlich vor chinesischen Studenten, obwohl sie kein Wort Mandarin spricht. Es begann 2012, als ein junger Chinese sie hartnäckig fragte, warum sie so viel glücklicher wirke als ihre gestressten Kommilitonen. Brotto schenkte ihm schließlich eine Bibel in chinesischer Sprache. Als sie ihn eine Stunde später fragte, was er davon halte, antwortete er: „Ich möchte eine Beziehung zu Gott aufbauen.“ Brotto dachte im ersten Moment, er habe sie nicht richtig verstanden. Doch er meinte es ernst, er wollte anfangen zu beten.

Manche sehen bereits die Zukunft des Christentums in China; schließlich verliere der Glauben in den Vereinigten Staaten, dem größten christlichen Land der Welt, an Boden. Unterdessen räumen in China selbst die Behörden ein, dass die Zahl der Christen steigt: 1997 gaben sie 14 Millionen an, 2010 zählten sie bereits 23 Millionen. Dies liegt weit unter den Schätzungen des Pew Research Center in Washington, das für das Jahr 2010 auf 67 Millionen kommt. Fest steht, dass die Zahl der Christen in China wächst – zum Teil in Heimkirchen im Untergrund.

Religion ist in China ein heikles Thema

Beobachter führen das wachsende Interesse der Chinesen an Religion – zu Hause wie im Ausland – auf die Wirtschaftsreformen, die Öffnung des Landes zum Westen und die Niederschlagung der Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 zurück; diese setzen dem Idealismus vieler Studierenden ein jähes Ende. Auf den Aufstieg der Religion reagierten die Behörden zuweilen scharf. Zahlreiche Berichte schildern, dass Kirchen zerstört, Kreuze entfernt und die Anwälte von Gemeinden schikaniert werden. In den staatlichen Medien kommen das Christentum und andere Religionen kaum vor. Aber über die Verfolgung von Kulten wie Falun Gong, die China Ende der 1990er Jahre als „betrügerische Sekte“ verboten hat, wurde ausführlich berichtet.

Da ist es begreiflich, dass Cais Eltern sich Sorgen machten, als sie vom Interesse ihrer Tochter am Christentum erfuhren. Weil Religion in China so ein heikles Thema ist, wollen sie nicht mit vollem Namen genannt werden. „Wir hatten vom Christentum gehört, aber wir sind nie damit in Kontakt gekommen und wissen nicht viel darüber“, sagen sie. „Als Shelly in ihrem ersten Studienjahr anfing, regelmäßig eine Kirche zu besuchen und sich dann auch noch taufen ließ, dachten wir erst, es sei so etwas wie Falun Gong. Wir dachten, sie stünde unter schlechtem Einfluss oder etwas stimme nicht mit ihr.“ Ihre Bedenken legten sich im August 2015, als sie ihre Tochter zu ihrer Hochzeit in Madison besuchten und einen guten Eindruck von ihrer Kirche mitnahmen.

Autorin

Han Zhang

ist freie Journalistin in New York. Der Artikel ist im Original in „Foreign Policy“ erschienen.
Vor dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 „besuchten nur sehr wenige Chinesen eine Kirche, während sie in Nordamerika studierten“, sagt Yang Fenggang von der Universität Purdue. „Sie machten eher einen großen Bogen darum.“ Bevor Yang 1989 in die USA ging, hatte er an der renommierten Renmin-Universität in Peking unterrichtet. Als er in den USA zum Christentum übertrat, beschimpfte ihn sein Vater, der ein Leben lang Mitglied der Kommunistischen Partei war, als Verräter und weigerte sich, ihn zu besuchen. „Für meine Generation war es ein echter Kampf: Kommunismus gegen Christentum.“ Aber die jüngeren Chinesen sind im Grunde in einer Marktwirtschaft aufgewachsen. Religion spielt darin keine Rolle, aber auch keine andere Ideologie mehr.

Dies hinterlässt eine Leere, die manche füllen wollen. Brotto, die brasilianische Predigerin, kennt jetzt mehr Chinesen als Brasilianer in New York. Sie leitet einen englischsprachigen Bibelkreis, der sich an Ungläubige wendet, aber hauptsächlich chinesische Studierende anzieht. Sie erklärt, in den vergangenen beiden Jahren habe sie sechs von ihnen zum Christentum bekehrt. „Ich denke, es ist einfach der Zeitpunkt gekommen, den Gott für das chinesische Volk vorgesehen hat“, sagt sie.

Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.

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erschienen in Ausgabe 5 / 2016: Religion: Vom Glauben und Zweifeln
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