Italiens Außenminister Franco Frattini, bis voriges Jahr noch selbst Mitglied der EU-Kommission, kündigte Anfang September an, die Forderung Gaddafis an die EU weiterzureichen, „wahrscheinlich“ als Punkt auf der Tagesordnung des Gipfeltreffens von Europäischer und Afrikanischer Union (AU) Ende November in Libyen. Viele nordafrikanische Regierungschefs klagten, „dass sie nicht allein den Migrationsstrom nach Europa bekämpfen könnten“, sagte Frattini. Gaddafi, derzeit turnusgemäß Vorsitzender der AU, hatte den Jahrestag des Abkommens mit Italien Ende August in Rom gefeiert und bei der Gelegenheit Lohn für seine Gefälligkeiten gefordert.
Italiens Innenminister Roberto Maroni zufolge hat die irreguläre Zuwanderung nach Italien innerhalb eines Jahres um 28.000 beziehungsweise 96 Prozent abgenommen. EU-Einrichtungen wie EURODAC, die für die Registrierung von Asylsuchenden zuständig ist, oder die EU-Grenzwache FRONTEX geben den Rückgang zwar nur mit 36 bis 77 Prozent an, doch die Tendenz ist eindeutig. Auch Spanien hat den Zustrom stark vermindert, um 72 Prozent. Gegenwärtig werden laut EURODAC rund 60 Prozent aller irregulären Zuwanderer in die EU in Griechenland registriert.
Libyen gehört der Genfer Flüchtlingskonvention nicht an
Ausschlaggebend für diese Wende ist, dass vor allem Italien Flüchtlinge vor und sogar noch nach der Ankunft ohne Prüfung der Einzelfälle massenhaft zurückweist und nach Libyen verfrachten lässt – ein Verfahren, das nach der Genfer Flüchtlingskonvention schlicht illegal ist. Anders als die EU-Länder gehört Libyen der Konvention nicht an. Mehr noch, Libyen hat im Juni das örtliche Büro der UN-Flüchtlingsagentur UNHCR geschlossen und ihre Vertreter ausgewiesen, die einzige Instanz, die – wie begrenzt auch immer – den Umgang Libyens mit Flüchtlingen offiziell begutachten konnte. Nicht zuletzt mutige afrikanische Journalisten hatten aufgedeckt, wie miserabel festgenommene Flüchtlinge in den eigens für sie eingerichteten Lagern behandelt werden – was nicht zuletzt einem weit verbreiteten Rassismus geschuldet sein dürfte, dem offenbar auch Gaddafi selbst anhängt: In Rom sagte er, seine Geldforderung sei im Interesse der EU, denn sonst könne Europa „zu einem zweiten Afrika werden“.
Ausgerechnet als Gaddafi das UNHCR-Büro schließen ließ, befand sich eine Abordnung von EU-Beamten in Tripoli, um einen Vertrag zur Kooperation mit Libyen in verschiedenen Bereichen zu erarbeiten, darunter in Asyl- und Migrationsfragen. Bisher war nicht zu erfahren, ob diese Delegation oder die Kommission gegen die Schließung des UNHCR-Büros protestiert hat. „Das Anbiedern an Gaddafi, die Millionenbeträge aus Brüssel, die bereits nach Libyen für die Abwehr von Flüchtlingen geflossen sind, und die Tatenlosigkeit der EU angesichts der Völkerrechtsbrüche Italiens gehören zu den widerlichsten Aspekten der europäischen Flüchtlingspolitik“, kommentierte Karl Kopp, der Europareferent von Pro Asyl, das Geschehen.