Freundinnen und Helfer

Sazzad Ibne Sayed
Pflegekräfte kümmern sich um die geistig und körperlich behinderte Aporna Rani.
Medizinische Grundversorgung
In Bangladesch ist die staatliche Gesundheitsversorgung schlecht, vor allem auf dem Land. Eine private Initiative springt ein, so gut es geht: mit Hausbesuchen, mobilen Kliniken und vielen engagierten jungen Frauen.

Der Himmel ist bewölkt, aber kein Regen in Sicht. Die Schwüle ist kaum auszuhalten. In Nolam, einer etwa 30 Kilometer nordwestlich von Dhaka gelegenen Vorstadtsiedlung in der Provinz Savar, leben Fischer in einfachen Backsteinhäusern, deren Küchen noch aus Lehm gebaut sind. Als ich durch die engen Gassen gehe, höre ich in der Morgenstille befremdlich klingende, herzzerreißende Schreie. Aporna Rani, ein siebenjähriges Mädchen mit körperlichen und geistigen Behinderungen, ist auf der Dachterrasse eines einstöckigen Hauses an einen Pfosten gefesselt. Sie stöhnt unter der drückenden Hitze und verlangt nach ihrer Mutter, der 25-jährigen Shefali Rani. Shefali muss sie festbinden, so grausam es auch ist.

An einem abgelegenen Ort wie Nolam gibt es für solche Kinder keine geeignete Betreuung. „Sie ist schon ein paarmal vom Dach gefallen; sie beißt, und wenn man sie sich selbst überlässt, isst sie ihre eigenen Ausscheidungen. Wir können sie aber nicht dauernd beaufsichtigen. Ihr Vater geht schon frühmorgens auf Fischfang, ich muss für die Familie sorgen, und ihre Geschwister sind alle noch klein“, erklärt Shefali.

„Wir haben die Ärzte um Rat gefragt, aber ihr Fall ist aussichtslos. Wenigstens kommt jetzt jeden Tag eine Pflegekraft vom Gesundheitszentrum Gonoshasthaya Kendra, um nach ihr zu schauen und ihr Medikamente zu geben.“ Ihr Kind sei jetzt etwas ausgeglichener, aber immer noch sehr schwierig, sagt Shefali. Sie reinigt den Altar für die Göttin Kali an der Ecke ihres Hauses und dankt den Göttern für die Unterstützung durch Gonoshasthaya Kendra (GK).

Das Gesundheitszentrum GK entstand während des Befreiungskrieges von 1971 als Feldlazarett mit 480 Betten für verwundete Freiheitskämpfer und Flüchtlinge. Damals hieß es „Bangladesh Field Hospital“. Als der Krieg vorbei war, wurde es umbenannt und 1972 als gemeinnützige öffentliche Stiftung registriert. „Gonoshasthaya Kendra“ bedeutet Volksgesundheitszentrum. Die Organisation versorgt die arme Landbevölkerung in Bangladesch mit vielfältigen und innovativen medizinischen Dienstleistungen.  

„Unsere Angebote müssen drei Kriterien erfüllen: Sie sollen leicht zugänglich, erschwinglich und jederzeit verfügbar sein. Wenn es um die Gesundheit geht, rechnen die Bauern genau. Sie fordern in erster Linie Qualität. Deshalb müssen wir uns anstrengen, um ihr Vertrauen zu gewinnen“, erklärt der Koordinator, Dr. Manzur Kadir Ahmed.

Gonoshasthaya Kendra bietet in seinen dezentralen medizinischen Camps eine umfassende und preisgünstige Gesundheitsfürsorge in drei Kategorien. Neben täglichen Hausbesuchen durch ausgebildete Hilfskräfte gibt es für jeweils einen Tag geöffnete mobile Camps, Krankenstationen, in denen Operationen vorgenommen werden können, und zwei Spezialkliniken in den Städten Savar und Dhaka, in denen komplizierte Fälle behandelt werden. In Savar betreibt GK auch eine medizinische Fachschule.

Medizinische Hilfskräfte sind das Rückgrat der Versorgung

„Das staatliche Gesundheitswesen in Bangladesch funktioniert oft nur schlecht, weil es zu wenige Ärzte gibt. Die Kranken müssen zwar bezahlen, aber viele werden daraufhin weder untersucht noch behandelt. Wir vom GK sind der Meinung, dass alle jungen Ärzte vor Ort in den Dörfern arbeiten müssen“, sagt Dr. Kadir.

Während der vergangenen vier Jahrzehnte hat Gonoshasthaya Kendra seine medizinischen Dienste deutlich ausgeweitet: 1972 erreichte die Organisation 50.000 Einwohner in 50 Dörfern und Städten; 2012 waren es fast 1,5 Millionen Menschen. Derzeit ist GK in 18 Provinzen präsent und zählt damit neben dem Staat zu den größten medizinischen Dienstleistern in Bangladesch.

Getragen wird die medizinische Grundversorgung durch GK von angelernten Hilfskräften, überwiegend jungen Frauen vom Land. Sayeda Mumtaz ist eine der Ausbilderinnen. Sie ist für zwei Anfängerinnen zuständig, und gemeinsam betreuen sie ein medizinisches Zentrum für vier Gemeinden, zu denen etwa 15 Dörfer mit je rund 4500 Einwohnern gehören. Das ist eine ganze Menge, doch sie behalten den Überblick über die Patienten und erfassen alle in ihrer Kartei.

Mumtaz hat viel Erfahrung, sie ist bereits seit 32 Jahren dabei. „Während meines ersten Fünfjahresvertrags bei GK habe ich eine Grundausbildung gemacht: Allgemeinmedizin, Pathologie, Röntgen und Geburtshilfe im Kreißsaal“, erzählt sie. „Die meiste Zeit habe ich mit Geburten oder auf Krankenstationen gearbeitet. Ich arbeite schon so viele Jahre bei GK, dass es für mich wie eine Familie ist. Mit meiner beruflichen Erfahrung ist auch mein Gehalt gestiegen, und jetzt bekomme ich um die 18.000 Taka im Monat“, sagt sie und lächelt. Die Summe entspricht rund 200 Euro.

Als Sayeda Mumtaz bei GK anfing, seien die Leute noch nicht an weibliches Gesundheitspersonal gewöhnt gewesen – und erst recht nicht, dass eine Frau auf dem Fahrrad zur Arbeit kommt. „Es war ein Schock für sie, und zunächst trauten sie uns nicht viel zu. Wir sollten ihnen beibringen, wie man Durchfall mit einer selbst hergestellten Salzlösung behandelt, aber sie verhielten sich abweisend und nahmen all unsere Ratschläge sehr skeptisch auf. Das hat sich inzwischen geändert“, sagt Mumtaz. Sie erzählt, dass sie der schwangeren Frau, die sie gerade berät, vor langer Zeit selbst die von den Vereinten Nationen propagierte kombinierte Schutzimpfung EPI für Kinder verabreicht hat. Damals war auch sie noch jung.

Für Amola Rani Rajbangsi, die 35-jährige Frau eines Fischers, ist Oberschwester Mumtaz wie eine alte Freundin. Sie sucht ihren Rat, weil ihre schwangere Tochter für die Zeit ihrer Niederkunft zu ihr gekommen ist; nebenbei plaudern sie über persönliche Dinge. „Heute ist der errechnete Geburtstermin. Es wurde bereits ein Ultraschall gemacht und wir rechnen mit einer normalen Hausgeburt, aber es beruhigt mich, wenn ich mit Mumtaz sprechen kann“, sagt Amola, die ihre Kinder alle mit Unterstützung von GK zur Welt gebracht hat.

Vom Impfen bis zur Ernährungsberatung ist alles im Angebot

Die Ausbildung der Helferinnen gehört zu den wichtigsten Programmen von GK. Wenn ein Mädchen im Pflegedienst arbeitet, steht der Familie ein zusätzliches Einkommen zur Verfügung. Diese Hilfskräfte übernehmen den größten Teil der medizinischen Versorgung in den Dörfern. Sie gehen von Tür zu Tür und betreuen die Dorfbewohner zu Hause – Frauen, Kinder, Alte, Menschen mit Behinderungen und auch die ganz Armen. Dabei notieren sie alle Vorkommnisse einschließlich standesamtlicher Vorgänge wie Geburten, Todesfälle und die Abwanderung von Bewohnern. Einmal pro Monat erstatten sie darüber Bericht.

Sie behandeln einfache Krankheiten und bieten vorbeugende Maßnahmen an. Sie impfen, bieten Ernährungsberatung an, helfen bei der Familienplanung und der Geburtsvorbereitung, kümmern sich um neugeborene und um größere Kinder, bieten Physiotherapie und Ayurveda an und messen den Blutdruck. Die medizinischen Helferinnen sind auch für die Hygieneberatung zuständig; bei Bedarf schneiden sie Fingernägel und helfen bei der Bekämpfung von Läusen und Krätze. Wenn sie ein Problem nicht lösen können, steht ein Arzt zur Verfügung. Für je sechs Helferinnen gibt es eine übergeordnete Fachkraft. Doch die Helferinnen sind für die Kranken die erste Anlaufstelle; schwierigere Fälle werden an die Krankenhäuser und Spezialkliniken überwiesen.

Der 22-jährige Fischer Opu Rajbangsi bezeichnet Gonoshasthaya Kendra als eine segensreiche Einrichtung, besonders für die Armen. „Meine Frau hatte einen Kaiserschnitt und war neun Tage lang im Krankenhaus, aber ich musste nur 2000 Taka bezahlen.“ Das sind etwa 23 Euro. Er selbst sei wegen Typhus in Behandlung gewesen und sein Nachbar wegen Rheuma. Die Krankenberichte seien zuverlässig und den Ärzten könne man vertrauen. „Sie hören zu und gehen auf die Probleme der Patienten ein. Zwar ist die Behandlung für die Allerärmsten besonders billig, aber auch sie müssen etwas bezahlen, und wenn es nur ein Taka ist“, sagt der junge Mann.

Traditionelle Hebammen werden regelmäßig fortgebildet

GK bietet auch eine solidarische Krankenversicherung auf kommunaler Basis an. Sie gewährt jedem Versicherten unabhängig von seiner finanziellen Lage Anspruch auf medizinische Leistungen, von der Grundversorgung bis zu anspruchsvollen Behandlungen. Die Höhe der Beiträge steigt mit dem Einkommen. Versicherungskarten sind nach dem Einkommen, dem Familienstand und der sozialen Lage gruppiert. Für einen Ultraschall etwa werden zwischen 100 und 300 Taka verlangt. Wer keine Karte hat, zahlt den vollen Preis.

Im gynäkologischen Bereich arbeiten die medizinischen Hilfskräfte mit traditionellen Geburtshelferinnen wie Hazara Begum zusammen. Sie ist die gefragteste Hebamme in Nolam. Alle zwei Jahre nimmt sie an Fortbildungskursen teil. „Wenn Komplikationen auftreten und wir zum Beispiel Sauerstoffmasken oder einen Kaiserschnitt brauchen, wenden wir uns an die GK-Mitarbeiterinnen. Sie unterstützen uns bei der Entbindung oder bringen die Frauen ins Krankenhaus“, sagt Hazara und erklärt, dass dank dieser engen Zusammenarbeit die Mütter- und Kindersterblichkeit stark zurückgegangen ist und Folgeschäden seltener auftreten. 

Die traditionellen Geburtshelferinnen sind ein wichtiger Teil des sozialen Gefüges im ländlichen Bangladesch. Meist sind es geachtete ältere Frauen aus den Dörfern, die mit den althergebrachten medizinischen Praktiken vertraut sind. Sie stehen im direkten Kontakt mit den jungen Frauen in den Dörfern und genießen ihr Vertrauen. Laut Schätzungen kommen die meisten Kinder bei Hausgeburten unter Mitwirkung einer solchen Hebamme zur Welt. „Heutzutage bekommen die traditionellen Geburtshelferinnen jedes Jahr eine etwa einwöchige Weiterbildung, damit die Mütter- und Kindersterblichkeit noch weiter gesenkt werden kann“, sagt GK-Ausbildungsarzt Md. Taimus Ali. 

Die GK-Mitarbeiterin Beauty Rani Shaha bildet seit zwanzig Jahren Helferinnen aus. „Unser Lehrplan umfasst Anatomie, Physiologie, Gynäkologie und Geburtshilfe, die Betreuung Neugeborener und die Gesundheitsfürsorge für Mütter und Kinder. Die Ausbildung dauert drei Jahre: zwei Jahre Unterricht und ein Jahr Praxis. Danach bekommen die Frauen einen Zweijahresvertrag bei GK. Während dieser Zeit müssen sie in den Dörfern arbeiten. Wir nehmen jedes Jahr drei Mal neue Auszubildende auf, insgesamt 120. Es sind zu 80 Prozent Frauen, der Rest Männer; sie kommen aus allen Provinzen des Landes.“

Alle ausgebildeten Helfer bekommen eine Stelle bei GK. Später erhalten sie ein Diplom und können sich damit auch anderswo bewerben. In einigen Regionen bildet Gonoshasthaya Kendra auch Hebammen aus. Beauty sagt, dass die beim GK ausgebildeten Kräfte überall sehr gefragt seien. Sie bekommen gut bezahlte Stellen angeboten, auch im Ausland. „Wir wollen vielseitig qualifizierte Gesundheitshelfer ausbilden, die unterschiedliche Aufgaben wahrnehmen können, sodass ihre Fähigkeiten optimal zum Einsatz kommen.“

Alle zwei Monate reisen ganze Kliniken in die Dörfer

In dicht besiedelten Gegenden richten die Helfer mindestens ein- oder zweimal pro Monat in Schulen oder anderen Gebäuden ambulante Krankenstationen ein, die über Ultraschall- und EKG-Geräte verfügen und in denen gynäkologische Untersuchungen und andere Behandlungen stattfinden können. Schwierige Fälle werden an die GK-Krankenhäuser in Dhaka oder Savar überwiesen. Die dortigen Ärzte und Pflegekräfte sind für Notfälle rund um die Uhr im Einsatz. „Wir machen Werbung für unsere ambulanten Krankenstationen, damit die Menschen in den Dörfern dort eine fachärztliche medizinische Beratung und Versorgung in Anspruch nehmen. Die Ärzte führen Untersuchungen durch, geben Ratschläge, verteilen Medikamente und halten die Patienten dazu an, beim nächsten Termin zur Nachuntersuchung zu kommen“, erklärt der GK-Koordinator Dr. Kadir während seines Besuchs auf einer Station, bei dem er prüft, ob alles ordnungsgemäß funktioniert. 

Autor

Sazzad Ibne Sayed

ist Fotograf beim „Daily Star“ und Dozent an der Fotografie-Schule Pathshala in Dhaka.
Der 66-jährige Subhan Miah leidet nach einer Tumoroperation unter allgemeiner Erschöpfung und kommt zum ersten Mal in die Station, nachdem er erfahren hat, dass Fachärzte anwesend sein würden. Rohima Akthar (55) hat ein gynäkologisches Problem, und das Baby Nirob kommt mit neun Monaten zur ersten Kontrolluntersuchung. „Wir fangen um neun Uhr vormittags an und behandeln im Laufe des Tages mindestens 140 Patienten. Unsere Fachärzte müssen an diesen eintägigen Ambulanzen a lle zwei Monate teilnehmen“, sagt Kadir.

Gonoshasthaya Kendra hat das Konzept der ambulanten Krankenstationen mit Specialist Health Camps erweitert: In diesem Falle kommen alle zwei Monate ganze Kliniken für eine Woche in die Dörfer. Dann führen Professoren und andere Fachkräfte aus den Kliniken in Savar und Dhaka auch größere Operationen durch, wobei sie die ganze Palette von medizinischen Möglichkeiten wie EKGs, Ultraschall, Bluttransfusionen und diverse Laboruntersuchungen nutzen können. Im Bedarfsfall ruft GK die Bevölkerung zu Blutspenden auf.

In einem ressourcenarmen Land wie Bangladesch gibt es viele arme und hilflose Menschen. Hausgeburten und die Betreuung behinderter Kinder gehören zum Alltag. Die medizinische Versorgung auf dem Land ist oft schlecht. Gonoshasthaya Kendra zeigt, wie man die Menschen trotz schwieriger Bedingungen medizinisch versorgen kann. Das kann in anderen Ländern mit ähnlichen Problemen als Beispiel dienen.

Aus dem Englischen von Anna Latz.

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erschienen in Ausgabe 10 / 2015: Gesundheit: Ohne Fachkräfte geht es nicht

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