Behinderung ist keine Strafe Gottes

Die Kirchen müssen das Ringen behinderter Menschen um Selbstverwirklichung stärker unterstützen. Diese Forderung stand im Zentrum einer internationalen Tagung, zu der das Deutsche Institut für Ärztliche Mission (Difäm) Mitte September Mitglieder des internationalen Netzwerks ökumenische Anwaltschaft für behinderte Menschen nach Tübingen eingeladen hatte. Erforderlich seien mehr Rechte für Behinderte, vor allem aber ein neues Verständnis von Behinderung.

Das ökumenische Netzwerk (Ecumenical Disability Advocates Network, EDAN) wurde 1998 von behinderten und nicht behinderten Theologen aus aller Welt ins Leben gerufen, um das Thema Behinderung stärker in die Kirchen hineinzutragen. Hintergrund waren enttäuschende Erfahrungen bei der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Harare im gleichen Jahr. „Man hatte uns damals  eingeladen, damit wir an allen Entscheidungen beratend mitwirken können“, berichtet Samuel Kabue aus Kenia, derzeitiger Geschäftsführer von EDAN. „Wir sind aber auf eine sehr abweisende Haltung der nicht behinderten Teilnehmer und Teilnehmerinnen gestoßen.“ Am Ende habe nicht wirklich geklärt werden können, welche Rolle Menschen mit Behinderung innerhalb der Kirche spielen sollen. Den behinderten Teilnehmern sei klar geworden, dass sie sich untereinander vernetzen müssen, um ihre Belange besser in den ÖRK einbringen zu können. Dies sei der Startschuss für EDAN gewesen.

Autorin

Katja Dorothea Buck

ist Religionswissen- schaftlerin und Journalistin in Tübingen.

2003 veröffentlichte das Netzwerk ein Papier unter dem Titel „Kirche aller“, das bei der Tübinger Tagung diskutiert wurde. Darin werden die Kirchen wegen ihrer traditionellen Auffassung von Behinderung kritisiert, die behinderte Menschen als Schwache sieht und als Objekte der Nächstenliebe. Die Kirchen sollten außerdem aufhören, Behinderung als Strafe für Sünden oder als Zeichen mangelnden Glaubens beziehungsweise dämonischen Wirkens zu erklären. Stattdessen sollten sie Menschen mit Behinderung auf Augenhöhe begegnen und sie als gleichberechtigten Teil der Kirche anerkennen.

„Wenn Menschen mit Behinderung nicht uneingeschränkt in die Kirche integriert werden, ist sie nicht Leib Christi und nicht Ebenbild Gottes“, heißt es in „Kirche aller“.  Behinderung sei ein soziales Konstrukt; Heilung, eine der Hauptaufgaben von Kirche, müsse als Aufhebung gesellschaftlicher Schranken verstanden werden. Eine zentrale Forderung des Papiers besteht darin, dass die Kirchen und Christen das Ringen der behinderten Menschen um Selbstverwirklichung auf ihre Tagesordnung setzen müssen.

Im Gegensatz zur UN-Konvention für die Rechte von behinderten Menschen von 2008  versteht sich „Kirche aller“ als ein Diskussionsbeitrag auf dem Weg zu einem neuen Verständnis von Behinderung. Damit kann das Papier nach Meinung von William McAllister, dem Geschäftsführer der Behindertenhilfsorganisation CBM in Großbritannien, wirksamer sein als das UN-Abkommen, das sich in erster Linie an Regierungen richtet. Vor allem in Entwicklungsländern ändere sich für behinderte Menschen erst etwas, wenn sich grundlegende gesellschaftliche Ansichten wandelten. „Wer, wenn nicht die Kirchen,  können solchen Wandel bewirken“, sagte McAllister.

erschienen in Ausgabe 11 / 2010: Arabische Welt: Umworben und umkämpft
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