Leben am Abgrund

Janice Perlman Favela. Four Decades of Living on the Edge in Rio de Janeiro. Oxford University Press, New York 2010, 412 Seiten, ca. 24 Euro

Patricia hat es geschafft. Die 33-Jährige hat einen gut bezahlten, sicheren Job an einer Privatuniversität in Rio de Janeiro. Ihr Freund verdient ebenfalls gut, gemeinsam können sie sich sogar eine eigene Wohnung leisten. Ihr Zuhause an der Copacabana ist nur 45 Minuten Autofahrt von der Favela „Nova Brasília“ entfernt. Doch aus drei Generationen in ihrer Familie ist Patricia die erste, der es gelungen ist, dem riesigen Armenviertel im Norden der brasilianischen Megastadt endgültig den Rücken zu kehren. Ihr Großvater Zé Cabo lebt noch immer in einer Favela. Patricia ist seit 14 Jahren nicht mehr dort gewesen. „Das ist viel zu gefährlich“, sagt sie.

Patricias Geschichte ist der fast optimistisch stimmende Einstieg in das spannende Buch der US-amerikanischen Wissenschaftlerin und Stadtplanerin Janice Perlman, das 40 Jahre Forschung in drei Favelas von Rio de Janeiro zusammenfasst. Doch es wird schnell klar, dass sie eher die Ausnahme ist als die Regel: Mehr als die Hälfte von Patricias Cousins und Cousinen sind arbeitslos, viele von ihnen wohnen in einer Favela. Perlman lernte Patricias Großvater im Jahr 1969 kennen. Damals kam sie zum ersten Mal nach „Nova Brasília“, um das Leben von Slumbewohnern zu untersuchen. In drei verschiedenen Favelas führte sie Interviews mit 750 Frauen und Männern zwischen 16 und 65 Jahren.

30 Jahre später kehrte sie zurück und konnte unter großen Schwierigkeiten 41 Prozent der ursprünglich Befragten ausfindig machen, um sie nach Veränderungen in ihrem Leben zu fragen. Denn eine der Favelas, Catacumba, in der Perlman während ihrer ersten Studie gelebt hatte, war inzwischen abgerissen worden. Die rund 10.000 Einwohner wurden willkürlich auf andere Viertel verteilt. Die Wissenschaftlerin führte bei ihrem zweiten Aufenthalt außerdem Gespräche mit Kindern und Enkeln ihrer früheren Gesprächspartner. Auf diese Weise gelingt ihr eine faszinierende Langzeitstudie, die deutlich macht, mit welchem Ehrgeiz und mit welcher Zielstrebigkeit die meisten Favela-Bewohner danach streben, der Armut zu entkommen – um von einem „niemand“ zu einem „jemand“, einer geachteten Person, zu werden.

Zugleich zeigt Perlman, wie unendlich schwierig das ist. Das hängt nicht vorrangig mit materiellen Werten zusammen. Zwar konnten laut Perlman die meisten Favela-Bewohner ihren Lebensstandard im Laufe von drei Generationen erhöhen. Doch viele von ihnen haben das Gefühl, minderwertig zu sein, so verinnerlicht, dass es ihnen schwerfällt, selbstbewusst auf- und für ihre Belange einzutreten. Sie fühlen sich nicht als Teil der Gesellschaft. „Ich dachte, wenn meine Frau und ich hart arbeiten, nur zwei Kinder bekommen und sie auf Privatschulen schicken, würde ich jemand werden“, sagt Nilton, einer der Befragten, bei der zweiten Begegnung mit Perlman. „Doch auch nachdem ich all das getan habe, bin ich Lichtjahre davon entfernt.“

Selbst Frauen und Männer, die nach Aussehen, Kleidung und Sprache der Favela entwachsen scheinen, sind aufgrund unsicherer Arbeitsverhältnisse oft nur eine Handbreit von einem Absturz entfernt. Ein kleiner Unfall oder ein Diebstahl kann ihr Leben schnell aus dem prekären Gleichgewicht bringen. Perlman zeigt, dass der Kampf für ein besseres Leben nicht nur von persönlichen Einstellungen und Fähigkeiten, sondern eben auch von äußeren Umständen und Zufällen bestimmt ist. Die Schaffung von sicheren und ausreichend bezahlten Jobs ist ihrer Ansicht nach die wichtigste Aufgabe bei der Bekämpfung von Armut.

Besonders für Jugendliche sind das mangelnde Selbstwertgefühl und die soziale Ausgrenzung fatal. Es führt dazu, dass sie die Schule abbrechen, viel zu früh schwanger werden oder sich kriminellen Banden anschließen, um sich wichtig und überlegen zu fühlen. Zu einem Teil erklärt sich daraus auch die Entwicklung, die Perlman im Rückblick auf die vergangenen 40 Jahre am meisten Sorgen bereitet: Die Ausbreitung von Drogen- und Waffenhandel und Gewalt. In vielen Armenvierteln haben Milizen oder Drogengangs die Kontrolle übernommen. Das führt zu einem Verlust von Vertrauen und zerstört den sozialen Zusammenhalt, während die Behörden nicht in der Lage sind, öffentliche und private Sicherheit zu gewährleisten.

Diese Gewalt macht längst nicht mehr an den Grenzen der Favelas halt, sondern sorgt in ganz Rio de Janeiro für Angst und Schrecken. Wohnanlagen sind mit dicken Schlössern gesichert. Autofahrern ist es inzwischen erlaubt, zwischen zehn Uhr abends und sechs Uhr morgens über rote Ampeln zu fahren, um nicht bei einem Stopp ausgeraubt zu werden. Einen Bus zu benutzen, ist ohnehin zu gefährlich.

Damit Arme wie Reiche in einer Megastadt wie Rio de Janeiro eine lebenswerte Zukunft haben, müssten sie gemeinsam gegen Gewalt, Ausgrenzung und mangelnden Respekt kämpfen, lautet Perlmans Fazit. Wie eine solche Solidaritätsbewegung aussehen könnte angesichts der schreienden sozialen Ungleichheit, der fest verwurzelten Vorurteile und der fehlenden Möglichkeiten, sich zu begegnen, beschreibt sie nicht. Aber das würde wohl auch den Rahmen dieses sehr lesenswerten und aufschlussreichen Buches sprengen. gka

 

erschienen in Ausgabe 8 / 2010: Metropolen: Magnet und Molloch

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