Der Erfolg einer Friedensmission wird heute nicht nur daran gemessen, ob sie ein Friedensabkommen oder die Organisation von Wahlen gebracht hat. Ein zunehmend wichtiges Kriterium ist, ob sie Zivilisten schützt. Für die Demokratische Republik Kongo gilt dies ganz besonders. Denn die UN-Mission dort ist ein Vorreiter für die Entwicklung und Umsetzung von Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung. Im Jahre 2000 wurde die UN-Mission in der Demokratischen Republik Kongo (MONUC) als eine der ersten Friedensmissionen vom UN-Sicherheitsrat mandatiert, Zivilisten zu schützen. Nach einer Reihe von Massakern wurde dieses Mandat sukzessiv verstärkt, bis MONUC 2008 als erste UN-Friedensmission angewiesen wurde, den Schutz der Zivilbevölkerung zur obersten Priorität zu machen. Die Missionsleitung hatte die schwierige Aufgabe, das idealistische Mandat in die Praxis zu übertragen. Denn wie der Schutz bewerkstelligt werden sollte, war mit dem Mandat nicht geklärt.
Zivilisten schützen ist schwierig
Zivilisten zu schützen ist äußerst anspruchsvoll, und dafür sind UN-Blauhelme als Soldaten weder ausgebildet noch ausgerüstet. Die Bevölkerung in Kriegsgebieten ist einer ganzen Reihe von ineinandergreifenden Bedrohungen ausgesetzt; neben direkter Gewalt und Menschenrechtsverletzungen leidet sie auch an Kriegsfolgen wie Hungersnöten und Krankheiten. Um sie zu schützen, ist eine komplizierte Abstimmung verschiedener Hilfsorganisationen notwendig. In dem riesigen und größtenteils sehr schlecht zugänglichen Terrain des Ost-Kongo mit zahlreichen bewaffneten Gruppen ist das besonders schwierig. Zahlenmäßig ist die 2010 in MONUSCO unbenannte Friedensmission in der Demokratischen Republik Kongo zwar die größte der Welt, aber im Vergleich zu dem Gebiet, das sie abdecken muss, sind ihre 20.000 Soldaten viel zu wenig.
Daher wurden die Peacekeeper auf mehr als siebzig kleinere und teilweise mobile Basen vor allem im Osten des Landes verteilt. Ziel war, ein möglichst großes Gebiet abzudecken und durch Präsenz Angriffe gegen Zivilisten abzuschrecken. Dazu entwickelte MONUSCO seit 2008 einige innovative Instrumente. So erhielten die Militärbasen zum Beispiel kongolesische Mitarbeiter, die den Blauhelmen, die nur kurz im Land sind, die Lage vor Ort erklären und als Bindeglied zur lokalen Bevölkerung dienen sollen. Außerdem schufen die UN-Mitarbeiter eine Art Notrufsystem, das Community Alert Network: Kontaktpersonen in den Dörfern erhielten Handys und konnten so bei Gefahr die Blauhelme alarmieren.
So brachten die UN die MONUSCO näher an die Zivilbevölkerung. Eine grundlegende Veränderung wurde dadurch aber nicht erreicht: Obwohl die lokalen UN-Kommandeure jetzt wesentlich besser über Bedrohungen unterrichtet werden, scheinen sie nach wie vor nicht entschieden einzugreifen. Die obligatorischen Patrouillen fahren weiter meistens tagsüber die Hauptstraßen entlang. Auf Notrufe wird oft gar nicht oder viel zu langsam reagiert. Im Juni 2014 griffen die Blauhelme bei einem nur neun Kilometer entfernt stattfindenden Massaker nicht ein, obwohl sie rechtzeitig informiert worden waren. Missionsintern heißt es, dass die Entsendeländer ihre Soldaten anweisen, sie sollten es ruhig angehen lassen, keine Risiken eingehen und nichts unternehmen, ohne vorher den Vorgesetzten zu fragen. Die Aktivierung der Befehlskette kann aber mehrere Stunden dauern, bis endlich ein sogenanntes Interventionsteam losgeschickt wird.
Die Zurückhaltung gilt als Schwäche
Die Untätigkeit der Blauhelme hat dazu geführt, dass sie weder von den Rebellen noch von der Bevölkerung ernst genommen werden. Zwar sind die bewaffneten Gruppen von der Ausrüstung und der Disziplin einer professionellen Berufsarmee beeindruckt. Sie sind sich aber bewusst, dass die in der Praxis kaum zum Tragen kommen. Über die Jahre haben sie die Blauhelme getestet und wissen genau, wie weit sie gehen können. Falls doch einmal ein UN-Kommandeur entschlossener auftritt, machen ihn die Rebellen mit einer Mischung aus Anerkennung und Einschüchterung wieder „harmlos“.
In einem Umfeld, in dem das Recht des Stärkeren seit Jahrzehnten rücksichtslos durchgesetzt wird, gilt die Zurückhaltung der Blauhelme als Schwäche. So werden die UN-Soldaten beim Vorbeifahren von Kindern veräppelt und mitunter mit Steinchen beworfen. Die Bevölkerung geht zudem meist davon aus, dass die UN-Mission vom Kongo bezahlt wird, und macht die Blauhelme für die ausbleibende Schutzleistung verantwortlich. Halbwahrheiten und absurde Gerüchte verbreiten sich außerdem rasant und schädigen den Ruf der MONUSCO. So wurde in der Vergangenheit behauptet, nepalesische Blauhelme hätten eine Frau entführt und gegessen, oder pakistanische Blauhelme würden Munition und Benzin an Rebellen verkaufen. Nicht selten trugen solche Gerüchte zu Demonstrationen und sogar Gewalt gegen MONUSCO und andere UN-Organisationen bei.
Die UN kann aber ihre trägen Truppen nicht einfach austauschen. Denn mangels eigener geopolitischer Interessen erklären sich keine anderen Länder bereit, Truppen zu stellen. Insbesondere wenn es darum geht, entschieden einzugreifen, sind westliche Staaten nicht willens, das Risiko toter Soldaten auf sich zu nehmen.
Das Experiment Interventionsbrigade
Um eine grundlegende Wende im Ost-Kongo zu erreichen, hat der UN-Sicherheitsrat 2013 entschieden, MONUSCO mit einer schlagkräftigen Eingreiftruppe auszustatten, der Interventionsbrigade. Sie ist mandatiert, Gewalt anzuwenden, wenn es nötig ist, und Rebellengruppen zu „neutralisieren“. Dieser einmalige Schritt stellt die bislang offensivste Form des Peacekeeping dar und wird allgemein als Experiment für künftige Standards gesehen. Die ungefähr 3000 Soldaten der Brigade werden von Südafrika, Tansania und Malawi gestellt und bestehen neben Infanterie aus Artillerie-, Aufklärungs- und Spezialeinheiten. Diese Truppen sind gut ausgerüstet und hoch motiviert.
Im Vorfeld wurde stark diskutiert, ob die Interventionsbrigade nicht schädliche Folgen bringen würde. Sie macht die UN zum aktiven Teilnehmer am Konflikt, und als Kriegspartei verliert die UN strenggenommen ihren speziellen rechtlichen Schutz unter verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen und Konventionen. Besonders humanitäre Organisationen zeigten sich besorgt, dass sie den Zugang zu Rebellengebieten verlieren und sogar wie in Afghanistan zum Ziel für Attacken werden könnten. Um diese schwierige Situation zu meistern, wurde der deutsche Krisendiplomat Martin Kobler im Juni 2013 zum Leiter der Mission berufen.
In der gemeinsamen Offensive von UN und kongolesischer Armee gegen die M23-Rebellen im August 2013 ging die Interventionsbrigade entschlossen vor und verlor einige Soldaten. Genau das verschaffte ihr den Respekt von Rebellengruppen, kongolesischen Sicherheitskräften und der Bevölkerung. Als im November 2013 mit militärischen und diplomatischen Schritten die Auflösung der M23 erreicht wurde, war die Euphorie groß. Die kongolesischen Soldaten hatten endlich einen wichtigen Sieg errungen und die UN erfreuten sich unerwarteter Beliebtheit. Plötzlich wurden die internationalen Organisationen, trotz ihrer Unterschiede, wieder insgesamt als hilfreich angesehen. Die Interventionsbrigade wurde entgegen aller vorigen Bedenken als großer Erfolg gefeiert.
Der Umschwung führte zu großer Nervosität unter vielen Rebellen; im Laufe der folgenden Monate kamen immer mehr Deserteure auch aus anderen bewaffneten Gruppen in MONUSCOs Demobilisierungslager. Selbst der kampfeslustige und für seine Brutalität gefürchteten Milizen-Chef Cheka ging mit seinen Kämpfern der Interventionsbrigade aus dem Weg.
Doch die Hoffnung auf weitere Siege und tiefgreifende Veränderungen hat sich nicht erfüllt. Zum einen stellte die M23 mit ihrer klassischen Kriegführung eine Ausnahme unter den zahlreichen Rebellengruppen des Ost-Kongo dar: Die meisten gehen bewaffneten Auseinandersetzungen aus dem Weg und ziehen sich zurück. Auch haben sie zumindest in den eigenen Hochburgen mehr Rückhalt unter der Bevölkerung als die M23. Selbst die Mitglieder der aus Ruanda stammenden Hutu-Miliz FDLR sind mittlerweile seit 1994 im Ost-Kongo und haben im Laufe der Jahre geheiratet und Kinder bekommen. Sie können sich im Land versorgen und schaffen es im Zweifelsfall leicht, in der Bevölkerung unterzutauchen.
Über Jahrzehnte haben sich persönliche, wirtschaftliche und politische Interessen der Rebellen mit denen lokaler und nationaler Eliten vermengt. Und in der Folge verschiedener Schritte, frühere Rebellen in die Armee aufzunehmen, bestehen die kongolesischen Sicherheitskräfte zum größten Teil aus ehemaligen Rebellen. Manchmal scheint es unter denjenigen, die miteinander und gegeneinander gekämpft haben, mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zu geben.
Lieber im Busch bleiben als desertieren
Mehr noch: Die Regierung von Joseph Kabila scheint kein wirkliches Interesse daran zu haben, die Lage zu stabilisieren. So hat sie zum Beispiel 2014 über hundert desertierten Rebellen in den Demobilisierungslagern verhungern lassen. Das war ein deutliches Zeichen an alle Rebellen, die sich ergeben wollten, lieber im Busch zu bleiben. Um das zu verstehen, muss man den Krieg im Ost-Kongo als andauernden Ausnahmezustand begreifen. Die Kongolesen sind daran mittlerweile gewöhnt. Die derzeitigen Eliten sind daraus hervorgegangen und an der Fortdauer des Status quo interessiert. Dabei geht es nicht nur um einzelne Deals. Vielmehr sind ihre Netzwerke, ihre Fähigkeiten und ihre Autorität für den Ausnahmezustand entwickelt worden. Vermutlich wären sie gar nicht in der Lage, in einem befriedeten Land „normal“ zu wirtschaften. In jedem Fall wäre die Umstellung riskant und würde für sie Konflikte und erhebliche Kosten bringen.
So scheint Präsident Joseph Kabila seit 2001 eher damit beschäftigt, politisch und praktisch zu überleben, als grundlegende Veränderungen anzugehen. Zur Machterhaltung werden im Kongo seit Jahrzehnten unterschiedliche Gruppen gegeneinander ausgespielt. Die Rebellengruppen stellen dabei so etwas wie Figuren in einem Schachspiel dar; sie aus dem Spiel zu nehmen, würde die Handlungsmöglichkeiten der Herrschaftseliten einschränken. Die FDLR dient für das Regime Kabila beispielsweise dazu, den militärisch und wirtschaftlich überlegenen Nachbarn Ruanda abwechselnd zu bedrohen und ihm in Verhandlungen etwas anbieten zu können.
International bietet der Ausnahmezustand eine dauerhafte Entschuldigung für Probleme wie Demokratiedefizite und schlechte Regierungsführung. Dies wird gerade vor den für 2016 geplanten Wahlen deutlich. Kabilas Regime will sich derzeit vor allem von der internationalen Intervention emanzipieren – wahrscheinlich um freie Hand für Repressionen gegen die Opposition zu haben. So kam es Anfang des Jahres zu einem diplomatischen Eklat: Die kongolesische Regierung tauschte eine Woche vor einer geplanten gemeinsamen Militäroperationen gegen die FDLR die beiden führenden Generäle plötzlich aus. Die neuen Generäle standen aber wegen Menschenrechtsverletzungen auf einer roten Liste der UN. Die MONUSCO lehnte deshalb die Zusammenarbeit ab. Daraufhin sagte die Regierung mit Verweis auf ihre Souveränität die geplante Offensive ab und beendete grundsätzlich die militärische Zusammenarbeit mit den UN.
Autor
Janosch Kullenberg
ist Politikwissenschaftler und promoviert an der Universität Bremen über internationale Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung inKriegsgebieten am Beispiel des Kongo.Fazit: Die UN-Mission im Kongo hat einige Erfolge zu verzeichnen. Sie hat geholfen, 2002 den Krieg zu beenden, in den sich mehrere afrikanische Länder eingeschaltet hatten. Sie hat das Land während der Übergangszeit 2002-2006 stabilisiert und zwei Wahlen ermöglicht. Gleichzeitig hat aber die Verpflichtung, mit der Regierung zusammenzuarbeiten, die Mission und ihren seit 2013 amtierenden Leiter Martin Kobler ausgebremst. Seit Anfang 2015 hat Kobler sich vergeblich dafür eingesetzt, dass die kongolesische Regierung wieder mit den UN kooperiert. Ende September ist er zurückgetreten und hat öffentlich die politische Blockade beklagt.
Die Zusammenarbeit mit der kongolesischen Regierung muss überdacht werden. Falls das Regime nicht ernsthaft daran interessiert ist, die Situation zu verbessern, verbietet sich eine weitere Unterstützung. Denn bislang wird das Regime von den Vereinten Nationen legitimiert, eventuell sogar künstlich am Leben erhalten. Die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen bieten der internationalen Gemeinschaft die Möglichkeit, ihre Intervention grundsätzlich zu verändern. Die Weichen dafür müssen allerdings jetzt gestellt werden. Wenn es Präsident Kabila gelingt, eine dritte, derzeit von der kongolesischen Verfassung verbotene Amtszeit durchzusetzen, geht das Spiel weiter. Der größte Verlierer wäre wie immer die Bevölkerung.
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