Während der 1980er Jahre fand der ÖRK als Vorkämpfer von Kampagnen, insbesondere gegen die Apartheid, viel Beachtung. Seitdem ist er weniger sichtbar. Woran liegt das?
Die Rolle der ökumenischen Bewegung im Kampf gegen die Apartheid war ein ganz spezieller Fall. Die Apartheid beruhte auf einer theologischen Ideologie, und Kirchen standen auf beiden Seiten. Ihre Stellungnahme war deshalb eng mit ihrer Identität verknüpft. Das machte es für die ökumenische Bewegung und den ÖRK so wichtig, Stellung zu beziehen. Ferner konnten die Kirchen im Westen hier auf neue Art ihre Solidarität mit den Opfern des Kolonialismus zeigen. Das hat gerade diese Bewegung spirituell beflügelt und ihr so viel Kraft gegeben. Die Kirchen und der ÖRK haben daraus für ihre Anwaltschaftsarbeit Erfahrung und Inspiration bezogen. Mit Recht wurden damit hohe Erwartungen geweckt, die wir nicht immer erfüllen können. Wir sollten uns der kritischen Frage stellen, ob wir die gemeinsame Stimme der Kirchen für Gerechtigkeit, Frieden und Menschenrechte so zu Gehör bringen, wie wir sollten.
Einigen orthodoxen Kirchen scheint der ÖRK zu politisch. Sind die Kirchen im ÖRK sich einig, dass Anwaltschaft zu ihren Kernaufgaben gehört?
Es besteht Einigkeit, dass der ÖRK eine gemeinsame Stimme der Kirchen für Gerechtigkeit, Frieden und Menschenrechte sein soll. Diskutiert wird zu Recht darüber, wann, wo und auf welche Weise das am besten geschehen soll. Es bildet sich aber ein Konsens, dass unsere Anwaltschaftsarbeit die theologische Reflexion, die Menschenrechte und den Dialog zwischen den Religionen verbinden und dass sie Solidarität mit lokalen Kirchen zeigen muss. Ein Beispiel, in dem Kirchen verschiedene Haltungen vertreten, ist der Konflikt in Israel und Palästina. Wie bei der Apartheid müssen wir ihn unter dem Gesichtspunkt der Option für die Armen, für die schwächere Seite betrachten. Und auch er betrifft die Identität der Kirchen, die in der Geschichte der Region ihre Wurzeln haben.
Der ÖRK-Zentralausschuss hat 2009 beschlossen, die Anwaltschaftsarbeit stärker zu fokussieren. Welche großen Themen möchten Sie in den Mittelpunkt stellen?
Eine Priorität ist Frieden: Wie kann unsere Forderung nach Frieden in Gerechtigkeit in verschiedenen Kontexten umgesetzt werden? Ein anderer Schwerpunkt ist der Klimawandel. Der ÖRK sollte auch weiter ein Forum für die Diskussion über wirtschaftliche Gerechtigkeit sein.
Gibt es hier einen Nord-Süd-Konflikt im ÖRK?
Nord-Süd-Spannungen gibt es ständig, weil unsere Lebensumstände so verschieden sind. Die Globalisierung hat allerdings dafür gesorgt, dass es den “Süden”, also ausgeschlossene Menschen und Regionen, inzwischen überall gibt, selbst in Deutschland. In diesem Sinne hat sie uns einander näher gebracht. Die Debatte verläuft im ÖRK nicht mehr entlang von Nord-Süd-Fronten, sondern es geht auch darum, mit welchen Modellen man die Globalisierung analysieren soll – wie hilfreich ist zum Beispiel die Theorie des globalen Empire?
Äußert sich der ÖRK zur Regulierung der Finanzmärkte?
Wir haben uns klar gegen die Herrschaft des freien Marktes und gegen Offshore-Finanzplätze ausgesprochen. Die Finanzkrise hat uns auf traurige Art Recht gegeben. Sie hat die Armen noch ärmer gemacht. Die Kirchen rufen die Mächtigen auch auf den Finanzmärkten auf, die Perspektive armer Bauern in Afrika zu berücksichtigen. Sonst sind sie nicht wirklich rechenschaftspflichtig.
Wie geht der ÖRK mit Spannungen in und zwischen Mitgliedskirchen wegen der Frauenordination und der Sexualmoral um, speziell der Homosexualität?
Die Sexualmoral und die Frauenordination sind offensichtlich Anlass für heftige Debatten und sogar Spaltungstendenzen in manchen Kirchen und Konfessionsfamilien. Meiner Meinung nach hat der ÖRK hier drei Aufgaben. Erstens kann er einen offenen und geschützten Raum für die Debatten bieten, weil er keine Entscheidungen darüber zu fällen hat, wer Geistlicher werden oder heiraten kann – das müssen die Kirchen selbst tun. Im ÖRK können sie einander erklären, warum ihre Haltung ein Ausdruck der christlichen Tradition und Moral ist. Zweitens kann der ÖRK die Kirchen daran erinnern, dass es etwa bei Homosexualität um einzelne Menschen geht – um Mitglieder der Kirchen, ihren Glauben, ihr Leben in der Kirche. Das sollte uns vor zu harten Schlüssen warnen. Wir folgen auch hier dem Grundsatz, die Perspektive der Betroffenen anzumahnen. Und drittens erinnert der ÖRK die Kirchen daran, dass andere große ethische Fragen unsere Aufmerksamkeit erfordern: wirtschaftliche Gerechtigkeit, Klimagerechtigkeit oder HIV/Aids. Wir sollten uns nicht im Streit über Homosexualität und Frauenordination verlieren.
Ein Hauptziel des ÖRK ist, die Einheit unter den Christen zu fördern. Sehen Sie Fortschritte im Verhältnis zur katholischen Kirche und zu Pfingstkirchen?
Im Verhältnis zur katholischen Kirche geht es um mehr als das gemeinsame Abendmahl. In Deutschland, wo ähnlich viele Katholiken wie Protestanten leben, steht das im Vordergrund, weil es Menschen direkt betrifft – etwa in konfessionell gemischten Familien und Kommunen. Der ÖRK kann diese Frage nicht allein lösen. Wir erinnern beide Seiten daran, dass die Frage nicht nur Katholiken und Protestanten betrifft, sondern zum Beispiel auch die Orthodoxen. Und wir pflegen viele Gemeinsamkeiten, zum Beispiel arbeiten wir in der Anwaltschaft sehr gut zusammen. In den Pfingstkirchen wiederum sehen viele die ökumenische Bewegung nicht mehr als Problem an, sondern viele Führungspersonen – auch Evangelikale – sagen mir inzwischen: Auch wir wollen uns für Frieden, Menschenrechte und die Erhaltung der Schöpfung einsetzen. Sie nähern sich unseren Zielen an. Wir müssen die institutionelle Verbindung zu Pfingstkirchen und Evangelikalen stärken. Dem dient das Global Christian Forum, das der ÖRK mit angeregt hat. Wichtig sind auch Beziehungen in einzelnen Ländern und Regionen. Zum Beispiel gehören in Norwegen sowohl Pfingstkirchen als auch Evangelikale den ökumenischen Institutionen an.
Die Finanzzusagen für den ÖRK sinken. Schwindet das Engagement der Kirchen in Europa und Nordamerika für die ökumenische Bewegung?
Ja und nein. Hier auf dem Ökumenischen Kirchentag spürt man, wie viel Energie noch in den Fragen der Ökumene steckt. Aber die Formen des Einsatzes dafür, die seit den 1960er und 1970er Jahren üblich waren – etwa theologische Dialoge –, zeigen nicht mehr den gleichen Ertrag. Wir sollten offen dafür sein, die institutionellen Formen der ökumenischen Bewegung zu überdenken. Alle Kirchen haben ja das Problem, dass sie mit ihrem Geld auf neue Art haushalten müssen. Unser Auftrag, Ressourcen zu teilen und für Frieden und die Einheit der Christen zu arbeiten, bleibt aber derselbe – wie immer sich das Budget entwickelt. Eine Akzentverschiebung sehe ich aber tatsächlich, nämlich von der christlichen Ökumene zum Verhältnis zwischen verschiedenen Religionen.
Welche Rolle soll der ÖRK hier übernehmen?
Der ÖRK sollte eine starke christliche Stimme im Dialog der Religionen sein. Wir vertreten rund 350 Kirchen aus sehr verschiedenen Umfeldern. Viele kommen aus religiös gemischten Gesellschaften – sie haben Erfahrung sowohl mit dem friedlichen Zusammenleben als auch damit, wie Spannungen sich aufbauen. Diese Erfahrungen sind eine Stärke, wir sollten sie für das Gespräch der Religionen nutzen. Zum Beispiel können wir in Europa von Kirchen in Asien oder im Nahen Osten viel für das Zusammenleben mit muslimischen Nachbarn lernen. Wir sollten aber nicht nur versuchen, Konflikte zu managen, sondern gezielt Zusammenarbeit mit Menschen anderen Glaubens aufbauen – zum Beispiel in der Frage des Klimawandels und der wirtschaftlichen Gerechtigkeit.
Das Gespräch führte Bernd Ludermann.
Olav Fykse Tveit ist seit Januar 2010 Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK). Der promovierte Theologe hatte davor in seiner norwegischen Heimatkirche Ämter im Bereich ökumenische Beziehungen, Gespräche mit Muslimen und Juden sowie kirchliche Nothilfe inne.