„Solidarität mit den Armen über Religionsgrenzen hinweg“

Bei der Befreiungstheologie, die sich gegen die Unterdrückung der Armen richtet, denkt man zuerst an die christlichen Bewegungen in Lateinamerika. Doch auch im Islam gibt es eine solche Richtung, und einer ihrer prominentesten Vertreter ist Farid Esack aus Südafrika. Der Professor für islamische Studien kämpft seit vielen Jahren gegen Armut und Unterdrückung – gemeinsam mit Vertretern anderer Religionen. Die Grundlage dazu liefert ihm der Koran, den er zu diesem Zweck immer wieder neu interpretiert – was in der muslimischen Gemeinschaft nicht alle gutheißen.

„Befreiungstheologie ist eine Theologie, die wie jede Theologie von der Suche nach dem Transzendenten handelt. Diese Suche aber hat ihren Ort insbesondere unter den Marginalisierten.“ Ein kahlköpfiger Mann, der ein langsames und eindringliches Englisch spricht: Farid Esack, Professor für islamische Studien an der Universität Johannesburg. Er gilt als einer der wenigen Vertreter einer islamischen Befreiungstheologie. Esack ist ein zugewandter und angenehmer Gesprächspartner, aber kein einfacher. Das will er auch nicht sein. Er will kein „liberaler“ oder „progressiver“ Muslim sein, als der er gerne nach Amerika, England oder Deutschland eingeladen wird.

Autor

Christoph Fleischmann

ist Diplom-Theologe und arbeitet als freier Journalist in Köln.

Esack wünscht sich einen prophetischen Islam. Es geht ihm nicht nur um das Verstehen und das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Religionen. Die Lage der Welt, mit der Esack die Religionen konfrontiert sieht, sei charakterisiert „durch Ungerechtigkeit und Ausbeutung, der Reduzierung von Menschen zu Ware und durch Tod durch Verhungern oder Überfressen“. Wenn sich ein interreligiöser Dialog dieser Situation nicht stelle, dann verkomme er zur „Stärkung des ideologischen Rahmens der Mächtigen“.

Esacks Theologie war nicht immer auf die weltweite Situation der Religionen fokussiert, aber der Text, auf den er sich bezieht, ist immer derselbe: der Heilige Koran, den er im freien Vortrag oder Gespräch auf arabisch zitiert, bevor er die englische Übersetzung mitliefert. Ein Schriftgelehrter ist er, kein Soziologe. Aber einer der sagt: „Ohne Kontext ist ein Text wertlos.“

Der erste Kontext für Esacks Theologie war Südafrika während der Apartheid. Dort wurde er 1957 als Kind indisch-indonesischer Eltern geboren und galt damit als „farbig“, was ihn zum Opfer der rassistischen Politik machte. Er wuchs im Geist eines konservativen Islam auf und studierte mit einem Stipendium in Pakistan Theologie. Bei seiner Rückkehr nach Südafrika hatte er sich dem Milieu entfremdet, in dem er aufgewachsen war. Mit anderen jungen Muslimen gründete er die Organisation „Call of Islam“, die sich gegen die Apartheid zur Wehr setzte, gemeinsam mit Organisationen anderer Religionen.

In der islamischen Gemeinschaft war das umstritten. Die islamischen Autoritäten in Südafrika unterstützten die Apartheid zwar nicht. Doch sie sahen sich auch nicht zum Widerstand gezwungen, solange sie ihre Religion ausüben konnten. Konservative Kleriker hielten es für ein Problem, mit anderen Religionen gemeinsam gegen die Rassentrennung zu kämpfen. Die Andersgläubigen wurden als „kafirun“ gesehen, als Ungläubige, mit denen man nicht zusammenarbeiten dürfe, weil damit das Zeugnis verdunkelt würde, dass es nur im Islam wahre Befreiung geben könne.

Esack machte andere Erfahrungen: 1984 wurde er mit 18 Geistlichen verschiedener Religionen verhaftet und in eine Zelle gesperrt, nachdem sie widerrechtlich eine Township betreten hatten. In der Zelle feierten sie einen interreligiösen Gottesdienst: „Wir entdeckten unser gemeinsames Engagement für und unser Bedürfnis nach Gott. Allan Boesak machte den Anfang mit einer Schriftlesung, Pastor Lionell Louw sang mit uns, Hassan Solomon betete und ich predigte. Dann standen wir auf und sangen die Hymne der Befreiungsbewegung: Nkosi Sikelel‘ iAfrika (Gott segne Afrika).“ Für Esack war das ein Dialog zwischen Religionen, wie er sein sollte: „In acht Stunden brachen Jahre der Verdächtigungen und des Misstrauens zusammen.“

Zugleich war es eine Erfahrung, die einer Erklärung bedurfte. Anders gesagt, der Kontext stellte neue Fragen an den Text: „Wenn man im Koran liest, dass man keine Freunde unter Christen und Juden haben solle, wie geht man damit um, dass man mit genau diesen Menschen gegen die Apartheid kämpft?“ Und was bedeutet es, wenn Gegner und Befürworter des Kampfes sich auf denselben Text beziehen? Esack bearbeitet diese Fragen in seinem grundlegenden Werk „Qur‘an, Liberation and Pluralism“, das 1997 erschienen ist. Sein hermeneutischer Dreh- und Angelpunkt ist die Einsicht, dass es Glaube nie außerhalb der Geschichte gebe. Der Koran ist für Esack Gottes Wort, aber im Zusammenhang einer bestimmten Zeit. Das gelte auch für seinen Interpreten: Auch er existiere nicht unabhängig von der Zeit und den gesellschaftlichen und persönlichen Umständen, die ihn geprägt haben.

So gerüstet macht sich Esack an die Auslegung des Korans: Die Suren, die die Freundschaft mit Christen und Juden verbieten, seien vor dem Hintergrund religiös-politischer Auseinandersetzungen der muslimischen Gemeinschaft mit anderen Stämmen entstanden. Die Andersgläubigen würden hier zum Beispiel als die klassifiziert, die gegen die Muslime kämpften. Die Verbote im Koran, Freundschaft mit Ungläubigen zu schließen, zielten auf die Kollaboration mit dem ungerechten Anderen, so Esack, nicht gegen eine Solidarität mit den unterdrückten Anderen. Vielmehr fordere der Koran sogar solch eine Solidarität mit den Armen über die Religionsgrenzen hinweg. Als Beispiel für die Wertschätzung religiöser Vielfalt zitiert Esack wiederholt den Vers 48 der fünften Sure. „Jedem von euch gaben wir ein Gesetz und einen Weg. Wenn Allah gewollt hätte, hätte Er euch zu einer einzigen Gemeinde gemacht. Doch er will euch in dem prüfen, was Er euch gegeben hat. Wetteifert darum im Guten.“

Die Wertschätzung des Pluralismus und die Forderung nach Gerechtigkeit sind für Esack Grundlinien, die ihn verpflichten. Er will den Text in neuen Kontexten zum Sprechen zu bringen – das bedeutet nicht, eine Bedeutung über Jahrhunderte zu bewahren, sondern eine Intention zu erkennen, die vor einem anderen Hintergrund einen anderen Ausdruck finden kann und muss. So sieht Esack in den koranischen Vorschriften zum Umgang mit Frauen eine Verbesserung verglichen mit den Verhältnissen, die zur Zeit Mohammeds auf der arabischen Halbinsel geherrscht hätten. Es komme nun darauf an, die Linie in Richtung Emanzipation weiterzuziehen und nicht an den alten Vorgaben wortwörtlich festzuhalten.

In Südafrika hat sich der Fokus für Esacks Theologie geändert: Nach dem Ende der Apartheid setzte er sich als Mitglied der Commission for Gender Equality der südafrikanischen Regierung für die Gleichstellung von Frauen ein – auch innerhalb der muslimischen Gemeinschaft. Die Marginalisierten der Gesellschaft fand er in Südafrika in den AIDS-Kranken; er war einer der Gründer der Positive Muslims, die sich um HIV-infizierte Muslime kümmern.

Global bleibt Esack ein unbequemer Mahner: „Ich habe ein Problem damit, wenn Muslime in den USA, die meist aus der Mittelklasse in Indien oder Pakistan kommen, unbedingt zur amerikanischen Gesellschaft gehören wollen und niemals die Frage stellen, welche Rolle die USA bei der Verarmung ihrer Heimatländer spielt.“ Damit fordert Esack von Muslimen im Westen viel, denn die sind vor allem bemüht, von den westlichen Eliten als gleichberechtigte Religionsgemeinschaft anerkannt zu werden und sich als zuverlässige Partner auf Augenhöhe zu präsentieren. Für das erste dieser beiden Anliegen hat Esack Verständnis, für das zweite nicht: Einen prophetischen Islam sieht er nicht als zuverlässigen Partner der westlichen Eliten, sondern als Störenfried, der unangenehme Fragen stellt. Es reicht ihm nicht, wenn Muslime im Westen gleichberechtigt mit am Tisch sitzen wollen. „Von einer prophetischen Perspektive müssen wir auch fragen: Wartet, Leute, wer bezahlt hier eigentlich für den Tisch? Was ist mit den Arbeitern in der Küche, die nicht bezahlt werden und die uns bedienen, und den Sklaven, die das ganze System zusammenhalten?“

 

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erschienen in Ausgabe 11 / 2010: Arabische Welt: Umworben und umkämpft
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