Überfordert vom politischen Alltag

Boliviens Präsident Evo Morales galt vielen als großer Hoffnungsträger im Kampf gegen Armut und Ungleichheit. Doch der Glanz der anfänglichen Erfolge verblasst – in den Niederungen der Politik erweist sich seine Regierung als wenig geschickt. Die Opposition versucht, diese Schwächen zu nutzen.
La Paz im vergangenen November: Auf der Plaza San Francisco geben sich die Demonstranten gleichsam die Klinke in die Hand: Montags sind es die Kleinhändler, dienstags die Spediteure, mittwochs die Lehrer, die in einem der nach wie vor ärmsten Länder Lateinamerikas lautstark für ihre Forderungen eintreten. „Rebellion in the Veins“ (Rebellion in den Adern) heißt ein Standardwerk über die Politik und die Geschichte Boliviens des britischen Politologen James Dunkerley aus dem Jahr 1984. Damals hatte das Land gerade 18 Jahre zum Teil blutiger Militärdiktaturen hinter sich gelassen. Und damals wie heute ist die bolivianische Gesellschaft so zerklüftet wie die Geografie des Andenlandes – und in hohem Maße organisiert und kämpferisch.

So war es stets – bis Evo Morales im Januar 2006 mit seiner „Regierung der sozialen Bewegungen“ (Movimiento al Socialismo – MAS) in den Palacio Quemado einzog. Groß waren die Erwartungen und das Vertrauen, das dem Mann aus der Lehmziegelhütte, dem ersten „Indio-Präsidenten“ seit 500 Jahren, entgegengebracht wurde. Vier Jahre später, im Dezember 2009, wurde er bei vorgezogenen Neuwahlen mit 64 Prozent wiedergewählt. Seine MAS verfügt seitdem im Parlament über eine Zweidrittelmehrheit. Die neue Verfassung vom Januar 2009 ist beispielhaft beim Schutz von sozialen und ökologischen Rechten, und räumt den Indigenen wohl im weltweiten Vergleich die meisten Rechte ein.

Dank hoher Rohstoffpreise geht es der Exportwirtschaft gut – und die Öl- und Gasindustrie wurden verstaatlicht, die Einnahmen fließen direkt in die Staatskasse. Chronische Haushaltsdefizite wurden beseitigt, die Abhängigkeit von Auslandshilfe vermindert und die Verschuldung mehr als halbiert. Keine drei Jahre nach dem ersten Amtsantritt von Morales war der Analphabetismus beseitigt. Eine Mindestpension wurde eingeführt, der Mindestlohn mehrfach angehoben. Eine Schuljahresabschlussprämie und ein Mutter-und-Kind-Bonus verbinden Sozialpolitik mit bildungs- und gesundheitspolitischen Steuerungselementen. Doch die Armut im Land ist immer noch groß und die Wirtschaft nicht diversifiziert. Die Inflation von sieben Prozent schmälert die Realeinkommen.

Sechs Jahre nachdem Morales die Macht übernommen hat, sind er und seine Regierung in den Niederungen der Politik angekommen – und erweisen sich ein ums andere Mal als nicht besonders gut vorbereitet auf die Aufgaben, die sie dort zu bewältigen haben. Eine Welle des Protestes entzündete sich zum Beispiel im vergangenen Jahr am geplanten Bau einer Straße durch den Nationalpark Isiboro-Secure (TIPNIS) östlich von La Paz am Rand des Amazonas. Auf dem Bauzaun an der Plaza San Francisco haben die indigenen Gegner des Projektes eine Botschaft hinterlassen: „Evo, no estás sólo. Estás rodeado de llunk’us – Evo, du bist nicht allein. Du bist von Speichelleckern umgeben.“ Im September und Oktober waren sie aus dem Tiefland nach La Paz marschiert, um gegen die Straße zu demonstrieren. Sie befürchten, dass die Straße die Natur zerstört und ihren Lebensraum beeinträchtigt. Schon während des Marsches hatten sie nicht mit den zuständigen Ministern reden wollen, sondern nur mit dem Präsidenten oder allenfalls mit dem Außenminister David Choquehuanca, der auch ein Indigener ist.

Dagegen wollen die Befürworter der Straße, darunter ebenfalls Indigene, aber auch illegale Siedler aus dem Schutzgebiet, dass das unzugängliche Gebiet erschlossen wird. Sie blockierten den Protestmarsch; dazwischen stand die Polizei. Als die Gegner des Projekts den Außenminister für vier Stunden entführten, um den Durchgang zu erzwingen, löste die Polizei den Marsch am 25. September gewaltsam auf. Heute will niemand den Einsatzbefehl gegeben haben. Aus Protest dagegen traten zwei Minister und ein Vizeminister zurück. Morales entschuldigte sich und stoppte das umstrittene Straßenprojekt per Dekret. Vorläufig. Anfang Februar hat die Regierung angekündigt, die Entscheidung über den Bau der Straße solle per Volksbefragung herbeigeführt werden. Das Ergebnis der Befragung der 64 Gemeinden im Nationalpark sei für das Parlement bindend, hieß es.

Der Nationalpark Isiboro-Sécure (Territorio Indígena y Parque Nacional Isiboro Sécure – TIPNIS) wurde von der Regierung Jaime Paz Zamora 1990 geschaffen. Sie reagierte damit auf den historischen Marsch der Tieflandindianer für „Land und Würde“, der den Regierungssitz La Paz im September 1990 erreichte. Das Natur- und Indígena-Schutzgebiet ist mit 1,2 Millionen Hektar fast fünfzig Mal so groß wie der Nationalpark Bayerischer Wald. Es handelt sich um eine Zone von subtropischem Regenwald am Fuße der Andenkette, eine der niederschlagreichsten Regionen der Welt, ökologisch äußerst empfindlich. Das Gebiet wird von den Flüssen Isiboro und Sécure eingeschlossen und ist nach starken Regenfällen oft unzugänglich, besonders während der Regenzeit.

Traditionell lebten dort Mojeños, Chimanes, Yuracaré und Yuquis als Jäger, Sammler und Fischer – heute in Verbindung mit Ackerbau; zum Teil wurden sie in den 1950er Jahren erstmals von Missionaren kontaktiert. Ihr Lebensraum war spätestens seit den 1980er Jahren von Holzeinschlag und dem Vordringen von Kokabauern bedroht. Auch nachdem die Schutzbestimmungen 1990 verabschiedet worden waren, geschah praktisch nichts, sie zu verwirklichen. Es gibt dort Erdölvorkommen, illegalen Holzeinschlag im großen Stil, illegale Besiedelung mit oder ohne Kokapflanzungen – sogar Hotels für „Ökotourismus“ sind ohne Erlaubnis gebaut worden.

Die ursprünglichen indigenen Gemeinschaften sind zum Teil bitterarm, aber manche Gruppen und Einzelpersonen sind auch am Geschäft mit dem Holz beteiligt. Das TIPNIS ist auf diese Weise zu einem hochkomplexen Universum geworden. 2009 wurden per Dekret auf 200.000 Hektar illegale Siedlungen von Zuwanderern legalisiert. 2010 kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen diesen „Kolonisatoren“ und Indigenen. Und gerade als der Protestmarsch gegen den Straßenbau unterwegs war, lieferte sich die Drogenpolizei im TIPNIS ein zwanzigstündiges Feuergefecht mit Kolumbianern um ein Kokainlabor.

Autor

Robert Lessmann

ist promovierter Politologe und Soziologe. Im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung hat er in den 1990er Jahren eine Reihe von Studien zu den Wirtschaftsreformen in Kuba geschrieben.

Die umstrittene Straße durch das Gebiet ist Teil einer regionalen Infrastrukturinitiative, der ein Dutzend lateinamerikanische Länder angehören. Im Rahmen der Initiative wurde seit 2000 eine Vielzahl länderübergreifender Infrastrukturprojekte beschlossen. Gegner sprechen von einem „neoliberalen Projekt“. So gibt es für die fragliche Straße bereits Verträge mit einer brasilianischen Baufirma; Brasilien hat mit 332 von 415 Millionen US-Dollar Baukosten außerdem den Löwenanteil der Finanzierung übernommen. Welche Güter in welchem Interesse darauf einmal transportiert werden, ist noch offen. Profitieren könnte vor allem der Handel mit Holz und Erdöl. Kritiker aus dem konservativen Lager befürchten eine „Koka- und Koksstraße“. Andererseits sucht das illegale Geschäft eher die Abgeschiedenheit – eine Straße nützt wohl mehr der Mobilität der Polizei.

Eine zentrale Rolle in der neuen bolivianischen Verfassung spielen die Rechte auf Boden und Territorium, inklusive der Nutzungsrechte, auch von Indigenen. Dass die Regierung von Evo Morales bei der TIPNIS-Straße nicht – wie von der Verfassung gefordert – rechtzeitig das Gespräch mit ihnen gesucht hat, war wohl der entscheidende politische Fehler. Er führte dazu, dass es überhaupt zu dem Marsch der Indigenen kam und sich Befürworter und Gegner gegenüberstanden. Für die Anhänger der Regierungspartei war der Protestmarsch ein abgekartetes Spiel. Wahlweise wurden die Opposition im Tiefland, die US-Botschaft und politische Kreise aus dem Exil dafür verantwortlich gemacht. In der Tat wäre es überraschend, wenn die nach einer Serie von Wahlniederlagen parteipolitisch heimatlose Rechte nicht jede Situation nutzen würde, die Regierung zu schwächen und daraus Kapital zu schlagen.

Doch für diese Schwächung muss die Regierung die Verantwortung wohl in erster Linie im eigenen Lager suchen. Vom Präsidenten abwärts verfügt sie über große Erfahrung im politischen Kampf, aber über wenig im Regieren und Verwalten. Die großen politischen Schlachten aber sind geschlagen. Und wenn man Alltagsfragen wie den Protest gegen ein Straßenprojekt primär mit der Logik des politischen Kampfes betrachtet, steht man pragmatischen Lösungen leicht im Weg. Das Vorgehen nach Gutsherrenart bei der TIPNIS-Straße ist nur ein Beispiel. Ein anderes ist ein Grenzstreit zwischen den Departments Oruro und Potosí, bei dem es um neu entdeckte Rohstoffe und Unternehmensinteressen geht. Der Konflikt ist auch eine Folge einer Autonomieregelung durch die neue Verfassung. Beide Seiten berufen sich auf Dokumente aus der Kolonialzeit und zeigen sich so unversöhnlich, dass man in La Paz darüber diskutiert hat, das Militär zu schicken, um die Streitparteien auseinanderzuhalten. Und während Morales stöhnt, man solle „alten Streit aus der Kolonialzeit“ schlichten, hatte der damalige Premierminister bereits vor mehr als einem Jahr einen Streik in Potosí, bei dem es neben anderen Streitpunkten auch um Gebietsfragen ging, durch Zugeständnisse beilegen können – nur sind sie seither nicht eingelöst worden.

Auch bei den Treibstoffsubventionen setzt die Regierung auf „Burgfrieden“: Als sie die Subventionen Ende 2010 aufhob stiegen die Preise und es kam zu den ersten Massenprotesten gegen Morales, der die Maßnahme wieder zurücknahm. „Mandar obedeciendo“, gehorchend regieren wolle er, sagte der Präsident. Bei der Vorstellung des Haushaltes für 2012 kündigte der Vizepräsident im Dezember an, die Subventionen auch in diesem Jahr zu erhalten. Bolivien erzielt mehr als die Hälfte seiner Exporteinnahmen mit Erdöl und Erdgas. Wichtigster Abnehmer ist Brasilien. Für 2011 werden die Ausfuhrerlöse insgesamt auf neun Milliarden US-Dollar geschätzt. Die Treibstoffsubventionen sollen in diesem Jahr 755 Millionen US-Dollar kosten. Sie führen dazu, dass billiges Gas und Diesel in die Nachbarländer geschmuggelt werden, während das Angebot auf dem Binnenmarkt knapp ist. Dass sie bereits unter der Regierung von Diktator Hugo Banzer eingeführt wurden, wird irgendwann keine Rechtfertigung für Untätigkeit mehr sein können.

Dass die MAS bei den Kommunalwahlen Anfang 2010 mit Oruro und La Paz zwei Hochburgen verloren hat, war ein erstes Alarmzeichen, die Benzinpreis-Unruhen zum Jahreswechsel 2010/2011 ein weiteres. Bei den Wahlen der obersten Richter im Oktober 2011 hatte die an sich bedeutungslose Opposition mit Erfolg dazu aufgerufen, ungültig zu wählen: Von den abgegebenen Stimmen waren beinahe so viele ungültig wie gültig. Die historische Tatsache, dass die Richter zum ersten Mal gewählt wurden – eine wichtige Neuerung der Verfassung –, geriet angesichts dieses Vertrauensverlusts (nicht zuletzt eine Folge der TIPNIS-Krise) völlig aus dem Blick.

Der Politologe und Philosoph Luis Tapia, Gründungsmitglied der Intellektuellengruppe „Comuna“, wirft der Regierung und der MAS gar antidemokratisches Gebaren vor und eine Politik von oben; er spricht sogar von Tyrannei. Morales jedenfalls hat versucht, mit einem Mitte Dezember einberufenen „Gipfel der sozialen Bewegungen“ gegenzusteuern: 420 Delegierte aus 47 Organisationen nahmen daran teil. Doch der Vorwurf wurde laut, es handele sich um eine reine Akklamationsveranstaltung mit handverlesenen Teilnehmern ohne jede Entscheidungsbefugnis. Im Zweifel entscheide der Präsident in der Manier eines „Sapa Inca“, eines obersten Herrschers. Frischer Wind einer Demokratisierung von unten tut ebenso Not wie eine Professionalisierung der Politik. Denn auch wenn das Bild vom „Revolutionär mit dem Stimmzettel“ blasser geworden ist: Weit und breit ist keine tragfähige Alternative zu Evo Morales und seinem „Prozess des Wandels“ in Sicht.

Neuen Kommentar hinzufügen

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
CAPTCHA
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Auto aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.
Diese Sicherheitsfrage überprüft, ob Sie ein menschlicher Besucher sind und verhindert automatisches Spamming.
erschienen in Ausgabe 3 / 2012: Hunger: Es reicht!
Dies ist keine Paywall.
Aber Geld brauchen wir schon:
Unseren Journalismus, der vernachlässigte Themen und Sichtweisen aus dem globalen Süden aufgreift, gibt es nicht für lau. Wir brauchen dafür Ihre Unterstützung – schon 3 Euro im Monat helfen!
Ja, ich unterstütze die Arbeit von welt-sichten mit einem freiwilligen Beitrag.
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!
„welt-sichten“ schaut auf vernachlässigte Themen und bringt Sichtweisen aus dem globalen Süden. Dafür brauchen wir Ihre Unterstützung. Warum denn das?
Ja, „welt-sichten“ ist mir etwas wert! Ich unterstütze es mit
Schon 3 Euro im Monat helfen
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!