Verheerende Bilanz eines gewollten Krieges

Nach siebeneinhalb Jahren Krieg und Besatzung haben die USA im August ihre letzten Kampftruppen aus dem Irak abgezogen. Sie hinterlassen ein Land voller politischer und religiöser Spannungen, dessen zentrale Probleme weit von einer Lösung entfernt sind. Aber auch die Amerikaner selbst kämpfen mit den Folgen des Krieges: Zehntausende Soldaten leiden unter körperlichen oder seelischen Verwundungen. Hinzu kommen die enormen Kriegskosten, die von den Steuerzahlern finanziert werden müssen.

Der Irak bekommt möglicherweise endlich eine handlungsfähige Regierung. Anfang Oktober, mehr als sieben Monate nach der Parlamentswahl, sicherte sich der amtierende Ministerpräsident Nuri Al Maliki die Unterstützung des einflussreichen schiitischen Predigers Muktada al Sadr. Für eine regierungsfähige Mehrheit im Parlament benötigt er allerdings noch die Stimmen einiger kurdischer Parteien – die Verhandlungen dauerten bei Redaktionsschluss noch an.

Autor

Andreas Zumach

ist Journalist und Publizist in Genf.

Eine erfolgreiche Regierungsbildung in Bagdad wäre die zweite gute Nachricht aus Irak seit Beginn des anglo-amerikanischen Krieges Mitte März 2003. Die erste war die Meldung über den Sturz von Saddam Hussein, einem der schlimmsten Diktatoren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ein Diktator, dessen Vorgeschichte auch in den zahlreichen Bilanzen anlässlich des offiziell erklärten „Endes der Besatzung“ des Irak durch amerikanische Kampftruppen Ende Juli dieses Jahres verschwiegen wurde: Denn bei seinem Aufstieg an die Spitze der Macht in Bagdad Ende der 1970er Jahre hatte Washington erhebliche Hilfestellung geleistet.

In Reaktion auf die islamische Revolution im Nachbarland Iran 1979 unterstützten der Westen und die damalige Sowjetunion das Regime in Bagdad politisch und wirtschaftlich und rüsteten es militärisch massiv auf. Die Produktionsanlagen, das Know How und die Grundstoffe für atomare und chemische Massenvernichtungswaffen, deren Besitz Saddam Hussein dann nach 1990 zum Vorwurf gemacht wurden, kamen aus Deutschland und den USA, die Kampfflugzeuge und Panzer aus Frankreich und Großbritannien, und die Scud-Raketen, die der Irak im zweiten Golfkrieg 1991 gegen Israel abfeuerte, hatte die Sowjetunion geliefert.

Und so sehr der Sturz einer blutigen Diktatur zu begrüßen ist, sei doch daran erinnert, dass dieser Sturz keineswegs das ursprüngliche Ziel des Krieges gegen den Irak war. Er diente erst nachträglich zur Rechtfertigung des Einmarschs, nachdem sich die ursprünglichen Behauptungen der Regierungen Bush und Blair, das Regime in Bagdad verfüge weiter über Massenvernichtungswaffen und kooperiere mit dem Al-Qaida-Terrornetzwerk, als schamlose Lügen erwiesen hatten.

Abgesehen von diesen beiden guten Nachrichten fällt die Bilanz von siebeneinhalb Jahren Krieg und Besatzung im Irak verheerend aus; vor allem für die Irakerinnen und Iraker. Laut der Ende Juli veröffentlichten Bilanz der US-Regierung kamen seit Kriegsbeginn mehr als 108.000 irakische Zivilisten ums Leben. Das sind allerdings nur die Menschen, die unmittelbar durch Kriegshandlungen und andere Gewaltakte getötet wurden. Nicht berücksichtigt werden all jene, die starben, weil Wasserleitungen, Krankenhäuser und andere Infrastruktur zerstört waren oder Medikamente und andere lebenswichtige Güter nicht zur Verfügung standen.

Bereits im Oktober 2004 veröffentlichte die angesehene britische Medizinzeitschrift „Lancet“ eine Untersuchung , nach der die Sterblichkeitsrate im Irak sich seit Beginn des Krieges mehr als verdoppelt hatte. Laut „Lancet“ waren zwischen März 2003 und Oktober 2004 bereits rund 180.000 Iraker ums Leben gekommen – mehr als zehnmal so viele, wie die US-Besatzungsmacht damals angegeben hatte. Neben dem Leben hunderttausender Menschen wurden auch die wichtigsten Kulturgüter des Landes unwiederbringlich zerstört, darunter das Nationalmuseum mit seinen zum Teil über 5000 Jahre alten Kunstschätzen.

Bis heute ist keines der zentralen politischen Probleme des Irak gelöst. Die Verteilung der Einnahmen aus der Ölförderung ist vor allem zwischen der Zentralregierung in Bagdad und der autonomen Kurdenregion im Nordirak weiter heftig umstritten. Dasselbe gilt für den Grad der Autonomie, den Nordirak künftig haben soll. Die Kurden halten sich die Option einer völligen Abspaltung „ihres“ Territoriums offen. Innerhalb Nordiraks schwelen die Spannungen zwischen der kurdischen Mehrheit und den Angehörigen der arabischen Minderheit, die unter Saddam Hussein in den Norden zwangsumgesiedelt wurden.

Der Irak ist heute ein Schauplatz offener Spannungen und Gewalttaten zwischen Schiiten und Sunniten, die es vor dem Krieg nicht gab. Als die Amerikaner und ihre Alliierten Saddam Hussein stürzten, beseitigten sie damit nicht nur eine brutale Diktatur, sie stellten auch die damaligen Machtverhältnisse auf den Kopf. Die Minderheit der arabischen Sunniten, die über Jahrhunderte den Staat dominiert hatten, verloren ihre Macht. Die Schiiten, jahrzehntelang unterdrückt, holten sie sich. Schiitische Milizionäre beglichen alte Rechnungen, machten Jagd auf echte und vermeintliche Stützen des Regimes. Die Sunniten spekulierten auf eine Rückkehr zu den alten Verhältnissen. Sie bekämpften die Neuordnung mit allen Mitteln und ebneten den Weg für das Terrornetzwerk Al-Qaida in den Irak.

Spätestens 2006 tobte zwischen den beiden Konfessionen ein Religionskrieg, in dem es um weit mehr ging als den Irak, nämlich um das Machtverhältnis zwischen Schiiten und Sunniten in der arabischen Welt. Die US-Truppen bewirkten mit ihrer ab Anfang 2007 eingeschlagenen Strategie der Truppenaufstockung, des „Surge“, zwar einen Seitenwechsel der sunnitischen Untergrundkämpfer. Zehntausende von ihnen stellten sich in den Sold der Amerikaner, wurden von ihnen bewaffnet und dienten fortan als Bürgerwehr.

Das führte am Ende dazu, dass auch die schiitischen Milizionäre die Waffen streckten. Mit hunderten von kleinen Projekten versuchten die Besatzer, Kleinbetriebe zu stärken und Arbeitsplätze zu schaffen, Scheichs zu besänftigen und gleichzeitig die Aussöhnung der Sunniten mit dem Staat voranzutreiben. Doch das ist, wenn überhaupt, nur oberflächlich gelungen. Bagdad ist eine weitgehend schiitische und geteilte Stadt. Der „Surge“ hat nur zementiert, was die schiitischen Milizen mit der Vertreibung und Ermordung von Sunniten begonnen hatten. Der Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten ist nicht gelöst.

Seit die Amerikaner die Kontrolle an die schiitisch dominierte Regierung von al-Maliki übergeben haben, gärt es unter den sunnitischen Milizionären. Entgegen den Zusagen der Regierung erhielten nur wenige eine feste Anstellung. Wer einen Job hat, bekommt oft monatelang sein Gehalt nicht. Darüber hinaus sind in den vergangenen Monaten zahlreiche Milizenchefs Mordanschlägen zum Opfer gefallen oder ins Gefängnis gewandert. Dass sich Regierungschef Nuri al-Maliki nach dem unklaren Ausgang der Parlamentswahl eisern an seinen Posten klammert, statt die Regierungsbildung seinem laizistischen Konkurrenten Allawi zu überlassen, schürt unter Sunniten das ohnehin tief verwurzelte Misstrauen gegenüber den Schiiten. Das spielt der Al-Qaida in die Hände, die nach wie vor nicht geschlagen ist. Die Strukturen der schiitischen Milizen sind ebenfalls noch intakt. Angesichts von mehr als 2600 Toten seit Jahresbeginn 2010 ist der Krieg im Irak noch nicht vorbei.

Dramatisch verschlechtert hat sich seit 2003 die Lage für die Christen im Irak. Sie leiden unter der Verfolgung und dem Terror islamistischer Extremisten. Von den mehr als eine Million Angehörigen acht verschiedener christlicher Kirchen, die zuvor im Irak lebten – davon rund 80 Prozent Katholiken –, haben laut Erhebungen des Vatikans inzwischen über die Hälfte das Land verlassen.

Auch für die USA sind die Kosten von siebeneinhalb Jahren Krieg und Besatzung erheblich. Über 1,5 Millionen Soldaten sind seit März 2003 im Irak gewesen, 4481 haben ihr Leben verloren. Darüber hinaus wurden zehntausende Soldaten verwundet oder leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Die Versorgung dieser physisch und psychisch invaliden GIs wird die US-amerikanischen Steuerzahler in den kommenden Jahrzehnten noch viele Milliarden Dollar kosten, zusätzlich zu den bisherigen Ausgaben für Krieg und Besatzung. Diese belaufen sich auf rund eine Billion US-Dollar, wie Präsident Barack Obama anlässlich des Abzuges der letzten US-Kampftruppen Ende Juli erklärte. Zur Erinnerung: Im Juli 2003 bezifferte der damalige Vorsitzende des außenpolitischen Senatsausschusses in Washington die zu erwartenden Gesamtkosten für Krieg und Besatzung im Irak auf „maximal 74 Milliarden Dollar“. Eine Summe, so der Senator damals, die „wir innerhalb von zwei Jahren durch erhöhte Einnahmen aus der irakischen Ölproduktion wieder reinholen werden“.

Doch bis heute haben die USA selbst diese 74 Milliarden Dollar nicht wieder hereingeholt. Denn die irakische Öl-Förderquote liegt nach wie vor nur wenig über dem Niveau der letzten Jahre der Diktatur von Saddam Hussein. So haben die USA als Besatzungsmacht zwar die meisten der Verträge annulliert, die bis 2003 zwischen dem Irak und russischen, chinesischen sowie französischen Ölfirmen bestanden. Doch einen materiellen Vorteil haben sie aus ihrer sieben Jahre währenden Kontrolle über das irakische Öl nicht ziehen können. Einen finanziellen Gewinn aus Krieg und Besatzung zogen – neben einigen amerikanischen Rüstungsschmieden – lediglich Blackwater und andere private Sicherheits- und Söldnerfirmen sowie mit Wiederaufbaumaßnahmen beauftragte Logistikunternehmen wie Halliburton. Sie wurden von ihren Kontaktpersonen in der Regierung Bush – an der Spitze Vizepräsident Richard Cheney – mit milliardenschweren Aufträgen versorgt.

Auch politisch haben die USA nichts gewonnen. Ihr Ansehen und ihre Einflussmöglichkeiten in der Region Mittlerer Osten und in der gesamten islamischen Welt sind durch den Krieg, die Besatzung und die dabei verübten Verstöße gegen die Menschenrechte auf einen historischen Tiefpunkt gesunken. Ferner hat Washington durch die Beseitigung des Regimes von Saddam Hussein und der Taliban-Regierung in Afghanistan die Einflussmöglichkeiten und Handlungsspielräume des Iran in der Region erweitert. Dieses Ergebnis steht im Gegensatz zu den bislang erklärten Zielen der amerikanischen Iranpolitik.

Zu Schaden gekommen ist außerdem das Völkerrecht. Der Krieg und die Besatzung waren ein klarer Verstoß der USA und Großbritanniens gegen die UN-Charta. Die Tatsache, dass der UN-Sicherheitsrat unter großem Druck Washingtons der Besatzung des Irak seit Mai 2003 mit mehreren Resolutionen einen quasi völkerrechtlichen Anstrich gab, ändert daran nichts. Bis heute wurde dieser Bruch des Völkerrechts nicht offiziell festgestellt. In der UN-Generalversammlung hätte sich mit Sicherheit eine große Mehrheit der 192 Mitgliedsstaaten für eine Resolution zur Feststellung und Verurteilung des Völkerrechtsbruchs gefunden. Doch keine Regierung wagte es, einen entsprechenden Antrag einzubringen. Die Südafrikaner, die einen solchen Schritt erwogen, ließen unter dem starken Druck der Regierung Bush davon ab.

Lediglich UN-Generalsekretär Kofi Annan fand im September 2005 in einem Interview mit der BBC den Mut, den anglo-amerikanischen Verstoß gegen die UN-Charta einigermaßen klar beim Namen zu nennen. So hat der Völkerrechtsbruch auch keine juristischen Folgen. Zur einer Klage beim Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen in Den Haag wäre lediglich die Regierung des Irak berechtigt gewesen. Und vor dem Internationalen Strafgerichtshof (ISTGH) sind Klagen wegen eines im Jahr 2003 erfolgten Angriffskrieges nicht möglich. Denn die USA haben bis Anfang 2010 verhindert, dass dieser Straftatbestand überhaupt vom ISTGH verfolgt werden kann.

Theoretisch wären Klagen gegen den US-Präsidenten George Bush und den britischen Premierminister Tony Blair möglich gewesen. Denn als Oberkommandierende der Streitkräfte ihrer Länder trugen sie die Verantwortung für den Völkerrechtsbruch sowie für die Kriegsverbrechen und die Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht von amerikanischen und britischen Soldaten. Doch auch hier fanden sich bislang keine Kläger. Bis heute wurden lediglich einige niederrangige Soldaten für die im Gefängnis Abu Ghraib und anderswo verübten Kriegsverbrechen und schweren Menschenrechtsverletzungen verurteilt.

Der Krieg hat schließlich Folgen, die weit über Irak und den Mittleren Osten hinausreichen. Er hat in den sicherheitspolitischen Eliten vieler Ländern die Fraktion derjenigen gestärkt, die für die Beschaffung von Atomwaffen plädieren als vermeintlich einzig verlässlicher Versicherung gegen einen Angriff von außen. „Hätte Saddam Hussein doch bloß die von Washington und London behaupteten Massenvernichtungswaffen gehabt. Dann wäre der Irak niemals angegriffen worden.“ Dieser Satz ist heute nicht nur in Teheran und Pjöngjang, sondern auch in vielen anderen Hauptstädten zu hören.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2010: Arabische Welt: Umworben und umkämpft
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