einer Rückkehr nach Hause – oder vom Weg in den Westen. Doch der ist für die meisten versperrt. In Lateinamerika dagegen öffnen sich manche Türen.
Vor seiner Ankunft hatte Mohammed über Kolumbien nichts anderes gehört als „Gewalt, Drogen und Krieg“. Als der 28-jährige Syrer vor rund einem Jahr aus Damaskus floh, lag es ihm völlig fern, hierher zu kommen. „An Südamerika habe ich nie gedacht“, erzählt er in einer Mischung aus Englisch mit starkem Akzent und stockendem Spanisch, während er in seiner Wohnung in Bogotá Kaffee, Wodka, Kekse und Joghurt anbietet.
Im Libanon lernte er einen Kolumbianer kennen. Der beschrieb ihm sein Land als wunderbaren Ort – und schlug Mohammed vor, die Einreise dort zu versuchen. Mit Erfolg. Als das Touristenvisum nach drei Monaten auslief, beantragte Mohammed Flüchtlingsstatus. „Alles war ganz einfach“, sagt er über das Asylverfahren. Die Einwanderungsbehörde stellte nur wenige Fragen. Ein paar Monate später hatte er einen Personalausweis und einen Reisepass.
Der größte Traum fast aller syrischen Flüchtlinge ist es, aus den unsicheren Verhältnissen im Libanon, der Türkei, Jordanien und dem Irak herauszukommen und wohlbehalten nach Hause zurückzukehren. Am zweithäufigsten träumen sie davon, sich in einem europäischen Land oder in den Vereinigten Staaten niederzulassen. Angesichts der rigorosen Flüchtlingspolitik und des harten Wettbewerbs um Einreisebewilligungen landen jedoch nur wenige der drei Millionen syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge im begehrten Westen. Stattdessen werden ferne lateinamerikanische Länder wie Kolumbien, Uruguay, Brasilien und Argentinien zunehmend zu einer realistischen Option.
"Lateinamerika zahlt der Welt seine Schulden zurück“
Die Zahl der nach Lateinamerika geflohenen Syrer ist mit knapp 6000 zwar gering. Laut Daryl Grisgraber, bei der Flüchtlingsorganisation Refugees International für den Nahen Osten zuständig, ist das aber erst ein Anfang. Ihre eigenen Erfahrungen bewegen viele lateinamerikanische Staaten dazu, die Türen zu öffnen. Im Lauf der Geschichte hat die Region viele Immigranten und Asylsuchende aufgenommen, etwa Spanier während der Franco-Ära und eine beachtliche Zahl jüdischer Flüchtlinge während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wiederum trieben die Diktaturen und Bürgerkriege Lateinamerikas zahlreiche Menschen dazu, in Europa, den USA und Kanada Asyl zu suchen. Mit der Aufnahme von Syrern, sagt Javier Miranda vom uruguayischen Sekretariat für Menschenrechte, „zahlt Lateinamerika der Welt seine Schulden zurück“.
Viele Brasilianer stammen von Syrern und Libanesen ab. 2013 hat das Land ein Programm aufgelegt, mit dem syrische Bürgerkriegsflüchtlinge aus humanitären Gründen einen Antrag auf Einreise stellen können. Sie haben dann das Recht, nach ihrer Ankunft Flüchtlingsstatus zu beantragen. 4200 dieser Visa wurden bislang ausgestellt. Laut dem Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) wurden 1245 Asylanträge bewilligt. Wie die britische Tageszeitung „Guardian“ berichtet, haben Syrer nun die Kolumbianer als größte Flüchtlingsgruppe im Land abgelöst. Kolumbien selbst, eher als Herkunftsland als für die Aufnahme von Flüchtlingen bekannt, hat allen 19 Syrern, die seit 2011 einen Antrag gestellt haben, Asyl gewährt – darunter Mohammed. Und Argentinien hat Medienberichten zufolge in den vergangenen zwei Jahren mindestens 300 syrischen Familien Einlass gewährt. Der Anteil von Syrern und Libanesen an der Gesamtbevölkerung wird auf zehn Prozent geschätzt.
Das kleine Uruguay bietet fast soviel Syrern Schutz wie das große Spanien
Das mutigste Experiment in der Region wagt jedoch das kleine Uruguay. Der Staat mit seinen 3,4 Millionen Einwohnern hat angeboten, 120 Syrer neu anzusiedeln. „Wir wissen, dass das nur ein Tropfen im Ozean ist, aber auch Ozeane entstehen Tropfen für Tropfen“, sagt Javier Miranda. Im Vergleich zu dem, was manche westliche Staaten genehmigen, ist es ein beachtlicher Tropfen: Spanien zum Beispiel, das rund 47 Millionen Bürger zählt, bietet nur 130 Syrern eine neue Heimat.
Die ersten 40 Flüchtlinge sollten, wie mit dem UNHCR vereinbart, im Oktober in Uruguay eintreffen. Untergebracht werden sie anfangs in einer katholischen Missionsstation unweit der Hauptstadt Montevideo. Dort werden sie medizinisch versorgt und erhalten ihre monatlichen Bezüge. Die Erwachsenen sollen Spanisch lernen, die Kinder gehen in die Schule. Später werden sie in individuelle Unterkünfte umgesiedelt. Weitere 80 Frauen, Männer und Kinder sollen im Februar 2015 folgen.
Die Initiative kam zustande, nachdem Außenminister Luis Almagro auf einer Nahostreise ein Flüchtlingslager des UNHCR im Libanon besucht hatte. Uruguay bot zunächst an, etwa 100 Waisen aus dem Lager aufzunehmen. Das begrüßten die UNHCR-Mitarbeiter, schlugen aber vor, stattdessen ganze Familien aus anderen Lagern aufzunehmen, in denen die Lebensumstände noch schwieriger waren. Kurz darauf wurden bereits erste Vorbereitungen getroffen.
Am schwierigsten wird es sein, Arbeit für die erwachsenen Flüchtlinge zu finden. In Syrien hat die Landwirtschaft traditionell einen hohen Stellenwert. Die Uruguayer rechneten also damit, dass die meisten Flüchtlinge Bauern sind. Stattdessen kamen laut Miranda Bauarbeiter, Einzelhändler und Beschäftigte im Dienstleistungssektor. Die Regierungsbeamten mussten neu überlegen, wo sie die Familien unterbringen. Anstelle von ländlichen Gemeinden kommen auch Montevideo oder andere Städte infrage.
Auch ehemalige Guantanamo-Häftlinge erhalten Asyl in Südamerika
Die Flüchtlinge werden nicht die einzigen Syrer sein, die in Uruguay ankommen: Die Regierung hat überdies die Aufnahme von sechs Häftlingen, darunter vier Syrern, aus dem US-amerikanischen Gefangenenlager Guantanamo Bay angeboten. Aus Furcht um ihre Sicherheit werden sie nach ihrer Freilassung nicht in ihre Heimatländer zurückkehren können.
Uruguays Regierung hofft nun, dass die Syrer sich in die Gesellschaft des Landes integrieren. Sie ist sich allerdings darüber im Klaren, dass Uruguay ein ethnisch und religiös ziemlich homogenes Land und die Anwesenheit von Ausländern ungewohnt ist. Eine Moschee gibt es nicht, in Montevideo werden muslimische Gottesdienste in einem kleinen islamischen Kulturzentrum abgehalten. Zudem werfen Kritiker der Regierung vor, das Programm diene vor allem eigenen Interessen. Präsident José Mujicas Ambitionen auf den Friedensnobelpreis und das Bestreben von Außenminister Luis Almagro, der nächste Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zu werden, bestimmten „mehr und mehr die uruguayische Außenpolitik“, schreibt der Kolumnist Tomás Linn im Nachrichtenmagazin „Búsqueda“.
Autorin
Sibylla Brodzinksy
ist freie Journalistin in Kolumbien.Mohammed hätte nichts gegen mehr Landsleute in seinem Gastland einzuwenden. Seit seiner Ankunft ist er noch keinem Syrer begegnet. Dennoch, betont er, habe Kolumbien sich für ihn als ideales Asylland erwiesen. Trotz seines Heimwehs und der ständigen Sorge um seine Familie, die noch in Damaskus lebt, bemüht er sich um Integration – mit Erfolg. Mohammed verdient seinen Lebensunterhalt als Laufstegmodel für lokale Designer und hat eine Karriere als Sänger begonnen. Inzwischen hat er seinen ersten Song auf Spanisch und Arabisch aufgenommen. „Es ist eine Mischung meiner beiden Welten“, sagt er.
Der Artikel ist im Original in „Foreign Policy“ erschienen.
Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller.
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