Was hat zu dem Gewaltausbruch zwischen Kirgisen und Usbeken im Juni geführt?
Manche Leute fürchten sich davor, über die ethnischen Aspekte dieses Konfliktes zu sprechen. Sie versuchen, sie auszublenden. Andere möchten die Gewalt auf den langjährigen Hass zwischen Kirgisen und Usbeken reduzieren. Ich denke, beides ist falsch. Wir müssen über Unterschiede sprechen, aber zugleich zeigen, dass dieser Antrieb zu töten andere Ursachen hatte. In dieser Region sind wir mit einer Reihe von Problemen konfrontiert. Weit mehr als ethnische Fragen spielen extreme Armut und der Kampf um Ressourcen wie Wasser eine Rolle sowie eine willkürliche Grenzziehung, die der Wirklichkeit nicht angemessen ist. Zudem fehlt es an einer Integrationspolitik, und es gibt störende politische und kriminelle Interessen von außerhalb, zum Beispiel den Drogenhandel.
Doch all das erklärt nicht ausreichend, was geschehen ist. Es ist unverständlich und erschreckend, wenn sich Menschen so verhalten. Als ich im Juni in Aravan war, hat mir eine Gruppe von Usbeken aus Osh die Dinge erzählt, die ich schon überall gehört hatte: Gewalt gegen Frauen und Kinder, Morde. Mir fiel auf, dass sie immer von „sie“ sprachen, ohne die Angreifer beim Namen zu nennen. Sie vermieden es, zu sagen, dass sie ihre Nachbarn erkannt hatten. Es ist sehr schwierig, mit diesem Wissen zu leben. Sie empfanden wohl, dass es eine anonyme, universelle Seite dieser inhumanen Gräueltaten gibt, die sie nicht mit den Namen und Gesichtern ihrer Nachbarn identifizieren können.
Wie kann dennoch die Versöhnung in Kirgistan gelingen?
Es ist viel Blut vergossen worden. Schon am 7. April, beim Sturz von Präsident Bakijew, wurden mehr als 80 Menschen getötet. Die Unruhen im Juni haben die Lage verschärft. Der Schriftsteller Iosif Brotsky hat einmal gesagt: „Die letzte Wahrheit ist, dass es keine letzte Wahrheit gibt, aber das befreit uns nicht von der Verantwortung.“ Auch wenn wir herausfänden, dass entweder Kirgisen oder Usbeken die Schuld an den Ereignissen tragen, wäre das keine Lösung. Wir müssen weiter zusammen leben. Und es gibt hoffnungsvolle Versuche: Eine Jugendinitiative in Bischkek ruft die Menschen dazu auf, optimistische Perspektiven für Kirgistan zu entwickeln. Sie verteilen T-Shirts, auf denen auf kirgisisch, russisch und usbekisch „Ich will Frieden in Kirgistan“ gedruckt ist. Solche Initiativen zeigen das Potenzial dieses Landes. Solche Botschaften brauchen wir.
Wollten die Menschen in Kirgistan mit dem Sturz von Präsident Bakijew einen politischen Wandel erreichen?
Sie haben nicht für ein anderes System gekämpft, sondern gegen das Leben, das sie führen mussten. Die Bevölkerung in diesem Land stellt keine großen Forderungen. Die meisten möchten Frieden und Ordnung. Sie sind daran gewöhnt, dass sich die Regierung selbst bereichert. Aber sie akzeptieren nicht, dass sie alles stiehlt. Bakijew und sein Clan haben den Fehler gemacht, noch nicht einmal das Minimum zu teilen und den Menschen so ein einfaches, aber anständiges Leben zu ermöglichen. Das brachte die Menge auf die Straßen. Das war kein schöner Anblick; die Menge hat mich nicht überzeugt. Ich bin nicht der Ansicht, dass das Ergebnis die Mittel rechtfertigt. Ich frage mich, ob ein Ergebnis, das mit diesen Mitteln erreicht wurde, wirklich von Dauer sein kann. Und doch verstehe ich, warum es geschehen ist. Die große Armut hat die Leute gegen ihren Präsidenten auf die Straße gebracht, nicht so sehr der Wille nach einer grundlegenden Veränderung des politischen Systems.
Wie bewerten Sie das Referendum am 27. Juni, mit dem sich die Mehrheit der Bevölkerung für die Einführung einer parlamentarischen Demokratie ausgesprochen hat?
Für die Mehrheit der Bevölkerung ist das politische System zweitrangig. Die Leute machen sich beispielsweise nicht viele Gedanken über Korruption; für sie gehört es zur Kultur, hier und da etwas zu geben, auch wenn es, wie gesagt, Grenzen für sie gibt. Nach meinem Eindruck bevorzugen die Menschen einen starken Mann, einen Führer, der die wirtschaftliche Lage des Landes verbessert, verantwortliche Entscheidungen trifft und dafür sorgt, dass sie umgesetzt werden. Die meisten Leute, die für eine neue Verfassung gestimmt haben, wollen Stabilität, aber nicht ein bestimmtes politisches System. Sie waren einfach müde nach diesen Wochen der Unruhen und der Anarchie. Sie brauchten eine Pause. Das bedeutet nicht, dass sie für eine parlamentarische Demokratie sind. Ich bin noch nicht einmal sicher, dass die Mehrheit in Kirgistan weiß, wie sich dieses System von dem vorherigen unterscheidet.
Was erwarten Sie in den kommenden Monaten?
Ich fürchte, dass die Instabilität zunimmt. Im April hat die Übergangsregierung die Chance bekommen, die Regierung des Volkes zu werden. Aber bislang hat sie sie nicht genutzt. Das Misstrauen der Menschen hat zugenommen, weil die Staatsgewalt tagelang abwesend war, als die Gewalt im Süden des Landes eskalierte. Die Regierung setzte ihre Kampagne für das Referendum fort, während in Osh und Dschalalabad weiter Menschen getötet wurden. Die Leute sehen keine großen Unterschiede zwischen den Methoden dieser Regierung und denen ihrer Vorgänger. Die Besetzung von Posten ist noch genauso intransparent wie früher. Es bestehen große Zweifel, ob Strafverfolgungsbehörden wie die Spezialkräfte, die Haushalte nach Waffen durchsuchen, immer innerhalb des gesetzlichen Rahmens operieren. Das Volk von Kirgistan hat gezeigt, dass es in der Lage ist, einen Wandel herbeizuführen. Allerdings stellt die Erfahrung, dass man eine Regierung so leicht loswerden kann, auch eine Gefahr dar. Wenn es der Regierung nicht bald gelingt, das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen, wird sie höchstwahrscheinlich nicht mehr lange an der Macht sein.
Wie könnte die Europäische Union die Entwicklung und die Stabilität in Kirgistan unterstützen?
Die Europäische Union sollte in Zentralasien eine wichtige Rolle spielen. In der Vergangenheit war ihr Engagement vor allem an ihren Sicherheitsinteressen orientiert. Doch das Beispiel dieses Landes zeigt, dass pragmatische Zusammenarbeit mit einer autoritären Regierung langfristig nicht zu Stabilität führt. Die EU sollte ihre Unterstützung deshalb auf solche staatliche Einrichtungen konzentrieren, die das Vertrauen der Menschen verdienen. Aber mehr noch sollte sie die Menschen selbst unterstützen, denn nachhaltige Veränderungen geschehen nur, wenn die Leute sie wirklich wollen.
Das Gespräch führte Martin Schuster.
Tatiana Kotova leitet seit Dezember 2008 das Regionalbüro der dänischen kirchlichen Hilfsorganisation DanChurchAid für Zentralasien. Sie engagiert sich seit 15 Jahren für den Aufbau der Zivilgesellschaft in Russland und in anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion.