Vom Beobachter zum Kämpfer

Zum Thema
Zukunft der Friedenseinsätze
Pasqual Gorriz/UN Photo
Ein indischer Blauhelmsoldat überwacht 2012 die Grenze zwischen Israel und dem Libanon.
Friedenstruppen
Die Vereinten Nationen konnten während des Kalten Krieges nur Friedenstruppen mit eng begrenztem Auftrag entsenden. Seitdem sind ihre Aufgaben gewachsen, sie dürfen mehr Gewalt einsetzen – und sie haben damit weniger Erfolg.

Seit Gründung der Vereinten Nationen (UN) vor 70 Jahren hat der Sicherheitsrat 71 Peacekeeping-Missionen mandatiert, 55 davon sind abgeschlossen. Unterm Strich waren diese Einsätze relativ erfolgreich. Das gilt zumindest für die Missionen während des Kalten Kriegs bis Ende der 1980er Jahre. Zwar hat der Sicherheitsrat allein in den fünf Jahren von 1989 bis 1994 mehr Einsätze, nämlich 17, beschlossen als in den 40 Jahren davor. Ein Grund für diesen Anstieg liegt darin, dass die USA und die Sowjetunion sich nicht mehr gegenseitig blockierten: Die Einflusssphären und Hinterhöfe der beiden Großmächte, in denen UN-Missionen ausgeschlossen waren, gab es nicht mehr. Dennoch ist die Erfolgsbilanz des Peacekeeping seitdem viel ernüchternder. Warum?

Peacekeeping war in der 1945 verabschiedeten Gründungscharta der Vereinten Nationen nicht ausdrücklich vorgesehen. Die Charta enthält in Kapitel 7 lediglich Bestimmungen, nach denen die Weltorganisation zur „Wiederherstellung von Frieden und internationaler Sicherheit“ Kampftruppen entsenden oder Mitgliedstaaten ermächtigen darf, militärische Mittel einzusetzen. Diese Bestimmungen kamen in den 45 Jahren des Kalten Krieges nur zwei Mal zur Anwendung: 1950 entsandten die UN Truppen in den Korea-Konflikt, zu denen 16 Staaten beitrugen, den Großteil stellten aber die USA. Der Sicherheitsrat beschloss das Mandat für diesen Einsatz in Abwesenheit seines ständigen Mitgliedes Sowjetunion, das im Korea-Konflikt auf Seiten des kommunistischen Nordens stand. Die Regierung in Moskau boykottierte damals zeitweise die Sitzungen des Rates und anderer UN-Gremien, weil die UN Taiwan statt Rotchina anerkannt und als Mitglied aufgenommen hatten. Damit verzichtete die Sowjetunion auf die Möglichkeit, den Beschluss zur Entsendung von UN-Truppen in den Korea-Krieg mit einem Veto zu verhindern.

Im zweiten Fall Ende 1990 legitimierte der Sicherheitsrat die UN-Mitgliedstaaten zum Einsatz „aller erforderlichen Mittel“, um die irakischen Besatzungstruppen aus Kuwait zu vertreiben. Das geschah dann auch unter Führung der USA Mitte Januar 1991.

Vom in der Charta gar nicht vorgesehenen Instrument des Peacekeeping hingegen machte die Weltorganisation während des Kalten Kriegs viel öfter Gebrauch: Insgesamt 14 Missionen beschloss der Sicherheitsrat in dieser Zeit, unter anderem im Nahen Osten, im zwischen Indien und Pakistan umkämpften Kaschmir und auf Zypern. Die erste Mission datiert auf das Jahr 1948: Der Sicherheitsrat entsandte damals Militärbeobachter, um den Waffenstillstand im ersten Krieg zwischen Israel, den Palästinensern und verschiedenen arabischen Nachbarstaaten zu überwachen (United Nations Truce Supervision Organisation, UNTSO).

Viele erfolgreiche Missionen

Unter dem Dach dieser Mission laufen bis heute zwei weitere Einsätze im Nahen Osten: Die UNDOF (United Nations Disengagement Force) überwacht seit dem Jom-Kippur-Krieg 1973 die Waffenstillstandszone zwischen Israel und Syrien auf den Golanhöhen; und die UNIFIL (United Nations Interim Force in Lebanon) mandatierte der Sicherheitsrat im März 1978 nach dem Rückzug der israelischen Besatzungstruppen aus Südlibanon.

Bei allen 14 Peacekeeping-Missionen der Jahre 1948 bis 1988 gab es einen Waffenstillstand entlang einer klar definierten geographischen Linie sowie die ausdrückliche Zustimmung der Konfliktparteien zur Stationierung von Blauhelmsoldaten; nur unter dieser Bedingung entsandte der Sicherheitsrat UN-Soldaten. Deren Auftrag war ausschließlich, den Waffenstillstand zu überwachen oder eine Pufferzone zwischen den Konfliktparteien zu sichern und ein Wiederaufflammen der Gewalt zu verhindern. Bewaffnet waren die Blauhelme lediglich mit Pistolen und Gewehren zur Selbstverteidigung.

Den meisten dieser Missionen gelang es, weitere Kriegshandlungen dauerhaft zu verhindern. Einige, wie der Einsatz 1965-66 in der Dominikanischen Republik, endeten mit einer von den UN vermittelten politischen Konfliktlösung, die eine weitere Präsenz der Blauhelme überflüssig machte. Oder sie sorgen bis heute für relative Ruhe wie auf Zypern, wo 1964 Friedenstruppen stationiert wurden, um einen Krieg zwischen der türkischen und der griechischen Volksgruppe zu verhindern.

Kritiker sagen allerdings, der griechisch-türkische Konflikt sei mit der Stationierung der Blauhelmsoldaten eingefroren worden und die Staatengemeinschaft habe sich seitdem nicht mehr ernsthaft um eine politische Lösung auf der geteilten Insel bemüht. In anderen noch laufenden Missionen, in denen es kurzzeitig wieder zu Kriegshandlungen kam (Indien-Pakistan, Naher Osten), trugen die Peacekeeper dazu bei, neue Waffenstillstände auszuhandeln.

In Somalia waren erstmals US-Soldaten beteiligt

Dieses Modell der Friedenssicherung ist seit Ende des Kalten Krieges weitgehend Geschichte. Die UN-Missionen ab 1989 fanden unter zum Teil erheblich veränderten Rahmenbedingungen statt, ohne dass das Mandat der Blauhelmsoldaten und ihre Einsatzregeln den neuen Herausforderungen angepasst wurden. So gab es zu Beginn der Peacekeeping-Operation zur Befriedung des Bürgerkrieges in Somalia (UNOSOM) 1992 weder eine handlungsfähige Zentralregierung noch einen Waffenstillstand zwischen den drei Bürgerkriegsparteien. UNOSOM hatte den Auftrag, die bewaffneten Auseinandersetzungen zu beenden, die Konfliktparteien an den Verhandlungstisch zu bringen und Voraussetzungen für überwachte Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zu schaffen.

An diesem Einsatz beteiligten sich erstmals in der Geschichte von UN-Friedensmissionen auch die USA – zumindest nominell: Tatsächlich wurden die von Washington entsandten Soldaten nicht in die UNOSOM integriert, sie handelten ausschließlich auf Befehl der US-Regierung. In einer spektakulären, von den US-Fernsehsendern zur besten Sendezeit live übertragenen Aktion landeten schwerbewaffnete US-Kampftruppen an der Küste Somalias und begannen in klarem Widerspruch zum Mandat der UNOSOM mit der Jagd auf den Führer einer der drei Bürgerkriegsparteien. Bei den folgenden Kämpfen starben 18 US-Soldaten, einige wurden an Autos gebunden durch die Straßen der Hauptstadt Mogadischu geschleift.

Die Fernsehbilder dieser Misshandlung führten in den USA zu großer Empörung. Präsident Bill Clinton erklärte, nach dieser Erfahrung würden sich die USA „nie mehr an Friedensmissionen der UN beteiligen“. Das ist bis heute parteiübergreifend die Haltung der großen Mehrheit der politischen Eliten in Washington und hatte zur Folge, dass sich die USA aus militärischen UN-Friedensmissionen bislang vollständig herausgehalten haben. Sie sind aber ihr größter Geldgeber: In das UN-Budget für Peacekeeping zahlen sie den größten Regelbeitrag.

Entscheidend verändert wurden die militärischen Missionen nach den Erfahrungen der UN-Schutztruppe UNPROFOR (United Nations Protection Forces), die der Sicherheitsrat ab 1991 nach Kroatien und Bosnien-Herzegowina entsandte. Der Rat hatte damals die bosnische Hauptstadt Sarajevo und fünf weitere von serbischen Milizen belagerte Städte zu „UN-Schutzzonen“ erklärt. UNPROFOR hatte den Auftrag, die Bevölkerung in diesen Zonen gegen Angriffe zu schützen sowie die Lieferung humanitärer Hilfe zu gewährleisten.

Realitätsfernes Mandat, unangemessene Einsatzregeln

Doch an dieser Aufgabe ist die Mission weitgehend gescheitert. Das lag nicht etwa, wie seinerzeit zahlreiche Medienberichte suggerierten, an der Unfähigkeit oder gar der Feigheit der rund 120.000 Blauhelmsoldaten aus Europa, Kanada, Lateinamerika, Asien und Afrika, die zwischen 1991 und 1996 im ehemaligen Jugoslawien stationiert waren. Entscheidend waren vielmehr das völlig realitätsferne Mandat des Sicherheitsrates, die unangemessenen Einsatzregeln und die unzureichende Ausrüstung der Peacekeeper.

Es gab während des dreieinhalbjährigen Krieges in Bosnien-Herzegowina nie einen verlässlichen Waffenstillstand. Zudem war die Aufgabe der Blauhelmsoldaten, Lastwagenkonvois mit humanitärer Hilfe sicher durch feindliches Umland bis zu ihrem Ziel zu begleiten, viel eskalationsträchtiger als die Bewachung einer Waffenstillstandslinie wie etwa seit 1964 auf Zypern. Dennoch gingen Einsatzregeln und Ausrüstung von UNPROFOR kaum über die der Zypern-Mission hinaus.

Das Scheitern von UNPROFOR fand seinen Höhepunkt im Juli 1995, als serbische Milizen die ostbosnische UN-Schutzzone Srebrenica eroberten und rund 8000 ihrer männlichen muslimischen Einwohner ermordeten. Für dieses Ereignis tragen die beiden ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates USA und Frankreich erhebliche Mitverantwortung. Die Regierungen in Washington und Paris verhinderten, dass das zwischen den UN und der NATO im Februar 1993 vereinbarte Verfahren zum Einsatz von NATO-Luftstreitkräften gegen Angriffe auf die UN-Schutzzonen in Srebrenica angewandt wurde.

Das Scheitern in Somalia, Bosnien-Herzegowina sowie 1994 in Ruanda, wo die 15 Mitgliedstaaten des  UN-Sicherheitsrates trotz der dringenden Aufforderung durch Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali nichts unternahmen, um den Völkermord an den Tutsi zu verhindern, führte zu einer intensiven Debatte zur Reform des Peacekeeping. Im Jahr 2000 legte eine von Generalsekretär Kofi Annan einberufene Kommission unter Vorsitz des ehemaligen algerischen Außenministers Lakhdar Brahimi eine Reihe von Reformvorschlägen vor. Um die Glaubwürdigkeit von UN-Missionen insbesondere in Bürgerkriegssituationen zu erhöhen, müssten sie mit „robusten Mandaten“ ausgestattet werden, heißt es darin.

Diese Empfehlung wurde inzwischen in vielen Fällen umgesetzt. Die Blauhelmtruppen heute, insbesondere in den Einsätzen zur Befriedung von Gewaltkonflikten auf dem afrikanischen Kontinent, sind viel besser ausgerüstet und stärker bewaffnet; die Mandate sind erheblich robuster als noch in Somalia und Ex-Jugoslawien. Die ursprüngliche Peacekeeping-Mission in der Demokratischen Republik Kongo (MONUC) wurde vom Sicherheitsrat 2010 sogar zu einer „Stabilisierungs-Mission“ (MONUSCO) nach Kapitel 7 der UN-Charta verschärft. Die Soldaten dürfen „alle erforderlichen Mittel“ einsetzen, um ihren Auftrag zu erfüllen.

Kritiker monieren, die UN-Mission im Kongo sei inzwischen zu einem „Kriegseinsatz“ mutiert ohne Aussicht, das Land längerfristig zu befrieden. Befürworter des verschärften Mandats hingegen argumentieren, nur mit einem aktiven militärischen Vorgehen der Blauhelmsoldaten ließen sich die zum Teil aus Nachbarstaaten operierenden Milizen im Kongo zurückdrängen.

Im Brahimi-Bericht wurden die Mitgliedstaaten auch aufgefordert, der Weltorganisation verlässlich und auch vorab ausreichende Truppen und militärische Logistik zur Verfügung zu stellen. Allerdings hat die Bereitschaft der 193 UN-Mitglieder dazu seit der Vorlage des Berichts vor 15 Jahren kaum zugenommen: Die Peacekeeping-Abteilung in der New Yorker UN-Zentrale muss wie eh und je für jeden Einsatz ausreichend Soldaten zusammensuchen.

Autor

Andreas Zumach

ist Journalist und Publizist in Genf.
Beispiel Südsudan: Nachdem der Sicherheitsrat unmittelbar nach Ausbruch des neuen Bürgerkriegs im jüngsten UN-Mitgliedstaat im Dezember 2013 die bestehende UN-Mission dort um rund 6000 Personen aufgestockt hatte, dauerte es Monate, bis die dringend benötigte Verstärkung vor Ort war. Nach wie vor stellen Länder des Südens wie Indien, Pakistan und Bangladesch das meiste Personal für UN-Friedensmissionen.

Von den fünf ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates haben sich lange Zeit nur Großbritannien und Frankreich beteiligt, seit einigen Jahren ist China mit insgesamt rund 3000 Soldaten, Polizisten und Beratern dabei, vor allem im Südsudan. Bei der jüngsten UN-Generalversammlung im September in New York sagten rund 50 Mitgliedstaaten insgesamt 40.000 zusätzliche Peacekeeper für UN-Missionen zu, China will 8000 weitere Soldaten und Polizisten beisteuern. Die Weltorganisation soll außerdem zusätzliche Hubschrauber, Trainingsmaterial und Gerät zur medizinischen Versorgung erhalten.

Und Deutschland? Die Bundesregierung hat neben zivilem Personal vor allem Ausbilder für Peacekeeper aus Drittstaaten und für den Aufbau von Missions-Hauptquartieren versprochen und außerdem mehr Polizei: Die Obergrenzen für den Polizeieinsatz in Mali und im Südsudan sollen leicht angehoben und ein Neuengagement in Somalia und Haiti geprüft werden, heißt es aus dem Auswärtigen Amt. Bisher ist die Bundesrepublik fast völlig abstinent. Von den rund 100.000 Blauhelmen, die Anfang September 2015 weltweit im Einsatz waren, kamen lediglich 159 aus der Bundeswehr: 0,18 Prozent. Noch geringer ist der Anteil deutscher Polizisten in UN-Missionen: 20 von 13.200.

Neuen Kommentar hinzufügen

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
CAPTCHA
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Skateboard aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.
Diese Sicherheitsfrage überprüft, ob Sie ein menschlicher Besucher sind und verhindert automatisches Spamming.
erschienen in Ausgabe 11 / 2015: Blauhelme: Abmarsch ins Ungewisse
Dies ist keine Paywall.
Aber Geld brauchen wir schon:
Unseren Journalismus, der vernachlässigte Themen und Sichtweisen aus dem globalen Süden aufgreift, gibt es nicht für lau. Wir brauchen dafür Ihre Unterstützung – schon 3 Euro im Monat helfen!
Ja, ich unterstütze die Arbeit von welt-sichten mit einem freiwilligen Beitrag.
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!
„welt-sichten“ schaut auf vernachlässigte Themen und bringt Sichtweisen aus dem globalen Süden. Dafür brauchen wir Ihre Unterstützung. Warum denn das?
Ja, „welt-sichten“ ist mir etwas wert! Ich unterstütze es mit
Schon 3 Euro im Monat helfen
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!