Von Dirk Bronger
Von 1950 bis 2000 ist die Weltbevölkerung von 2,5 Milliarden auf 6,1 Milliarden Menschen gewachsen. Heute dürfte sie bei ungefähr 6,8 Milliarden liegen. Diese Zunahme mit all ihren Folgen muss in erster Linie von den armen Ländern getragen werden – hier finden 95 Prozent des Bevölkerungswachstums statt. Noch sehr viel rasanter, um mehr als das Vierfache, hat sich das Wachstum der städtischen Bevölkerung vollzogen. Hier sind die Unterschiede zwischen Nord und Süd noch wesentlich größer: Einer Zunahme um das 2,4-fache in den Industrieländern steht eine um das 7,4-fache in den Entwicklungsländern gegenüber. Dabei hat Lateinamerika bereits heute mit 74 Prozent in Städten lebender Bevölkerung die Urbanisierungsquote der Industrieländer erreicht (Europa: 74 Prozent, Nordamerika: 76 Prozent). Asien und Afrika, die um die Mitte des 20. Jahrhunderts kaum 10 Prozent städtische Bevölkerung aufwiesen, haben mit einem Anteil von 35 Prozent beziehungsweise 34 Prozent stark aufgeholt.
Dieser als „Völkerwanderung in die Städte“ bezeichnete Prozess betrifft in erster Linie die Metropolen: Zwischen 1950 bis 2000 ist die in Millionenstädten lebende Bevölkerung fast dreimal so rasch angewachsen wie die urbane Bevölkerung insgesamt. Im Jahr 2000 lebte bereits jeder sechste Mensch in einer Millionenstadt, heute dürfte es jeder fünfte sein; zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es erst jeder vierzigste.
Diese Entwicklung begann mit London, der Hauptstadt des britischen Empire. Als dessen Schaltzentrale und Zentrum des seinerzeit reichsten und industriell am höchsten entwickelten Landes der Erde stieg London zur ersten Metropole und ersten Weltstadt der Neuzeit auf. 1801 zählte sie etwa 1,1 Millionen Einwohner. Paris folgte um 1840, die Seinemetropole war ebenfalls Steuerungszentrale eine großen Kolonialreiches. Hinzu kamen, ebenfalls noch vor 1850, New York, das Hauptziel von Immigranten aus aller Welt, sowie Tokio, die Hauptstadt des aufstrebenden Japan. Als nächste Millionenstädte folgten um 1870 Wien und Berlin. Dann aber drehte sich die Wachstumsspirale immer schneller. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es bereits 21 Millionenstädte, in seiner Mitte waren es 75, um 2000 rund 340, und bis heute dürfte ihre Zahl auf etwa 400 gestiegen sein.
Der bereits vor 45 Jahren als „Naturereignis“ bezeichnete Vorgang fand in erster Linie in den Ländern des Südens statt. Hier hat sich die Bevölkerung in den Metropolen zwischen 1950 und 2000 von 72 auf 639 Millionen fast verzehnfacht, während sie sich in den Industrieländern nur auf knapp das Dreifache (von 118 auf 353 Millionen) erhöht hat. Die eigentliche „Bevölkerungsexplosion“ vollzog sich in den Millionenstädten der Entwicklungsländer. Anstelle von Urbanisierung sollte man in der „Dritten Welt“ deshalb zutreffender von Metropolisierung sprechen.
Das jüngste Phänomen ist das der Großmetropolen oder Megastädte, hier als Stadtagglomeration mit mehr als fünf Millionen Einwohnern verstanden. Diese Untergrenze ist zugegebenermaßen willkürlich, die Mindestgröße wird heute immer häufiger mit zehn Millionen angegeben. Bis 1950 lagen sechs der sieben Megastädte in den Industrieländern. Bis zum Jahr 2000 war die Zahl der Megastädte in der „Dritten Welt“ auf 35 explodiert, in der „Ersten Welt“ ungleich langsamer auf elf gestiegen (ohne Moskau). Nur fünf Jahre später zählt man 49 Megastädte, davon 38 in Entwicklungsländern.
Das enorme Wachstum der Metropolen in der Entwicklungsländern ist sehr jung. Aber die Metropolisierung ist auch ein sehr altes Phänomen, das in Ländern der heutigen „Dritten Welt“ – nämlich den alten Hochkulturländern – seinen Ausgang nahm. Babylon zählte in seiner Blütezeit im 5. und 6. Jahrhundert vor Christus etwa 250.000 Einwohner und war damit die vermutlich größte Stadt der Erde. Zweihundert Jahre später wurde sie abgelöst von Pataliputra beim heutigen Patna in Indien, das im 4. und 3. Jahrhundert vor Christus die Hauptstadt des Maurya-Großreiches war und geschätzte 350.000 Einwohnern hatte. Die Stadt war mit 570 Türmen und 64 Toren bestückt und galt mit ihren zusätzlichen Verteidigungsgräben von 200 Metern Breite als uneinnehmbar. Sie besaß auch ein Abwassersystem, was auf einen hohen hygienischen Standard schließen lässt.
Im 1. bis 3. Jahrhundert nach Christus war Rom mit geschätzt einer Million Einwohnern die größte Stadt der Erde, ehe sie von Chang’an, der Hauptstadt der chinesischen Han- und Tang-Dynastie, abgelöst wurde. Diese Stadt soll im 6. bis 9. Jahrhundert annähernd zwei Millionen Einwohner gehabt haben. Diese Bevölkerungszahl erreichte erst wieder London um 1830.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wies Los Angeles mit jährlich 6,47 Prozent das höchste Bevölkerungswachstum von sämtlichen Metropolen der Erde auf (diese Wachstumsrate bedeutet eine Verdoppelung in rund elf Jahren). Das starke Wachstum der meisten Metropolen in den Industrieländern war aber um 1940 abgeschlossen – London büßte sogar zwischen 1939 und 1991 ein Drittel seiner Einwohnerzahl ein. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts explodierte vor allem die Bevölkerung der Entwicklungsländer-Metropolen. Allerdings gab es dabei deutliche Unterschiede. So lag das Wachstum Neu-Delhis um mehr als das Doppelte über dem von Kalkutta. Das bis 1980 besonders starke Wachstum der lateinamerikanischen Großmetropolen Sao Paulo und Mexico City schwächte sich danach deutlich ab. Dagegen nimmt in der großen Mehrzahl der Metropolen Asiens die Bevölkerung nach wie vor sehr stark zu.
Die Struktur von Städten war über mehrere Jahrtausende von ihren engen administrativen Grenzen bestimmt. Eine sehr dichte Bebauung war die Folge. In den Großstädten des Altertums drängten sich die Bewohner auf sehr kleinen Stadtflächen: Babylon maß innerhalb seiner äußeren Stadtmauern nicht einmal neun Quadratkilometer, das ummauerte Stadtgebiet von Athen, Europas erster Welthauptstadt, umfasste 1,59 Quadratkilometer, und Rom war innerhalb der im 3. Jahrhundert erbauten aurelianischen Mauer mit rund 13 Quadratkilometern für die nachfolgenden 1500 Jahre flächenmäßig die größte Stadt der Erde nach Chang’an, das mit einer Fläche von 84 Quadratkilometern etwa 6,5 Mal so groß war.
Das blieb bis weit in das 19. Jahrhundert so. Die Hansestadt Hamburg wuchs erst nach 1800 nennenswert über ihre Stadtbefestigung hinaus. Um 1800 lebten dort durchschnittlich mehr als 50.000 Einwohnern pro Quadratkilometer Siedlungsfläche (nicht Wohnfläche). Die seinerzeit zweitgrößte Stadt der Erde, Paris, zählte 1851 rund 1,325 Millionen Einwohner, von denen annähernd 80 Prozent im ehedem ummauerten, 439 Hektar „großen“ mittelalterlichen Stadtgebiet wohnten; das bedeutet eine Dichte von deutlich über 200.000 Einwohnern pro Quadratkilometer. Diese Struktur herrschte weltweit bis in die Neuzeit vor. Das gilt für Kairo ebenso wie für Shahjahnabad, das in Form eines Halbmondes erbaute Old-Delhi, sowie für die Mehrzahl der Städte in China: Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein sind sie charakterisiert von einer sehr hohen Bevölkerungsdichte im Kerngebiet und einem abrupten Übergang zum vergleichsweise dünn besiedelten Umland.
Diese – hier sehr vereinfacht gezeichneten – Stadtstrukturen wurden aus verschiedenen Ursachen in den vergangenen 200 Jahren aufgebrochen. Im abendländischen Europa dehnten sich die engen Stadtareale mit der Industrialisierung aufgrund der starken natürlichen und von Zuwanderung bedingten Bevölkerungszunahme um ein Vielfaches aus. So wuchs Paris in den vergangenen 160 Jahren von 4,39 Quadratkilometern über die „Ville de Paris“ (105 Quadratkilometer) zur heutigen „Agglomeration de Paris“ mit 2576 Quadratkilometern und fast 10 Millionen Einwohnern. In der „Neuen Welt“ Nordamerikas und Australiens zeichnen sich die Städte im Gegensatz zu allen übrigen Erdteilen von Anfang an durch eine flächenhafte Siedlungsstruktur aus. Ausdruck dieses Flächenwachstums ist das Los Angeles zugeschriebene, wenig schmeichelhafte Attribut: „Hundert Vororte auf der Suche nach einer Stadt“.
Auch in den Entwicklungsländern ließ das starke Bevölkerungswachstum nach 1940 die Stadtgebiete immer größer werden. Die große Mehrheit blieb aber auf ein Zentrum konzentriert – auch wenn die Großagglomerationen nicht selten mehrere Millionenstädte mit einschließen: Thane (1,3 Millionen) und Kalyan (1,2 Milllionen) etwa zählen zu Mumbai (Indien), Ecatepec (1,6 Millionen) und Netzahualcoyotl, kurz Netza (1,2 Millionen), zu Mexico City. Nicht nur in ihrem Stadtbild – globalisierte Hochhausarchitektur in Zentrumsnähe von Sao Paulo bis Tokio, San Francisco bis Jakarta –, sondern auch in ihrer Stadtstruktur gleichen sich die Megastädte zunehmend einander an.
Sehr viel seltener sind die erst in jüngster Zeit aus mehreren Groß- beziehungsweise Millionenstädten zusammengewachsenen polyzentrischen Ballungsräume. So ist in den vergangenen zwanzig Jahren das südchinesische Perlflussdelta infolge des Zustroms von mehr als 20 Millionen arbeitsuchenden Migranten aus armen Landstrichen Chinas zur größten Stadt der Erde mit über 40 Millionen Einwohnern aufgestiegen. Sie besteht aus den vier Großzentren Hongkong (7,0 Millionen), Guangzhou (8,7 Millionen), Shenzhen (8,3 Millionen) und Dongguan (6,6 Millionen).
Glanz und Elend liegen in Großstädten seit je eng beieinander. Jede hohe Flut habe ganze Quartiere überschwemmt und „füllte die meist bewohnten Keller mit trübem Wasser, das nach dem Ablaufen seinen Schlamm in ihnen zurückließ. Es gab kein, den Hausunrat unterirdisch abführendes Sielsystem.“ Diese Schilderung bezieht sich nicht auf die Millionenstadt Dhaka im Jahr 2000 – es geht um Hamburg, eine der reichsten Städte des Deutschen Reiches, in den 1830er Jahren, also vor der Industrialisierung. Diese verschärfte die Wohnsituation besonders in den großen Städten dramatisch. Während es im 16. Jahrhundert in vielen englischen Städten strafbar war, Abfälle auf die Straße zu werfen, wurde dies in der industriellen Frühzeit üblich. Laut einem „Bericht über den Zustand großer Städte und dicht bevölkerter Bezirke“ von 1945 dienten in einem Teil von Manchester den Bedürfnissen von über 7000 Menschen nur 33 Aborte – also eine Toilette für jeweils 212 Menschen.
Das Phänomen, dass in der großstädtischen Bevölkerung eine ständig größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich aufbricht, ist jedoch sehr viel älter. Schon Roms Aufstieg zur Weltmacht war mit einer Polarisierung seiner Einwohnerschaft verbunden, wie wir dies vor allem von den heutigen Metropolen in Entwicklungsländern kennen: Eine Handvoll Patrizier, etwa 1800 Familien, das entspricht gut einem Prozent der Stadtbevölkerung, residierten in großen palastartigen Villen, die in weitläufigen Gärten lagen. Im trostlosen Gegensatz dazu lebte die große Masse des Proletariats in den „insulae“ – über 90 Prozent der Bevölkerung waren hier untergebracht. In diesen mehrgeschossigen, zumeist heruntergekommenen Mietskasernen wohnten durchschnittlich 200 Personen, also eine Familie pro Raum. Es waren die ersten Slums der Weltgeschichte.
Auch in den heutigen Industriestaaten lebte der größte Teil der Großstadtbewohner noch bis ins 20. Jahrhundert auf engstem Raum zusammengepfercht. 1925 hatten in Berlin-Mitte die Hälfte der Wohnungen keinen Abort, 88 Prozent kein Bad, zwei Drittel kein elektrisches Licht und 97,5 Prozent keine Zentralheizung. Ähnliche Zustände herrschten in den Metropolen Europas und der USA.
Drehen wir das Geschichtsrad hundert Jahre weiter: Manila oder, wie es sich stolz seit 1970 nennt, Metro Manila, ist seit 1571 Hauptstadt des Inselarchipels der Philippinen und eine Stadt mit unendlich vielen Gesichtern. Einerseits sind das die unglaublich Reichen, die Dollar-Multimillionäre mit Chalets in Genf oder Luxuswohnung in Manhattan. Andererseits gibt es auf den untersten Sprossen der Leiter die Armen, die auf oder am Rande der riesigen Müllhalden der 17-Millionen-Metropole oder auch unter den großen Brücken als sogenannte Fledermausmenschen (bat people) leben. Sie sind ständig von Vertreibung bedroht. Es sind die wirklich Armen, wie es sie in London oder New York, Los Angeles oder Tokio kaum mehr gibt. Die absolut Armen machen meist zumindest 15 Prozent der Metropolenbevölkerung aus, die Reichen weniger als ein Prozent. Die Oberschicht wohnt heute – in zunehmenden Maße seit 1980 – aus Sicherheitsgründen in Wohntürmen oder anderen rund um die Uhr bewachten und abgeschlossenen Arealen (gated communities), denn die Reichen von Sao Paulo bis Manila haben viel zu verlieren.
Hinsichtlich der Polarisierung der metropolitanen Bevölkerung gab es bis etwa 1900 keine prinzipiellen Unterschiede zwischen Kalkutta und Berlin, Bombay und Hamburg. Zwischen dem Berlin des 19. Jahrhunderts und heutigen Megastädten in Entwicklungsländern bestehen jedoch große Unterschiede. Das liegt zum einen am Ausmaß und der Dynamik des Wachstums: Während die Berliner Bevölkerung im 19. Jahrhundert um das 11-fache zunahm, wuchs sie in Metro Manila im 20. Jahrhundert um das 31-fache, in Sao Paulo um das 61-fache, in Dhaka und Jakarta um das 65-fache und in Karachi gar um das 70-fache. In absoluten Zahlen erhöhte sich Berlins Bevölkerung um 1,7 Millionen Menschen, Manilas um fast 10, Jakartas um über 16, Sao Paulos um etwa 17 Millionen.
Allerdings sind auch Los Angeles im vergangenen Jahrhundert um das 67-fache und Südkoreas Hauptstadt Seoul um das 75-fache gewachsen. Es zählt aber zu den unbestreitbaren Leistungen der Industrie-Großstädte der heutigen „Ersten Welt“, dass sie ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entschieden gegen die gesellschaftlichen Missstände vorgingen. Die Maßnahmen reichten von öffentlicher Gesundheitsfürsorge über die Sanierung der heruntergekommenen Stadtteile, gerade auch der Altstadtbereiche, und über öffentlich geförderte Wohnungsbauprogramme bis hin zum flächendeckenden und bezahlbaren öffentlichen Nahverkehr. In den Metropolen Süd- und Südostasiens sowie Schwarzafrikas ist das ganz oder weitgehend unterblieben.
Ein ganz wesentlicher Unterschied zur heutigen Situation in Kalkutta oder Manila darf freilich nicht verschwiegen werden: Stark begünstigt, wenn nicht sogar erst ermöglicht, wurde die Sanierung der Metropolen der „Alten Welt“ durch das mit der Industrialisierung verbundene Wirtschaftswachstum. Dagegen hat in der Mehrzahl der armen Länder die Industrialisierung erst jüngst, also nach dem Bevölkerungsboom eingesetzt. So haben die Metropolen dort infolge ihres enormen Wachstums mit für uns heute unfassbaren Problemen zu kämpfen: Wohnraum- und Arbeitsplatzbeschaffung, Wasserversorgung, Verkehrsbewältigung und Luftverschmutzung. Das schlägt sich in einer weiteren Marginalisierung der armen Bevölkerung nieder. In Mumbai lebten 2001 laut offiziellen Angaben über 50 Prozent der Bevölkerung in Marginalsiedlungen – oft ohne geregelte Strom- und Trinkwasserversorgung oder Abwassereinrichtungen, auf engstem Raum in überwiegend ein- bis zweiräumigen behelfsmäßig errichteten Hütten.
Auch wenn diese bedrückenden Zustände in vielen Megastädten wie Kalkutta oder Mumbai, Manila oder Jakarta, Lagos oder Kinshasa anzutreffen sind, sollte man daraus kein Klischee machen. Schon innerhalb der behelfsmäßigen Siedlungen existieren gravierende Unterschiede, angefangen mit der Bausubstanz. In vielen der lange Zeit als Elendsviertel bezeichneten Favelas in Südamerika etwa stehen zwei- bis vierstöckige, gut ausgestattete Steinhäuser. Nicht selten grenzen sie allerdings direkt an Bretterbuden, in denen die Menschen unter nahezu unvorstellbaren Bedingungen hausen.
Dirk Bronger war bis 2003 Professor für Geographie an der Universität Bochum. Zudem lehrte er an Universitäten auf den Philippinen, in der Türkei, in Thailand und in Nepal. Er hat zahlreiche Bücher und Aufsätze über Metropolisierungsforschung veröffentlicht.