Herr Nitschke, derzeit erleben wir, welche zerstörerische Kraft Religion entfachen kann. Haben Sie ein Gegenbeispiel?
Die Abschaffung der Rassentrennung, der Apartheid, in Südafrika. Sie ist ohne die Kirche nicht denkbar. Präsident Pieter Botha konnte jegliche Opposition verbieten, die Kirche jedoch nicht. Das haben schlaue Theologen erkannt und sich 1985 mit ihrem Kairos-Dokument auf die Seite der armen und unterdrückten schwarzen Mehrheit gestellt. Und sie haben ihre Pforten für sie geöffnet. Das hat der Kirche eine Glaubwürdigkeit verliehen, die bis weit in die 1990er Jahre gehalten hat. Für mich war das die prägende Erfahrung, dass Religion zur Versöhnung, zur Befriedung und zum Aufbau einer neuen Gesellschaft beitragen kann. Aber es bedarf einer besonderen theologischen Leistung, Apartheid als Häresie, also Ketzerei, zu entlarven und eine Theologie der Befreiung dagegen zu setzen. Das ist heute aktueller denn je.
In der deutschen staatlichen Entwicklungszusammenarbeit sehen Sie Religion als „Leerstelle“. Was meinen Sie damit?
In den Berichten über unsere Partnerländer finden sich keinerlei Aussagen über die Religionsgemeinschaften, die dort vertreten sind. Dabei wissen wir, dass acht von zehn Menschen sich über die Religionszugehörigkeit definieren. Und wir wissen auch, dass die Religionsgemeinschaften einen erheblichen Einfluss auf die Gesellschaften haben, in denen wir arbeiten. Als säkulare Organisation ignorieren wir diese Tatsachen. Das will das Entwicklungsministerium ändern und hat die GIZ deshalb mit dem Sektorvorhaben „Werte, Religion und Entwicklung“ beauftragt.
Woran liegt diese Ignoranz?
Wir glauben immer noch, dass wir alles über finanzielle und technische Zusammenarbeit lösen können. Wir erwarten von jedem, der religiös motiviert ist, dass er bei Gesprächen über die Zusammenarbeit mit uns seine Überzeugung und seine Religion an der Garderobe abgibt. Wenn er rausgeht, kann er sie wieder anziehen. Ein weiterer Grund liegt sicher darin, wie religiöse Organisationen aufgebaut sind. Oft ist die religiöse Landschaft sehr zersplittert. Im Islam etwa gibt es keine Vertretungsstruktur und kein Lehramt. Jeder Imam vertritt nur seine Gemeinschaft und seine muslimische Überzeugung. Wen soll man da einbeziehen? Wir erwarten auch von den Religionsgemeinschaften, dass sie auf uns zukommen und einen Vertreter für Gespräche benennen.
Es gibt also Berührungsängste auf beiden Seiten?
Ja. Bei uns herrscht die säkulare Weltanschauung vor, sie ist quasi selbst zur Religion geworden. Das bestärken islamistische Anschläge wie jüngst in Paris und Bamako. Sie zeigen, dass Religion eben auch hoch anfällig dafür ist, für Wirtschafts- und Machtinteressen oder Terrorismus missbraucht zu werden. Sie wird bei uns nicht unbedingt mit nachhaltiger Entwicklung verbunden, sondern eher mit Rückständigkeit und Extremismus. Es geht aber darum, ihr Potenzial zu entwickeln, so wie damals in Südafrika. Im Moment wird in der öffentlichen und leider auch zum Teil veröffentlichten Meinung der Islam mit Terrorismus gleichgesetzt.
Macht das Ihre Arbeit schwieriger?
Absolut. Auf der anderen Seite macht es den Bedarf deutlich – seit den Anschlägen in Paris haben wir so viele Anfragen nach Beratung und Orientierung wie noch nie. Entwicklungsminister Müller bringt das so auf den Punkt: „Wenn Religion Teil des Problems ist, muss sie auch Teil der Lösung sein.“ Wir müssen uns deshalb auch die Mühe machen zu sagen, was wir nicht tun.
Was würden Sie nicht tun?
Die GIZ würde niemals mit einer nur ansatzweise terroristisch angehauchten Gruppe zusammenarbeiten. Aber vielleicht müssen wir künftig den Missbrauch von Religion verhindern helfen, indem wir mit den Religionsgemeinschaften präventiv in sich anbahnende Konflikte eingreifen und den interreligiösen Dialog fördern.
Und was tun Sie?
In unserer Reihe „Religion matters“ laden wir im Auftrag des BMZ religiöse Führungspersönlichkeiten in das Entwicklungsministerium ein, um mit ihnen über die nachhaltige Entwicklung ihrer Gesellschaften zu diskutieren. Im Oktober waren Erzbischof Ignatius Ayau Kaigama und Emir Muhammadu Mohamed Muazu aus Nigeria zu Gast. Es ging darum, wie man Jugendlichen in Nigeria eine Perspektive geben kann, damit sie sich nicht Boko Haram anschließen. Über den interreligiösen Dialog hinaus haben Christen und Muslime mit Unterstützung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit ein Berufsbildungscollege aufgebaut. Solche Pilotprojekte, in denen es um Sinnstiftung und Orientierung geht, planen wir außerdem in Tansania, Jordanien und Indonesien. Das BMZ möchte erfahren, inwieweit konkrete Maßnahmen in der Zusammenarbeit mit religiös motivierten Organisationen vor Ort verbessert werden können.
Was können religiöse Organisationen in der Zusammenarbeit besonders gut?
Ich erhoffe mir, dass wir mit ihrer Hilfe ganzheitlicher an Entwicklung herangehen. Sie sind näher an den Menschen als die staatlichen Stellen. Sie sind vor allem in den ländlichen Regionen gut verankert und genießen oft eine hohe Glaubwürdigkeit. Sie sind verlässlich, sie sind ständig vor Ort, während wir in Drei-Jahres-Zyklen denken. Außerdem werden die meisten sozialen Dienste wie Krankenhäuser, Kindergärten und Schulen von religiösen Organisationen in unseren Partnerländern getragen.
Wo sind die Grenzen der Zusammenarbeit? Manche Themen sind heikel wie der Zugang zu Verhütungsmitteln oder der Umgang mit Homosexuellen.
Das BMZ benennt in seiner neuen Strategie, die es im Februar veröffentlichen will, Prinzipien für die Kooperation. Natürlich muss die BMZ-Strategie davon ausgehen, dass die Menschenrechte anerkannt werden, auch die Frauenrechte und die Rechte von Minderheiten. Jede Form von Extremismus und Diskriminierung werden hier ebenfalls ausgeschlossen. Auch in den Pilotvorhaben werden wir zum Beispiel im Auftrag des BMZ keine islamische Entwicklungsbank unterstützen, die ausschließlich Gutes für Muslime tut. Und wir werden überprüfen, ob die Kriterien eingehalten werden, genau wie bei anderen nichtstaatlichen Organisationen auch.
Wie stehen die kirchlichen Hilfswerke zu der neuen Strategie des BMZ?
Es gibt Vorbehalte, aber auch eine hohe Bereitschaft, sich darauf einzulassen. Die geplanten Pilotprojekte in den Partnerländern werden wir zum Teil gemeinsam mit ihnen verwirklichen. In Nigeria gibt es die Idee, mit Hilfe von Partnern von Misereor und möglicherweise auch Brot für die Welt gemeinsam den interreligiösen Dialog auszubauen. Das befindet sich allerdings noch in der Diskussion.
Nehmen christliche Hilfswerke die staatliche Entwicklungsarbeit als Konkurrenz wahr, die ihnen Partner wegnehmen will?
Das ist eine der Befürchtungen. Die Angst, instrumentalisiert zu werden, ist auf beiden Seiten vorhanden. Aber diese Einstellung ist von vorgestern. Wenn wir nur ansatzweise eine Chance haben wollen, die ambitionierten 17 neuen Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, dann geht das nur in einer neuen Qualität von Partnerschaft. Wir werden niemanden mehr außen vor lassen können.
Wie können Sie verhindern, dass religiöse Organisationen EZ-Vorhaben nutzen, um zu missionieren?
Das können nur diejenigen verhindern, die sich vor Ort auf eine Kooperation einlassen. Wir wollen das Zuhören und Voneinander-Lernen befördern. Säkulare und religiöse Akteure sollen sich gegenseitig beeinflussen und dem guten Vorbild folgen.
Wie wollen Sie GIZ-Experten für religiöse Fragen fit machen?
Wir werden eine Form entwickeln, wie wir in den Länderstudien analysieren, welche Religionsgemeinschaft wo vertreten ist und wer ihre Führer sind. Für alle, die wir entsenden, ist außerdem ein Modul in der Vorbereitung geplant. In den Regionen, in denen Religion eine besonders wichtige Rolle spielt, würde ich gerne ein Seminar für Führungskräfte anbieten, wie sie Respekt für religiöse Organisationen und Überzeugungen entwickeln und diese in ihre Entwicklungsprogramme einbeziehen können.
Wie wichtig ist die persönliche Einstellung?
Allgemein gilt ja, Religion ist Privatsache, das hat mit meinem Beruf nichts zu tun. Aber es geht nicht darum, den eigenen Glauben zu bekennen. Wir wollen den Umgang mit Religion professionalisieren, also die Fähigkeit, zu unterscheiden zwischen dem eigenen Zugang und dem Umgang damit in der täglichen Arbeit.
Viele Regierungen haben inzwischen restriktive NGO-Gesetze erlassen. Könnte es da schwierig werden für ein GIZ-Landesbüro, mit einer religiösen Organisation zusammenzuarbeiten?
Ich habe in Benin und Palästina selbst erlebt, dass Organisationen von der politischen Führung des Landes abgelehnt wurden. Künftig will das BMZ auch in den Regierungsverhandlungen mehr auf die Religionsfreiheit in den Partnerländern achten. Um die religiöse Landschaft dort besser zu verstehen, müssen wir als Sektorvorhaben den entsandten Fachkräften in den Botschaften und Landesbüros ein Analyseinstrument an die Hand geben, mit dem sie die religiösen Akteure besser einschätzen können.
Welchen Spielraum haben Sie, wenn eine Regierung eine Partnerorganisation ablehnt?
Wenn es keine Kompromisse gibt, war es bisher so, dass der Nehmer, sprich die Partnerregierung irgendwann alle Augen zugedrückt hat, weil Deutschland bezahlt. Aber das ist nicht das Verständnis von Partnerschaft in der neuen Agenda 2030. Ich möchte das BMZ ermutigen, in Zukunft nicht nur mit Regierungen zu verhandeln, sondern andere Partner einzubeziehen. Von den Religionsgemeinschaften erhoffe ich mir, dass sie die Fragen von sozialer, ökologischer und ökonomischer Gerechtigkeit stärker aufgreifen. Da tun wir uns als staatliche Akteure oft schwer. Wir führen etwa keine Debatte darüber, dass ein gewisser Reichtum schädlich ist für Nachhaltigkeit. Wir brauchen die Werteorientierung und die Vorstellung von Genügsamkeit aus den Religionen.
Ist das nicht eine Überforderung der Religionsgemeinschaften?
Das wird mir oft entgegengehalten, aber trotzdem muss man diese Fragen stellen. Die Glaubwürdigkeit von Papst Franziskus kommt daher, dass er tut, was er sagt. Daran mangelt es am meisten auf dieser Welt. Und ich habe die Hoffnung, dass wir im Dialog zwischen staatlichen und religiösen Akteuren einen Unterschied machen können. Sonst bräuchten wir die Kooperation nicht.
Das Gespräch führte Gesine Kauffmann.
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