„Bus fahren war schon mal schöner“

Santiago de Chile gefällt sich in der Rolle eines verkehrspolitischen Modells. Die Stadt hat früh auf private Autobahnen und private Betreiber von Bussen und Bahnen gesetzt. Im Fall der Metro funktioniert das gut. Doch an den Autobahnen sind bei dem Erdbeben im Februar die Fußgängerbrücken eingestürzt, und das Bussystem wurde mit schlecht geplanten Reformen in eine schwere Krise gesteuert.

Von Nils Brock

„Guten Morgen, tut mir leid, die Kollegen sind leider schon ausgerückt“, begrüßt uns Major Marcelo Ávalos von der chilenischen Verkehrspolizei. „Aber keine Bange, eine reine Routineangelegenheit. Auffahrunfall. Vier beteiligte Fahrzeuge, ein leicht Verletzter. In einer halben Stunde ist alles geregelt. Kommen Sie doch solange mit in mein Büro.“ Ávalos marschiert durch ein Heer von Kadetten in weißen T-Shirts und schwarzen Jogginghosen, allesamt bestückt mit Wischmopps oder Staubwedeln. Zwei Uniformierte geben Tipps beim morgendlichen Putzen der Einsatzzentrale in Santiago. „Das ist das Geheimnis unserer sicheren Straßen“, strahlt Chiles ranghöchster Verkehrspolizist. „Diese Ausbildung hier sucht ihresgleichen. Zeigen Sie mir ein anderes Land in Lateinamerika, in dem ein Polizist im Alleingang eine sechsspurige Straßenkreuzung regeln kann, wenn doch mal eine Ampel ausfallen sollte!“

Santiago gefällt sich in der Rolle einer verkehrspolitischen Modellstadt. Jahr für Jahr bestätigt sich der Trend rückläufiger Unfallzahlen auf den Straßen der knapp sechs Millionen Einwohner großen Metropole. Zu den in der Hauptstadt registrierten 1,5 Millionen Fahrzeugen gesellten sich 2009 gerade mal 120.000 Neuzulassungen. Strenge Abgaskontrollen sorgen an windstillen Tagen für eine zunehmend lichtere Smogwolke. Staus gibt es selten, auch weil täglich mehr als zwei Millionen Passagiere Bus und Metro fahren.

„Innovativ, effizient, sicher“, fast Major Ávalos die wichtigsten Zutaten des Erfolgsrezepts zusammen. „Ein Beispiel gefällig? Weil auf dem Weg zur Arbeit meist alle in die gleiche Richtung unterwegs sind, haben wir vor sechs Jahren einen ausgeklügelten Plan entwickelt, der festlegt, welche Hauptstraßen wann ihre Fahrtrichtung ändern.“ Elektronische Anzeigen mit blinkenden Pfeilen oder Hinweistafeln, auf denen die Uhrzeiten des Verkehrsflusses festgeschrieben sind – die Einwohner orientieren sich an diesen recht ungewöhnlichen Straßenschildern inzwischen wie im Schlaf.

An eine andere, weitaus strittigere Neuerung mussten sich die Autofahrer in Santiago schon Anfang der 1990er Jahre gewöhnen: gebührenpflichtige Schnellstraßen im Stadtgebiet. Kritiker schimpften damals, das linke Regierungsbündnis der Concertación setze den während der Militärdiktatur (1973-1990) eingeschlagenen Privatisierungskurs fort. Denn sowohl der Bau als auch die Gewinn versprechende Verwaltung der Mautautobahnen wurde marktorientierten Unternehmen überlassen. Das sollte das Budget des Verkehrsministeriums entlasten und die Modernisierung des städtischen Straßennetzes beschleunigen.

Inzwischen gibt es in der chilenischen Hauptstadt vier private Unternehmen, die gemeinsam weit über hundert Autobahnkilometer und zahlreiche Tunnel unterhalten, die nur Fahrzeuge mit einem eingebauten elektronischen Zählgerät benutzten können. Passiert man eine Mautstelle, muss man nicht mal vom Gas gehen. Es macht Piep und je nach Uhrzeit, Strecke und Fahrzeug werden dann zwischen einem halben und drei Euros fällig. Wem das zu teuer ist, der sollte sich einen guten Stadtplan und einen Kompass zulegen, denn die Zahlstellen zu umfahren, ist nicht einfach.

Die Verkehrspolizei hat das letzte Wort

Am Fenster fliegen gerade die hohen Leitplanken der Costanera Norte vorbei. Die Strecke gehört zum Einsatzgebiet der Verkehrspolizisten Rodrigo del Mar und Miguel Sánchez. „Auch wenn es sich hier um eine Mautautobahn handelt, haben wir vom 32. Revier das letzte Wort“, schildert del Mar die Zusammenarbeit mit der Betreiberfirma. Gemeinsam mit seinem Kollegen Sánchez sperrt er hier vor allem Unfallstellen oder liegengebliebene Fahrzeuge ab und kontrolliert die Geschwindigkeit. „In der Unternehmenszentrale, wo auf Bildschirmen die gesamte Strecke videoüberwacht wird, sitzt ein weiterer Verkehrspolizist, der uns über alle Zwischenfälle informiert“, erläutert Sánchez. Dann halten die beiden auf dem Randstreifen, um uns ihre Laserpistole vorzuführen. Im Kofferraum, gleich neben dem Warndreieck, liegen auch zwei kugelsichere Westen. „Vor allem bei Unfällen auf Autobahnstrecken, die durch Problemviertel führen, ist es besser, die zu tragen“, sagt Sánchez. Problemviertel – damit meint er einige der prekären Siedlungen am Stadtrand, die normalerweise der Maschendraht und Geschwindigkeiten um hundert Stundenkilometer vom Durchgangsverkehr fernhalten. „Stürzt ein LKW um, bilden sich dort schnell Gruppen, die zum Plündern auf die Fahrbahn kommen. Wir sind dann oft die ersten und müssen allein die Situation unter Kontrolle halten. Und nicht immer kann man davon ausgehen, dass unsere Anwesenheit wohlwollend wahrgenommen wird“, formuliert del Mar vorsichtig. Die abgeschotteten Schnellstraßen haben vielerorts eher die Segregation ärmerer Wohngegenden vorangetrieben, statt diese mit anderen Stadtteilen zu verknüpfen.

Bis zu dem Erdbeben im Februar dieses Jahres hatten die Mautautobahnen den Ruf, besonders sicher und technisch auf dem neuesten Stand zu sein. Doch der Einsturz sämtlicher Fußgängerüberführungen auf den Bezahlstrecken im Norden Santiagos hat nun die bekannte Kritik wieder auf den Plan gerufen. „Der Regierung ging es bei der Ausschreibung der Schnellstraßen in erster Linie darum, Investoren finden, man stellte keine sonderlich hohen Ansprüche an die Unternehmen“, erinnert sich der Transportökonom Sergio Jara von der Universidad de Chile. „Dies erklärt auch, warum es in einigen Vierteln bis heute an Auffahrten mangelt und die Streckenführung an anderen Stellen den Verkehrsfluss auf den öffentlichen Straßen beeinträchtigt.“

Das Auto hat Vorrang vor Bus und Bahn

„Das eigentliche Problem liegt dennoch woanders“, meint Jara: Ursprünglich sollte die Vergabe von Konzessionen im Bereich des Individualverkehrs mehr Geld für den Ausbau öffentlicher Transportmittel freimachen. „Aber darauf wurde die Verkehrsplanung nie ausgerichtet. Die Infrastruktur ist stark am Autoverkehr orientiert, für ihren Erhalt wird jährlich zehn mal so viel Geld ausgegeben wie für den Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel – die Metro nicht mitgerechnet“, sagt der Verkehrsökonom.

Die Metro Santiagos ist das eigentliche Rückgrat des Personenverkehrs. Sie hat das zweitgrößte Steckennetz Lateinamerikas und transportiert täglich mehr als eine Million Menschen. 1968 von der christdemokratischen Regierung Eduardo Frei Montalvas auf den Weg gebracht, oblag es acht Jahre später Augosto Pinochet, die erste Linie einzuweihen – und sie sogleich um einige Stationen bis vor die Militärschule zu erweitern. Solche unwirtschaftlichen Sonderwünsche gehören inzwischen jedoch der Vergangenheit an, denn bereits seit Ende der 1980er Jahre ist das einstige öffentliche Unternehmen in eine vom chilenischen Staat gehaltene Aktiengesellschaft umgewandelt worden. „Deshalb wird heute jeder Um- oder Ausbau akribisch durchgerechnet. Es muss kostendeckend gearbeitet werden, da sich die Metro ausschließlich über die Fahrpreise und die Vermietung von Werbe- und Verkaufsflächen finanziert “, meint der bekennende Metro-Fan Sergio Jara. „Die Metro ist ein gutes Beispiel dafür, dass der Staat Aufgaben auslagern kann, solange das Konzept stimmt und eine gewisse Kontrolle gewahrt wird.“

In der Verkehrsplanung hat der Bürgermeister Pablo Zalaquett nach eigener Aussage nicht viel mitzureden. Er muss sich darauf beschränken, die Straßenbeleuchtung zu erneuern und im Univiertel den konservativen Anwohnern zuliebe, „etwas gegen die öffentlichen Trinkgelage der Studenten“ tun. Viel lieber würde er ein ganz persönliches Projekt verwirklichen, „ein interkommunales Fahrradwegenetz, das nicht nur für Wochenendausflügler geeignet, sondern eine attraktive Alternative für den Weg zur Arbeit ist“, sagt Zalaquett. Bisher ist es nahezu unmöglich, länger als einen Kilometer einem Radweg zu folgen. Oft enden die Pisten ziemlich abrupt an der Grenze zweier Regierungsbezirke. „Das ist symptomatisch für den Mangel an Kommunikation zwischen den Gemeinden. Von zentralistischen Mammutprojekten wie dem Transantiago rede ich lieber gar nicht erst.“

Wenn der Transantiago, ein 2007 eingeführtes integriertes Bussystem, zur Sprache kommt, werden Santiagos Verkehrshelfer und  planer schnell einsilbig. Eigentlich sollte es den offiziellen Mobilitätsmythos der Stadt fortschreiben. Sowohl Bürgermeister Zavallett als auch die im Februar vereidigte neue Regierung machen ihre Amtsvorgänger für die „verpatzte strukturelle Umstellung“ verantwortlich. Die Verkehrspolizisten del Mar und Sánchez erinnern sich nur ungern an die „Tumulte und Straßenblockaden vor zwei Jahren“, mit denen die Fahrgäste ihrem Unmut nach der Reform Luft machten.

Das neue Bussystem sorgt für Chaos und Unfälle

„Zum großen Knall kam es nur, weil die Stadtregierung das existierende Bussystem umstellen wollte, ohne auch nur einen Peso an Subventionen zu zahlen“, analysiert der Verkehrsökonom Jara. Bis 2007 zirkulierte in Santiago eine Flotte von 8000 lizenzierten Stadtbussen, die von Kleinunternehmern mit ein bis zwei Fahrzeugen, aber auch größeren Firmen betrieben wurde. Die Fahrer konkurrierten um die Passagiere, denn ihr Lohnzettel entsprach an jedem Monatsende der Anzahl verkaufter Fahrscheine. Rasante Wettrennen, Unfälle und unregelmäßige Fahrzeiten waren an der Tagesordnung. Ein neues Einheitssystem sollte Abhilfe schaffen. Bestehende Buslinien wichen einem Zubringerservice für die Metro. „Um die bestehenden Fahrpreise zu erhalten, setzten die neuen Betreiber auf den Hauptstrecken auf große Schwenkbusse“, berichtet Jara. Anfang 2007 waren plötzlich nur noch 4000 Busse im Einsatz.

Die Auswirkungen dieser Änderungen waren enorm. „Lange Schlangen bildeten sich an den Haltestellen, Handgreiflichkeiten unter den Passieren waren an der Tagesordnung“, erzählt der ehemalige Busfahrer Alberto Vinhoss, der heute die Einhaltung des Busfahrplans an der Haltestelle Bilbao beaufsichtigt. „Auch die Metro stand kurz vor dem Zusammenbruch. Viele Passagiere fuhren lieber wieder mit dem Auto zur Arbeit, als über eine Stunde auf den Bus zu warten.“ Hinter der Forderung „Für ein öffentliches und würdiges Transportsystem“ formierte sich eine Protestbewegung. Die Fahrpreise sollten sich am aktuellen Mindestlohn orientieren und nicht an der kalkulierten Gewinnspanne der Betreiberfirmen. Als die Opposition einen Untersuchungsausschuss einberief, zog die Regierung die Notbremse. Zwei Monate lang blieb die Beförderung kostenfrei, um die Gemüter zu beruhigen, mittels Subventionen wurden seither zusätzliche Busse auf die Straße geschickt und die Fahrpreise stabil gehalten.

Dank der staatlichen Zuschüsse sind die Warteschlangen zur Feierabendzeit nun deutlich kleiner geworden. Doch die finanzielle Unterstützung ist umstritten, „denn eine Sache ist es, von Beginn an ein Joint Venture unter öffentlicher und staatlicher Beteiligung zu planen, eine ganz andere, mit Steuereinnahmen die Verlustrechnung der Betreiberfirmen zu decken“, meint Jara. „An unseren Löhnen kann das jedenfalls nicht liegen“, scherzt Vinhos gequält. „Als Busfahrer habe ich früher an guten Tagen das Doppelte verdient. Heute wird das Gehalt gekürzt, wenn ich es nicht schaffe, die Abfahrtszeiten einzuhalten.“

Laut Aussagen der vierzehn Betreiberunternehmen sind allein die Schwarzfahrenden an den roten Zahlen Schuld. Nur vier von fünf Passagieren zahlen mit ihren Prepaid-Chipkarten wie vorgesehen an den Lesegeräten neben der Fahrerkabine. Monatlich fünf Millionen Euro gehen nach Angaben des Verkehrsministeriums so verloren. Der seit Februar regierende Präsident Sebastián Piñera, der im Wahlkampf wiederholt angekündigt hatte, den Transantiago zu reformieren, hat deshalb nun einen „Anti-Schwarzfahrplan“ vorgelegt. Er sieht eine Verdopplung der Bußgelder auf 80 Euro vor, schärfere Kontrollen und den Bau von Busstationen mit überwachten Zugängen in jenen Stadtbezirken, wo am häufigsten nicht gezahlt wird.

Höhere Fahrpreise, niedrigere Löhne für Schaffner

Statt weiter zu subventionieren, werden mit öffentlichen Mitteln künftig Passagiere diszipliniert und dafür gesorgt, dass sich der Betrieb der Busunternehmen kostendeckend über die Fahrgeldeinnahmen finanziert. „Erneut übernimmt das Verkehrsministerium hier Aufgaben, die eigentlich die Betreiber selbst regeln müssten. Die Passagiere haben davon jedenfalls nicht viel“, sagt der Verkehrsökonom Jara mit Blick auf die angekündigte monatliche Erhöhung der Fahrtpauschale um zehn chilenische Pesos. Das entspräche einer jährlichen Verteuerung um 15 Eurocent. Außerdem soll die Beförderungsdauer des Einheitstickets für Metro und Bus von zwei auf eine Stunde reduziert werden.

„Ein klarer Bruch mit dem ursprünglichen Konzept des Transantiago, denn eigentlich sollten die 2007 gültigen Beförderungstarife nicht erhöht werden“, beschwert sich auch der Stationsaufseher Vinhos. Vor drei Jahren noch schimpfte der frühere Busfahrer lieber auf die Demonstranten, die sich über drohenden sozialen Ausschluss im Nahverkehr beschwerten. „Denn die Einführung des Einheitstickets machte für die meisten Passagiere den Transport damals sogar billiger. Aber die langfristige Entwicklung scheint eine andere zu sein. Immer höhere Fahrpreise für die Passagiere, gleichbleibend niedrige Löhne für uns Angestellte.“ Vinhos nimmt einen Schluck Kaffee aus seinem Thermosbecher. „Bus fahren war auch schon mal schöner.“

 

Nils Brock ist freier Journalist in Lateinamerika und lebt in Chile.

erschienen in Ausgabe 9 / 2010: Korruption: Geld, Amt und Macht

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