Für die Arbeit leben?

Vor fünfzehn Jahren begannen Arbeiter in Argentinien, Fabriken zu besetzen und selbst zu verwalten. Die Betriebe haben sich auf dem Markt behauptet – aber Sorgen haben die Genossenschaften trotzdem.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts war jeder vierte Argentinier ohne Arbeit. Der argentinische Staat hatte mit einer neoliberalen Politik eine beispiellose soziale, wirtschaftliche und finanzielle Krise entfesselt. Zahlreiche Fabriken und Unternehmen standen vor dem Bankrott. Dem wollten die Arbeiter, die dort seit Jahren beschäftigt waren, nicht kampflos zusehen. Gemeinsam mit Menschenrechtsaktivisten, Studenten, Vertretern von alternativen Medien und linken Parteien übernahmen sie eine Reihe von Betriebsstätten und stellten Wachen an den Eingangstoren auf.

Autor

Juan Pablo Hudson

ist Sozialwissenschaftler.
So wollten sie vermeiden, dass die Unternehmer den Maschinenpark entfernten, die Fabriken verkauften und sie endgültig schlossen. Die Polizei ging in diesen Anfangstagen hart gegen die Besetzer vor. Trotzdem nahm die Zahl der Besetzungen in dem Maße zu, in dem sich die Wirtschaftskrise verschärfte. Die Arbeiter eigneten sich vor allem kleine und mittlere Betriebe an. Das Spektrum der Branchen war breit: Lebensmittel- und Gefrierfleischindustrie, Hüttenwerke, Glasindustrie, elektrische Haushaltsgeräte, Leder, Holz, Automobilzulieferer, Elektromotoren, Konfektions- und Textilindustrie.

Der Staat verhielt sich zu Beginn der Betriebsübernahmen neutral oder ergriff Partei für die Unternehmer. Dennoch gelang es den Arbeitern, tragfähige Netzwerke der Solidarität zu knüpfen und Druck auf die Justiz auszuüben. Sie erreichten, dass ihnen die Grundstücke und Produktionsanlagen vorübergehend übertragen wurden. In manchen Fällen stimmten die Eigentümer der Verpachtung der Fa­briken zu und überließen den Maschinenpark quasi als Abfindung.

Arbeiter in Argentinien übernahmen zwischen 1999 und 2004 rund 200 Fabriken und Unternehmen mit einer Belegschaft von insgesamt 10.000 Beschäftigten. Als Rechts- und Organisationsform gründeten sie Genossenschaften, um die Produktion wieder aufnehmen zu können. Von wenigen Ausnahmen abgesehen waren die Gewerkschaften keine Hilfe – sie schlugen sich auf die Seite der Arbeitgeber. So gründeten diese Arbeiter eigene Branchen- und Interessensverbände.

Keiner der Betriebe ist vom Markt verschwunden

Fünfzehn Jahre sind seit der ersten Übernahme von Betrieben vergangen. Argentiniens Wirtschaft ist gewachsen und die Arbeitslosenquote auf sieben Prozent geschrumpft; und dennoch haben sich Arbeiter auch in jüngster Zeit weiter Fabriken angeeignet. Sie haben das als Strategie entwickelt, für ihren Lebensunterhalt zu kämpfen und sich selbst zu organisieren.

Derzeit gibt es 311 selbstverwaltete Genossenschaften mit insgesamt 13.500 Beschäftigten. Praktisch keines der Unternehmen, die in Eigenregie fortgeführt wurden, ist – trotz erheblicher Schwierigkeiten – vom Markt verschwunden. Die Arbeiter haben bewiesen, dass sie in der Lage sind, die Fabriken ohne die früheren Eigentümer, Manager und Verwalter zu betreiben. Dabei hatten sie zunächst keinerlei Wissen und Erfahrungen in den Bereichen Handel, Finanzen, Recht und Kommunikation. Sie kannten noch nicht einmal die rechtlichen und organisatorischen Hintergründe einer Genossenschaft.

Und es war schwierig, die Fabriken wieder in Betrieb zu nehmen. Viele wurden von den Unternehmern praktisch leer hinterlassen. Die Infrastruktur und die Maschinen waren in schlechtem Zustand, für die Produktion fehlten Rohstoffe, Steuerschulden und Verbindlichkeiten bei früheren Lieferanten waren aufgelaufen, die Märkte weggebrochen. Banken verweigerten den Genossenschaften einen Kredit. Das hat sich angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage im Land bis heute kaum geändert. Auch die staatlichen Zuschüsse, die die selbstverwalteten Betriebe seit einigen Jahren erhalten, haben ihre prekäre Finanzlage kaum entschärft.

Die selbstverwaltete Produktion und Vermarktung verlangte den Arbeitern viel Engagement und Kreativität ab. Oft schufteten sie zwölf bis vierzehn Stunden am Tag. Zu Beginn wurden die geringen Einnahmen gleichmäßig auf alle verteilt. Es gab keine Hierarchien, sondern nur die rechtlich vorgeschriebenen Positionen eines Vorsitzenden, Schriftführers und Schatzmeister innerhalb der Kooperative. Die wichtigsten Entscheidungen wurden in Vollversammlungen getroffen. In vielen Fällen öffneten die Arbeiter die Fabriken für die Nachbarschaft und erlaubten die Einrichtung von Kulturzentren, Theaterbühnen, Bibliotheken oder Studienzentren.
Mit steigenden Produktions- und Umsatzzahlen wuchsen die Einnahmen beträchtlich, und so bildeten sich Hierarchien bei der Verteilung der Gewinne heraus. Die wichtigsten Mitglieder des Vorstands erhalten das meiste Geld. In anderen Fällen verteilen die Arbeiter die Einnahmen anhand der geleisteten Arbeitszeit, um Konflikte zu vermeiden. Es wird festgelegt, wie viele Stunden man am Tag mindestens und höchstens arbeiten kann.###Seite2###

ngeklärte Eigentumsfragen machen den meisten der selbstverwalteten Betriebe noch immer zu schaffen. Argentiniens Regierung unter Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner hat zwar 2011 das nationale Insolvenzrecht reformiert: Wenn ein Unternehmen pleite ist, wird genossenschaftlich organisierten Arbeitern ein Vorrecht eingeräumt, es fortzuführen. Doch damit ist nicht gesagt, dass sie auch Eigentümer von Grundstücken, Fabriken oder Produktionsanlagen werden können, an denen die Unternehmer festhalten wollen.

Auch wenn sie wegen Eigentumsfragen vor Gericht ziehen, scheitern die Arbeiter in der Regel. Nur in sehr wenigen Fällen konnten Fabriken bei öffentlichen Versteigerungen erworben werden. Somit reiben sich die Arbeiter weiter auf in gerichtlichen Klagen zur Verlängerung der Übergangsmietverträge, Gesuchen an Stadträte, Abgeordnete und Senatoren, dass die Anlagen im Zuge der Zwangsenteignung endgültig übertragen werden, und zermürbenden Verhandlungen mit den Unternehmern über die weitere Verpachtung.

Den selbstverwalteten Betrieben ist es gelungen, die Produktion wieder aufzunehmen und die Netzwerke für den Vertrieb von Waren oder Dienstleistungen wieder herzustellen. Dennoch haben sie es schwer, sich in einem wirtschaftlichen Umfeld zu behaupten, das vom Wettbewerb bestimmt wird. Sie müssen sich gegen Privatunternehmen durchsetzen, die bei der Preisgestaltung und in ihren Forderungen sehr aggressiv auftreten.

Im Rahmen meiner Forschung kam ich mit Arbeitern einer erfolgreichen Genossenschaft für frische Teigwaren in Kontakt. Dort stieß ich auf einen zentralen Widerspruch: Die Arbeiter hatten eine Fabrik wieder in Gang gebracht, die die Marktwirtschaft zugrunde gerichtet hatte. Nun litten sie jedoch unter dem Anstieg der Produktions- und Umsatzzahlen. Jeden Tag mussten sie schneller arbeiten, die Arbeitstage waren bald so lang, dass sie nichts mehr gemeinsam planen konnten. Sie hatten keine Zeit, ihren selbstverwalteten Betrieb so weiterzuentwickeln, dass sie in ihrem eigenen Rhythmus arbeiten können und nicht ausschließlich an marktwirtschaftlichen Kriterien orientiert.

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Darüber hinaus kämpfen die Genossenschaften mit Nachwuchssorgen, wenn sie wachsen und mehr Personal brauchen. Es fällt ihnen schwer, junge Leute zu integrieren. Denn es gibt einen heftigen Generationenkonflikt, der sich am unterschiedlichen Stellenwert der Arbeit im Leben entzündet. Diejenigen, die die Fabriken besetzt und wieder in Gang gebracht haben, identifizieren sich im Wesentlichen über ihre Arbeit. Es macht sie stolz und gibt ihnen Würde, den ganzen Tag intensiv beschäftigt zu sein. Sie möchten ihr Leben lang arbeiten und in dem Unternehmen in Rente gehen, in dem sie als junge Menschen angefangen haben. 

Junge Frauen und Männer sehen das anders. Sie identifizieren sich nicht über ihren Job und sie wollen sich nicht dafür aufopfern. Dafür vierzehn Stunden am Tag eingesperrt zu sein, ist aus ihrer Sicht ein großes Ärgernis und keine Frage der Würde. Sie wollen nicht mehr als die vereinbarten Stunden am Arbeitsplatz verbringen, weil sie sich dort langweilen oder einen anderen Zeitvertreib attraktiver finden. Sie interessieren sich mehr für Konsum und ihre Freizeit.

Deshalb erkennen die Gründer der Genossenschaft die jungen Leute nicht als gleichberechtigt an. Die Kollegen nehmen die „Jungen“ nicht für voll und es häufen sich die Beschwerden, weil sie nicht pünktlich zur Arbeit erscheinen, schnell wieder kündigen, unentschuldigt fehlen, Leidenschaft bei der Arbeit vermissen lassen und sich zu oft krankschreiben lassen. Dabei haben sie keine bösen Absichten – die Generationen sind voneinander entfremdet und wissen nicht, wie sie miteinander umgehen sollen. Die „Alten“ finden keinen Weg, eine mögliche Nachfolge zu regeln – zum Erhalt der Genossenschaften, für die sie so sehr gekämpft und unzählige Opfer gebracht haben.

Die Arbeiter in Argentinien haben großes Durchsetzungsvermögen und Besonnenheit an den Tag gelegt, als es galt, eine bedrohliche Krise zu überwinden, die zu Beginn dieses Jahrhunderts das Land destabilisierte. Als niemand damit rechnete, gelang es ihnen, die Schließung ihrer Fabriken zu verhindern und dort Genossenschaften zu gründen. Die Arbeiter entzauberten kapitalistische Mythen und bewiesen, dass die kollektive Selbstverwaltung ein gangbarer Weg ist – auch wenn es ein schwieriges Unterfangen ist, sich auf den neoliberalen Märkten zu behaupten.

Diese Generation von Arbeitern, die mehr als 300 Unternehmen in die Selbstverwaltung überführt hat, hat mit ihren neuen Organisationsformen die herkömmliche Art der Unternehmensführung infrage gestellt. Nun steht eine tiefer gehende Kritik an der herrschenden Arbeitskultur bevor, die Arbeit als Identifikationsmerkmal und Symbol von Würde begreift. Das ist eine Aufgabe, der sich künftige Generationen stellen müssen.

Aus dem Spanischen von Barbara Kochhan.

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erschienen in Ausgabe 10 / 2014: Hoffen auf die Mittelschicht
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