Der Glaube ist nicht tot zu kriegen

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epd-bild/Jens Schulze
Denkmal einer Zeit, in der die Kirche das Zentrum der Gesellschaft ­bildete: Besucher in St. Peter und Paul in Görlitz (Sachsen).
Religion
Woran Menschen glauben, gilt in Europa als Frage ihrer individuellen Überzeugung. Das war nicht immer so – erst ein langer und blutiger Weg hat zur Trennung von Kirche und Staat geführt. Und es wäre falsch zu schließen, dass Religion in modernen Gesellschaften zwangsläufig bedeutungslos wird.

Die Säkularisierung hat sich durchgesetzt“, stellte der französische Politologe Olivier Roy im vergangenen Jahr in einem Beitrag in der „Neuen Zürcher Zeitung“ fest: „wir alle leben in säkularen Gesellschaften, in dem Sinn, dass Religion allenthalben aus der Leitkultur verschwunden ist“. Und damit meinte Roy nicht nur die Bürger Europas, sondern alle Menschen, einschließlich die in islamischen Ländern. Damit bestätigt er die weithin akzeptierte These, laut der die Religion in der Moderne, allen Fundamentalismen zum Trotz, auf dem Rückzug sei.

Zur Erklärung verweist Roy auf die „Dekulturierung der Religion“: Religion sei nicht mehr Teil des Mainstreams der Kultur. Zu einem ähnlichen Befund kommt auch die Systemtheorie, die wohl derzeit einflussreichste Modernisierungstheorie: Die Religion übt nicht mehr wie in vormodernen Gesellschaften starken Einfluss auf alle gesellschaftlichen Bereiche aus wie Politik, Recht, Familie oder Wissenschaft. Die modernen Gesellschaften sind laut der Systemtheorie funktional differenziert – das heißt die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche operieren nach einer je eigenen Logik, um ihre spezifische Funktion in der Gesellschaft zu erfüllen. Für das Funktionieren von Politik, Recht oder Wissenschaft ist die Religion überflüssig. Die Religion wird selbst zu einem Subsystem der Gesellschaft, das vielleicht andere Bereiche noch beeinflusst, aber nicht mehr dominiert.

Für den Einzelnen wird Religion damit Privatsache – eine persönliche Überzeugung, die sich wie andere individuelle Interessen zwar in der Gesellschaft artikulieren, aber keinen Anspruch auf bevorzugte Behandlung mehr erheben kann. In der Folge dieser Entwicklung könnte man sagen, dass der religiöse Glaube selbst seinen Charakter verändert hat: Von einer gesellschaftlichen Leitideologie, die unabhängig davon ist, wer an sie glaubt, hin zum Glauben als persönlichem Überzeugtsein, als einer individuellen Sinnressource.

Wie immer man die Systemtheorie bewertet: Unstrittig ist, dass zumindest in Europa im Prozess der Modernisierung eine Tendenz zur Entkirchlichung beobachtet werden kann. Die Kirchen verlieren ihre Herrschaftsfunktionen und damit auch an Bindungskraft für den Einzelnen. Das kann man spiegelbildlich auch als Individualisierung oder Privatisierung von Religion beschreiben. Dazu gehört, dass überkommene religiöse Traditionen von vielen nicht mehr als verbindlich gesehen werden; der persönliche Glaube wird zunehmend aus verschiedenen Traditionen zusammengesetzt. Dazu gehört auch, dass immer mehr Menschen – wenn auch mit deutlichen Unterschieden von Land zu Land – von sich sagen, dass sie nicht an einen Gott glauben.

Das Problem dieser Darstellung der Säkularisierung ist: Ihr liegt ein Entwicklungsmodell zugrunde, nach dem der Vorgang erstens mit einer gewissen Zwangsläufigkeit verläuft. Zweitens enthält diese Sicht unausgesprochene Wertungen: Das Moderne ist das Gute, weil es sich ja als evolutionär erfolgreicher herausgestellt hat. Phänomene, die nicht der behaupteten Richtung folgen, wie das Wiedererstarken von Religionen in manchen Weltgegenden, können dann nur als Überbleibsel oder als Rückfall in vormoderne Zeiten gesehen werden.

Außerdem neigt der evolutionäre Blick dazu, den Kontrast zwischen der Moderne und der Zeit davor zu überzeichnen. Die europäische Vormoderne, das sogenannte Mittelalter, war nicht so ausschließlich von der Religion bestimmt, wie es oft dargestellt wird. Es gab auch damals schon andere als religiöse Leitvorstellungen für bestimmte Gesellschaftsbereiche. Das römische Recht oder die Philosophie des Aristoteles sind die prominentesten Beispiele. Beide wichen klar von der christlichen Tradition ab, auch wenn die Theologen immer wieder daran arbeiteten, sie damit in Übereinstimmung zu bringen. Trotzdem emanzipierten sich seit dem hohen Mittelalter immer mehr gesellschaftliche Bereiche von rein religiösen Vorgaben.

Außerdem war die Religion im Mittelalter – genauso wie zu den meisten Zeiten – beides: Sie lieferte der Gesellschaft Sinn und war zugleich Ausdruck von individuellen Erfahrungen. Das Verhältnis der beiden Funktionen zueinander kann sehr unterschiedlich ausfallen. Es wäre aber zu einfach, einen mehr oder weniger gradlinigen Weg von der Religion als gesellschaftlicher Leitideologie hin zum Glauben als privater Überzeugung zu zeichnen. Es ist angemessener, von Transformationen der Religion oder einem Religionswandel zu sprechen, als alle Phänomene einer Säkularisierungs-Perspektive zu unterwerfen.

Neue politisch-religiöse Arrangements

Bei der Transformation der Religion in Europa war der bedeutendste Einschnitt die Reformation. Die religiöse Einheit Europas zerbrach: Nicht mehr eine Kirche integrierte unterschiedliche religiöse Traditionen und übte als Institution Herrschaft aus, sondern es entstanden neue Kirchen und damit neue politisch-religiöse Arrangements: Kirchen unter obrigkeitlicher Aufsicht. Sie begrenzten nicht nur die Herrschaft der jeweils anderen Seite, sondern bekämpften sie vielfach auch. Dabei beriefen sich alle neuen Kirchen auf dieselbe religiöse Tradition wie die alte. Man konnte also religiöse Abweichler, die es auch davor in Europa gegeben hatte, nicht mehr einfach als Minderheiten von Heiden oder Ketzern ausgrenzen: Die Reformation verlangte neue Antworten, wie mit religiöser Vielfalt umzugehen ist.

Im Blick auf das Reformationsjubiläum 2017 wird heute wieder der Beitrag des Protestantismus zur Entstehung der modernen Welt betont. Der Individualismus, so geht die protestantische Meistererzählung, ist vom Protestantismus kräftig gefördert worden, weil der einzelne Christ ohne die Vermittlung des Klerus vor Gott gestellt worden ist. Danach war der Glaube nicht mehr eine von der Kirche vorgegebene Wahrheit, sondern, so Martin Luther, ein „Trauen und Gläuben des Herzens“, also ein subjektives Vertrauen auf Gott. In diesem Glaubensverständnis bekommt das Gewissen des Einzelnen eine zentrale Rolle; entsprechend wurde die Freiheit der Gewissensentscheidungen eingeklagt. Sinnbild dafür ist Martin Luthers Auftritt vor dem Reichstag in Worms: Er lehnte einen Widerruf seiner Lehre ab mit der Begründung, dass es „unsicher ist und die Seligkeit bedroht, etwas gegen das Gewissen zu tun.“

Diese Sicht blendet allerdings aus, dass sich auch die Reformatoren mit wenigen Ausnahmen keine religiös gemischten Gemeinwesen vorstellen konnten. Als die ersten Fürsten und städtischen Magistrate in ihren Gebieten die Reformation einführten, schwächten die Theologen ihre Berufung auf die Gewissensfreiheit ab: Sie hielten zwar daran fest, dass man niemanden zum Glauben zwingen könne. Aber es sei sehr wohl Aufgabe der Obrigkeit, für den rechten Gottesdienst und den rechten Unterricht zu sorgen und auch dafür, dass die Untertanen diesen Unterweisungen beiwohnten. Außerdem galt ihnen die Bibel als Norm aller kirchlichen Lehre, und die hielten sie für klar und evident: Irrende Gewissen, die die Bibel vermeintlich falsch interpretierten, glaubte man mit klaren Gründen widerlegen zu können. Kurz: Moderne Gewissens- oder Religionsfreiheit haben sie nicht konzipiert.

Von der verordneten Konfession zum Verzicht auf eine Staatsreligion

Damit soll nicht bestritten werden, dass das neue Glaubensverständnis später, unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen, in Richtung auf einen modernen Individualismus wirken konnte. Aber entscheidender war die Herausbildung neuer Institutionen nach zahlreichen Religionskriegen. Um Frieden zu wahren und religiös homogene Gemeinwesen zu erhalten, wurde mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 festgelegt, dass der Fürst die Religion der Untertanen bestimmt, aber die Mitglieder einer anderen als der obrigkeitlich verordneten Konfession das Recht zur Auswanderung hatten. Ein nächster Schritt folgte im 17. und 18. Jahrhundert: Neben der Staatskonfession, deren Geistliche oft eine beamtengleiche Stellung hatten, wurde private religiöse Betätigung anderer Konfessionen geduldet. Das monarchische Prinzip forderte, so der Historiker Rudolf Schlögl in seiner Studie „Alter Glaube und moderne Welt“, dass der Herrscher sich durch eine Konfession legitimierte – die anderen wurden Privatgesellschaften.

Mit dem Aufkommen von Demokratien wurde dieses Arrangement fraglich. Nun fand man neue Lösungen. Sie liefen laut Schlögl alle darauf hinaus, dass Volkssouveränität und das Nebeneinander mehrerer Konfessionen „nur zu verbinden waren, wenn man darauf verzichtete, eine Staatsreligion auszuzeichnen, und die Bekenntnisse samt und sonders nur noch als bürgerliche Vereine behandelte“. Damit verloren die Kirchen Integrationsfunktionen für die Gesellschaft – zum Beispiel erhielt die Zivilehe Vorrang vor der kirchlichen Eheschließung. Zugleich wurde es für den Einzelnen möglich, die Konfession zu wechseln, ohne politisch verdächtig zu erscheinen. Die Grundrechteerklärung, die 1776 in Virginia (heute USA) im Zuge der Unabhängigkeitsbewegung von Großbritannien verabschiedet wurde, verankerte erstmals Religionsfreiheit zusammen mit Meinungs- und Gewissensfreiheit. Weitere Verfassungen folgten diesem Beispiel. Damit breitete sich das Bewusstsein aus, dass Religion eine Sache der persönlichen Überzeugung und der freien Wahl sein sollte.

Das hatte auch eine veränderte Religiosität zur Folge. Unter anderem wurde nun von den Mitgliedern der Privatgesellschaften eine aktive Mitgliedschaft erwartet: Es reichte nicht mehr aus, nur dazuzugehören; man musste eine entsprechende Glaubenspraxis und Überzeugung an den Tag legen, die von den Kirchen auch gemessen und kontrolliert wurde. So haben die protestantischen Kirchen in Deutschland seit Mitte des 19. Jahrhunderts die öffentliche Gottesverehrung statistisch erfasst; und die katholische Kirche forderte zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Antimodernisteneid, also eine Absage an moderne Ideologien, von ihren Geistlichen. Emanzipations- und Individualisierungsschübe haben also auch Gegenreaktionen ausgelöst: neue Formen von Kontrolle und Vergemeinschaftung.

Ihre neue Rolle haben die Kirchen keineswegs aktiv gesucht, sondern sich in den meisten Fällen gegen den Verlust herrschaftlicher Funktionen gewehrt. Die entscheidenden Impulse zur modernen Religionsfreiheit kamen von der Existenz mehrerer Konfessionen und dem staatlichen Bedürfnis nach Religionsfrieden in den eigenen Grenzen – nach Jahrhunderten konfessioneller Bürgerkriege. Daran sollte man sich erinnern, wenn heute vom Islam verlangt wird, dass er eine Aufklärung „nachholen“ müsse, die das Christentum vermeintlich erfolgreich durchlaufen habe.

Freilich: Die Individualisierung der Religion wurde nicht nur dadurch ausgelöst, dass die Befugnisse der Kirchen als Institutionen beschnitten wurden. Die Religion hat umfassender an Relevanz verloren, und das ist in der Tat eine Folge der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. Immer mehr Lebensbereiche funktionieren nicht mehr nach Regeln, die mit der Religion in Verbindung stehen. Am augenfälligsten ist das in der Wirtschaft, in der das christliche Gebot der Nächstenliebe keine rationale Handlungsoption mehr ist.

Verstädterung und Industrialisierung haben im 19. Jahrhundert in Europa Säkularisierungsprozesse begünstigt: Die Arbeiterschichten in den Städten gingen den Kirchen verloren – sie waren aus dem Herrschafts- und Schutzbereich der ländlichen Pfarreien gefallen. Auch gingen die vermögenden und gebildeten Schichten des Bürgertums, also Träger neuer Werte, stärker auf Distanz zur Kirche als der Adel. Wo die Kirche keine lebensweltliche Bedeutung mehr hat, lösen sich Menschen von ihr. Aber das Umgekehrte gilt auch: Wo Kirchen über religiöse Fragen hinaus lebenspraktische Aufgaben erfüllen helfen, kann man ein Wiederaufleben der Religion beobachten. Im Milieu der lateinamerikanischen Pfingstkirchen erreichen viele Mitglieder durch enge Sozialbindung, wenn nicht Sozialkontrolle, und durch die Befolgung einer strengen Selbstdisziplin einen sozialen Aufstieg. Hier wachsen die Kirchen.

Dieses Phänomen zeigt: Es wäre zu einfach, zu behaupten, dass religiöse Werte und Praktiken für die moderne Welt nicht mehr taugen. Zum einen scheint es Formen religiöser Praxis zu geben, die zumindest einzelnen Gruppen Optionen für erfolgreiches Handeln in der Welt anbieten. Zum anderen kann man beobachten, dass die scheinbar autonomen Logiken einzelner gesellschaftlicher Teilbereiche religiöse Züge annehmen: Medien, Wissenschaft und Wirtschaft liefern Letztbegründungen, die auf den Sinn und das Wesen des Ganzen zielen, also Funktionen der Religion übernehmen. Der wirkmächtigste quasi-religiöse Mechanismus scheint das Wirtschaftswachstum zu sein. Es ist verbunden mit Ideen von Fortschritt und Modernisierung, die Gehalte des christlichen Vorsehungsglaubens aufgreifen.

Autor

Christoph Fleischmann

ist Diplom-Theologe und arbeitet als freier Journalist in Köln.
Es gibt keine kulturlose Religion und auch keine völlig religionsfreie Kultur. Olivier Roy setzt in seinem Aufsatz eine kluge Pointe, wenn er darauf hinweist, dass die islamischen Fundamentalisten einen „reinen“, kulturlosen Glauben anstreben, „indem sie die dominante Kultur als profan, ja gar als heidnisch deklarieren“ – und zwar nicht nur die westliche Kultur, sondern auch die traditionellen Verbindungen des Islam mit verschiedenen Kulturen. Roy folgert daraus, dass „die religiösen Fundamentalisten selbst für die Säkularisierung“ sorgten, weil er Säkularisierung als Dekulturierung der Religion beschreibt. Damit scheint er aber demselben Missverständnis wie die Fundamentalisten aufzusitzen, dass es einen Prozess der Trennung von Religion und Kultur geben könne, ohne dass Religions-Funktionen an andere gesellschaftliche Bereiche übergehen.

Roy macht zu Recht klar, dass der Fundamentalismus als modernes Projekt und nicht als Relikt der Vormoderne zu verstehen ist. Aber wie jüngst der englische Literaturwissenschaftler Terry Eagleton in seinem Buch „Der Tod Gottes und die Krise der Kultur“ überzeugend argumentiert hat: Auch vermeintlich säkulare Gesellschaften brauchen Leitideologien, die einen letzten, rational nicht begründbaren Sinn kommunizieren und damit Zusammenhalt begründen und Zielvorstellungen vermitteln – seien das sympathische Werte wie die Würde des Menschen oder eher fragliche wie ein Fortschritt, der manches Opfer rechtfertigt. Eher zweitrangig ist dabei, wie sehr diese Religionsfunktion noch mit traditionellen religiösen Begriffen verbunden ist. In jedem Fall gilt: Wir beobachten einen Wandel des Religiösen, nicht einfach sein Verschwinden.

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erschienen in Ausgabe 5 / 2016: Religion: Vom Glauben und Zweifeln
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