Temesghen Debesai sitzt in einem Londoner Café und rührt in einem großen Milchkaffee. Der Fernsehjournalist aus Eritrea klingt traurig, als er von dem Leben erzählt, das er hinter sich lassen musste – so wie viele andere: Zehntausende Frauen und Männer haben das isolierte Land am Horn von Afrika in den vergangenen Jahren verlassen. Debesai lebt bereits seit 2006 in Großbritannien und fühlt sich inzwischen relativ sicher.
Ein Risiko aber bleibt, denn er hatte in Eritrea zum Sturz der Regierung aufgerufen. 2001 hatte diese alle Zeitungen in Privatbesitz geschlossen. Kollegen, die Debesai seit Jahren kannte, verschwanden. Er glaubt, sie seien gefoltert und ermordet worden. Danach beschloss Debesai, zu fliehen. Noch nicht einmal seiner Familie sagte er Bescheid, aus Angst um ihre Sicherheit.
Er wartete ab, bis er zu einer Schulung nach Bahrain geschickt wurde, dort nahm er Kontakt mit der Organisation Reporter ohne Grenzen auf, die ihn mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR in Verbindung brachten. Debesai musste einige Monate warten – immer voller Furcht, seine staatlichen Aufpasser könnten ihn finden und nach Asmara zurückschicken.
Doch schließlich wurde er als Flüchtling anerkannt und konnte nach London ausreisen, Tausende Kilometer von seinem alten Leben in Eritrea entfernt. Die meisten Eritreer, die aus ihrer Heimat fliehen, sind jedoch junge Männer, die sich dem Wehrdienst entziehen wollen. Den muss jeder Mann ab 18 Jahren leisten, offiziell dauert er 18 Monate. Daraus kann jedoch ohne Angaben von Gründen ein Jahrzehnt werden. Die Militärcamps in der Wüste, in der die Rekruten trainieren müssen, gelten als „Open-Air-Gefängnisse“.
"Wenn Dich jemand stoppt, wirst Du nicht verhaftet, sondern erschossen"
Tareke Brhane wollte diesem Schicksal entkommen. Heute lebt er in Rom und leitet die Flüchtlingshilfsorganisation „Comitato 3 Ottobre“, die er nach dem verheerenden Bootsunglück mit mehreren Hundert Toten vor der Küste der italienischen Insel Lampedusa gegründet hat. 2003, mit 17 Jahren, verließ er die Grenzregion zwischen dem Sudan und Eritrea. Erst vier Jahre später kam er in Europa an. Er ging, als sein älterer Bruder zur Armee eingezogen wurde. Bald wäre er selbst dran gewesen. Gemeinsam mit seiner Mutter wanderte Brhane kilometerweit durch die Wüste, bis sie die Grenze in den Sudan überqueren konnten. „Ich hatte Glück“, sagt er. „Wenn Dich jemand stoppt, wirst Du nicht verhaftet, sondern erschossen. Wenn Du Eritrea verlässt, bist Du ein Verräter.“ Von der Grenzstadt Kassala, wo er seine Mutter zurückließ, die krank war und nicht weiterkonnte, gelangte er in die Hauptstadt Khartum. Dort zahlte er 200 US-Dollar, um nach Kufra (Libyen) mitgenommen zu werden.
Die Fahrt durch die Sahara im völlig überfüllten Landrover war eine Qual. Wer krank wurde oder vom Wagen fiel, sei einfach zurückgelassen worden, erzählt er. „Sie gaben uns mit Wasser vermischtes Mehl zu essen.“ Nach fünf Tagen wurden sie von bewaffneten Banditen überfallen, die Autos und Waffen stahlen und sie zwangen, noch mehr Geld zu bezahlen, um wieder aus der Wüste herauszukommen. Von Libyen aus versuchte er, nach Italien zu kommen. Beim ersten Mal waren 264 Menschen auf einem kleinen Boot. Dessen Motor ging kaputt und nach fünf Tagen wurden sie von der Malteser Küstenwache aufgegriffen und nach Libyen zurückgeschickt.
Mehrere Monate verbrachte Brhane in dem berüchtigten Kufra-Gefängnis – mit Dutzenden Mitgefangenen auf engstem Raum, ohne Toiletten. Sein zweiter Fluchtversuch war erfolgreich: Seit 2007 lebt er nun in Italien. In Sizilien beantragte er Asyl, doch dort bleiben wollte er nicht. Alle seine Landsleute hätten ihm empfohlen, nach Rom zu gehen – was er schließlich auch tat.
Die meisten Eritreer, die ihr isoliertes Land verlassen, haben keine andere Möglichkeit, als zu Fuß die Grenze zu überqueren, dann irgendwie durch die Sahara zu kommen und schließlich an der Mittelmeerküste in ein Boot zu steigen – wie Tareke Brhane und Kibrom Tesfamihret, der in Rom für die Rechte eritreischer Migranten kämpft und hilft, eine große Flüchtlingsunterkunft zu leiten. Wenn man es nach Europa geschafft hat, tauchen neue Probleme auf. „Ich habe zwar einen Job“, sagt Kibrom Tesfamihret. „Aber ich muss alles, was ich verdiene, mit meinen arbeitslosen Freunden teilen.“
Buch zum Thema
Evangelisches Missionswerk in Deutschland (Hg.)
Eritrea: Von der Befreiung zur Unterdrückung
Hamburg 2015, 156 Seiten, Bezug über EMW
Wie berichtet man über ein Land, in dem es keine Pressefreiheit gibt? Das Evangelische ...
Mit dem Bootsunglück vor Lampedusa im Oktober 2013 bekam das Elend ein Gesicht. Mehr als 360 Menschen, die meisten aus Eritrea und Somalia, starben damals, als ihr völlig überladenes Boot wenige Kilometer vor der Küste sank. Offenbar hat sich in den vergangenen zwei Jahren wenig geändert: Im April kamen wieder Hunderte Frauen, Männer und Kinder auf der Fahrt von Libyen nach Italien im Mittelmeer ums Leben. Für die hohe Zahl der Todesopfer wird unter anderem die Beendigung der italienischen Mission zur Rettung von Flüchtlingen in Seenot, „Mare Nostrum“, im vergangenen Oktober verantwortlich gemacht.
Eritreer müssen aber nicht nur viel durchmachen, um nach Europa zu kommen. Auch in Libyen und Ägypten erleiden sie schwere Menschenrechtsverletzungen durch Menschenhändler. Ihr Schicksal in Lagern in Äthiopien und Sudan sei grausam, berichtet ein ehemaliger Beamter aus dem eritreischen Bildungsministerium, der mittlerweile als politischer Flüchtling in Großbritannien lebt und anonym bleiben will. Er erzählt vom Lager Shimelba in Äthiopien, wo eine Gruppe von Eritreern eine Solidaritätskundgebung mit den Opfern des Bootsunglücks von Lampedusa abhalten wollte. Als sie sich versammeln wollten, schossen die äthiopischen Sicherheitsleute. auf sie.
Die äthiopische Regierung benutze die Anwesenheit der eritreischen Flüchtlinge, um Eritrea politisch unter Druck zu setzen, meint Lul Seyoum, die Leiterin des Internationalen Zentrums für eritreische Flüchtlinge und Asylbewerber in London. Es sei schwierig, an Informationen zu kommen, doch die Lage im Sudan und in Äthiopien sei für Flüchtlinge aus Eritrea „schrecklich“. Und je mehr sich die Situation in Eritrea verschlechtere, desto mehr Menschen verließen das Land, vor allem junge Leute und Kinder.
Eritrea wird oft das „Nordkorea Afrikas“ genannt. Seit dem Ende des Krieges mit Äthiopien und der Unabhängigkeit 1993 fand nie eine demokratische Wahl statt, Präsident Isaias Afewerki regiert das Land autokratisch mit harter Hand. Verstöße gegen die Menschenrechte sind allgegenwärtig, Presse-, Meinungs- und Religionsfreiheit existieren nicht. Die UN-Sonderberichterstatterin Sheila Keetharuth stellte 2013 Folter, willkürliche Verhaftungen und Tötungen fest. Amnesty international schätzt, dass 10.000 Menschen wegen ihrer religiösen oder politischen Gesinnung im Gefängnis sitzen.
Niemand hat die Hoffnung, dass sich die Lage in Eritrea bald ändern wird
In den 1990er Jahren, nachdem der Krieg mit Äthiopien beendet und das Land unabhängig geworden war, kehrten viele Eritreer aus dem Exil in ihre Heimat zurück. Zu ihnen zählte auch der Journalist Debesai, der mit seiner Familie seit den 1970er Jahren in Saudi-Arabien gelebt hatte. Eritrea sei zu dieser Zeit sehr viel offener gewesen als Saudi-Arabien, erinnert er sich. Asmara sei aufregend gewesen, ein Ort, „an dem die Frauen auf der Straße tanzten“, um die Kämpfer der Eritreischen Volksbefreiungsfront (EPLF) zu empfangen. Die Hauptstadt, die in den Bergen liegt, war kaum vom Krieg gezeichnet. Ihre schöne italienische Architektur im Stil der 1930er Jahre war nahezu erhalten. Feierstimmung und patriotischer Nationalismus lagen in der Luft, wie Debesai erzählt. Wo auch immer er hinschaute, sah er wunderbare Zukunftsaussichten für sein junges Land.
Der lange Befreiungskampf hatte viele Eritreer zu glühenden Anhängern der EPLF gemacht. Doch die nutzte diese Stimmung nicht, um zu zeigen, wie sich eine afrikanische Nation aus einem Krieg in eine Demokratie verwandeln kann. Stattdessen entschied sich die EPLF, ihre Macht zu festigen. Die Lage änderte sich schnell, als 1994 aus der EPLF die Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit hervorging, die seitdem als einzige zugelassene Partei die eritreische Regierung stellt. Präsident wurde der vormalige Chef der EPLF, Isaias Afewerki.
Eritrea sei ein Gefängnis, nicht nur der Körper, auch die Seele sei dort eingesperrt, sagt Debesai. Keiner meiner eritreischen Gesprächspartner hatte die Hoffnung, dass sich die Lage in ihrem Heimatland kurzfristig ändern wird – denn es gibt keinerlei glaubwürdige Opposition. Solange das gegenwärtige Regime an der Macht ist, wird der Strom der Flüchtlinge aus Eritrea wohl nicht abreißen.
Aus dem Englischen von Gesine Kauffmann.
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