Das Trugbild von der Mittelklasse

In Schwellenländern wie Indien, Brasilien oder China wächst die Mittelschicht. Doch macht mehr Wohlstand die Menschen automatisch zu Anhängern von Demokratie und Marktwirtschaft? Wohl kaum. Das trifft nicht einmal auf die Geschichte Europas zu.

Die Mittelschicht gibt es eigentlich gar nicht. Im Wortsinn verstanden setzt sie das Modell einer Dreiklassengesellschaft voraus: mit einer Oberschicht oder Elite, einer untergeordneten Schicht und einer Mittelklasse dazwischen. Doch keine Gesellschaft war jemals so einfach gegliedert. Sicher wurde „Mittelschicht“ selten wörtlich verstanden, als Klasse in der Mitte. Aber auch dann hat es nie eine solche Gruppe gegeben, die klar abgrenzbar war. Es gibt auch keine Gesamtheit wirtschaftlicher Merkmale und keinen Strauß gemeinsam akzeptierter gesellschaftlicher Normen, mit denen man „Mittelschicht“ eindeutig definieren kann. Statt nach schlüssigen Definitionen und Abgrenzungen zu suchen, sollte man akzeptieren, dass die Mittelschicht, so wie sie allgemein verstanden wird, ein kulturelles Konstrukt ist.

Zwei Beispiele zeigen, dass der Begriff selbst in recht ähnlichen Gesellschaften ganz unterschiedliche Bedeutungen haben kann. In den USA ist das Wort „middle class“ heute im Grunde ein anderer Ausdruck für „ganz normale Menschen“. Vor den jüngsten Präsidentschaftswahlen behaupteten beide Kandidaten, sowohl Barack Obama als auch Mitt Romney, ihre Politik werde die Interessen der Mittelschicht voranbringen. Denn Amerikaner lassen sich unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Lage nicht gern als Angehörige der Arbeiterklasse bezeichnen.

Autor

Sanjay Joshi

ist Historiker und lehrt an der Northern Arizona University. Er ist Autor des Buches „Fractured Modernity: Making of a Middle Class in Colonial North India“, Oxford University Press 2001.
Ganz anders in England, wo der Begriff „Mittelschicht“ sofort an eine Elite und ihre Privilegien denken lässt. Obwohl sich laut einer neuen Studie sieben von zehn Briten zur Mittelschicht zählen, werden im öffentlichen Diskurs nur diejenigen als „middle class“ bezeichnet, die aufgrund ihrer Herkunft, ihres Vermögens, ihrer Sprachfärbung und anderer Merkmale eines hohen Status zu den Privilegierten gehören. Ein anhaltender Streit darüber, ob die Kultur der Unterschicht mit abwertenden Begriffen beschrieben werden darf, bestätigt den Unterschied gegenüber den USA. Obwohl in Großbritannien beide großen Parteien zurzeit in ihrer Praxis nach rechts driften, würden weder die Konservativen noch die Labour Party sich als Interessenvertretung der „middle class“ darstellen. Der Begriff hat in den beiden Ländern eine unterschiedliche Bedeutung: In Großbritannien bezeichnet er die Elite, in den USA den einfachen Mann oder die einfache Frau.

Trotz der großen Bandbreite an Bedeutungen tun wir so, als gäbe es ein einheitliches Phänomen namens Mittelschicht. Man erklärt uns sogar, dass die Welt, in der wir leben, zunehmend von dieser Schicht geprägt werde. Was soll das bedeuten?

Die britische Zeitschrift „Economist“, die vor ein paar Jahren einen ausführlichen Bericht über die Mittelschichten in den Schwellenländern veröffentlichte, meint offenbar in erster Linie Menschen, deren Einkommen nicht nur für das Lebensnotwendige reicht, sondern Zugang zu neuem, anspruchsvollerem Konsum erlaubt.

Der Neoliberalismus hat eine eigene Idee von Mittelschicht

An diesem Maßstab gemessen gehöre „erstmals in der Geschichte mehr als die Hälfte der Menschheit zur Mittelschicht“. Doch selbst der „Economist“ räumt ein, dass diese Gruppe nicht nur vom Einkommen definiert wird – es gehört auch eine spezifische Weltanschauung dazu. Die Kombination aus Einkommen, Konsumgewohnheiten und – dies ist entscheidend – bestimmten Einstellungen macht für das Nachrichtenmagazin wie für die meisten seiner Leser die Mittelschicht aus.

In ihrem Buch „The Making of the Middle Class“ vertreten die US-amerikanischen Historiker Ricardo Lopez und Barbara Weinstein die Ansicht, dass auch die neoliberale Auffassung von den Vorteilen der Globalisierung eine spezifische Vorstellung von der Mittelschicht voraussetzt.

Im neoliberalen Denken wird diese Schicht nämlich mit der Modernität nach westlichem Muster, mit einer liberalen politischen Einstellung und mit der freien Marktwirtschaft in Verbindung gesetzt. Die Begeisterung über die Entstehung einer weltweiten Mittelschicht speist sich aus der Überzeugung, wenn in den Entwicklungsländern erst einmal eine breite und einflussreiche Mittelschicht entstanden sei, werde sie sich für dieselben Werte der Moderne und des Kapitalismus einsetzen wie die ursprüngliche Mittelschicht im Westen.###Seite2###

Doch woher stammen eigentlich unsere Vorstellungen von der Mittelschicht? Wer ihre Geschichte erzählt, beginnt gewöhnlich mit Entwicklungen in Europa und Nordamerika. Es wird allgemein angenommen, dass zwischen dem Ende des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte begann: Die alte Aristokratie wurden von der „Mittelschicht“ verdrängt, die von nun an die Praxis und das Denken in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft bestimmte. Je nach persönlicher Schwerpunktsetzung sehen Historiker die Aufklärung, die Industrialisierung, die politischen Revolutionen dieser Zeit oder das Zusammenwirken all dieser Phänomene als Motor dieses Umbruchs an.
 
Diese geschichtlichen Entwicklungen darf man nicht ignorieren, wenn man den Aufstieg der Mittelschicht verstehen will. Doch das Bild, wonach eine liberale, demokratische und progressive Mittelschicht den dekadenten und geschwächten Feudalherren die Macht entrissen hat, um die Gesellschaft und die Politik nach den Prinzipien der Aufklärungsphilosophie neu zu ordnen – dieses Bild ist ein Mythos. Historiker, die sich mit Europa befassen, haben es mehrfach infrage gestellt. In seinem 1995 erschienenen Buch „Imagining the Middle Class“ zeigt Dror Wahrman, dass das Modell von der aufgeklärten Mittelschicht, die wie die Morgensonne aus der industriellen Revolution emporsteigt, nicht mit der vielschichtigen Wirklichkeit übereinstimmt.

Die Mittelklasse war ein politisches Projekt. Wahrman richtet den Blick nicht in erster Linie auf eine soziale Gruppe, die sich über Einkommen, Beruf und dergleichen definiert. Sondern er zeigt, wie diejenigen, die gegenüber den etablierten Eliten an Macht gewinnen wollten, bestimmte Darstellungen von sich selbst als Mittelklasse benutzten. Sie setzten Ideen von Demokratie und die Ansicht, dass Leistung und Ausbildung wichtiger sind als die Abstammung, als Argumente in dieser Auseinandersetzung ein. Das war Teil einer Strategie, die Mächtigen zu kritisieren und ein alternatives Modell der Machtausübung zu entwerfen.

Bewusste Abgrenzung nach unten

Doch ein ebenso wichtiger – vielleicht sogar wichtigerer – Teil dieser Strategie war, Kriterien abzustecken, nach denen die Mittelschicht als den Unterschichten überlegen galt. Die sozialen Reformbewegungen – der Kampf gegen den Alkohol und die Prostitution, die Verbesserung der Hygieneverhältnisse – sollten die Überlegenheit der Mittelklasse gegenüber den ärmeren Schichten demonstrieren und waren für ihre Identität ebenso wichtig wie die Kritik an den Privilegien der Aristokratie.

Diese komplexen historischen Zusammenhänge werden selbst von Wissenschaftlern, die das Thema Mittelschicht bearbeiten, gern übersehen. Auch wenn viele Fakten dagegen sprechen: Die Ansicht, die Mittelschicht vertrete fortschrittliche und liberale Ideale sowie unter passenden historischen Bedingungen auch marktwirtschaftliche Prinzipien, ist in der Wissenschaft und im Bewusstsein der Öffentlichkeit fest verankert. Und sie verbreitet sich weiter.

Deshalb wundern sich die Kommentatoren immer wieder, dass so viele Menschen außerhalb des Westens – auch wenn sie gebildet sind, westlichen Vorbildern folgen und sich als Angehörige der Mittelschicht verstehen – sich nicht unbedingt dem Modell gemäß verhalten.

Das Staunen darüber kommt gut zum Ausdruck in einem Artikel von Rana Foroohar, der vor vier Jahren in „Newsweek“ veröffentlicht wurde: „Als Länder wie China, Brasilien, Russland, die Türkei, Indien, Indonesien und andere Schwellenländer wohlhabender wurden, haben wir immer angenommen, dass sie sich den Vororten von Washington oder London angleichen würden – dass sie zu liberalen, demokratischen, marktwirtschaftlich orientierten Bastionen nicht nur des westlichen Konsummodells, sondern auch der politischen Freiheit werden würden. Mit der Zeit und dem Anstieg des Reichtums würden ‚sie‘ genauso so werden wie ‚wir‘.“

Wurden sie aber nicht. Und es gibt einleuchtende Analysen, warum wohlhabende Chinesen, Brasilianer, Russen und Inder sich nicht genauso benehmen wie ähnlich situierte Menschen in London oder Washington DC. Doch die Vorstellung von einer einheitlichen Mittelschicht ist zu tief verwurzelt, als dass sie aufgegeben würde. Foroohar kann deshalb nur auf ein Entwicklungsmodell zurückgreifen und schließen: „‚Sie‘ haben noch einen langen Weg vor sich, bevor sie werden wie ‚wir‘.“###Seite3###

Doch wie hat der Wunsch, zur Mittelschicht zu gehören, sich eigentlich bis zu „ihnen“ verbreitet? Eine wichtige Schiene der Vermittlung war der Kolonialismus. Im Indien der Kolonialzeit  besuchten im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts viele junge Männer (und bald danach auch junge Frauen) von den Kolonialherren eingerichtete Bildungsanstalten. Dort trichterte man  ihnen das Konzept der progressiven Mittelschicht ein. Sie selbst stammten nicht aus den obersten Schichten der indischen Gesellschaft, größtenteils aber aus recht begünstigten Familien.

Die Mitglieder dieser Gruppe stilisierten sich nun zur indischen „Mittelschicht“. In der Öffentlichkeit traten sie ganz ähnlich auf wie ihre britischen Vorbilder: Sie distanzierten sich von der „Dekadenz“ der älteren indischen Eliten und blickten gleichzeitig verächtlich auf die Kultur der Unterschicht herab. Die Mittelklasse stellte sich als Motor des Fortschritts dar und versuchte, die Modernität westlichen Stils mit den von ihr für wertvoll erachteten Aspekten der einheimischen Tradition zu vermischen.

ISie hielten sich für egalitär, säkularisiert und liberal

Legt man als Maßstab an, wie nahe sie dem Idealtyp der westlichen Mittelschicht kamen, dann schnitten sie nicht besonders gut ab. Die Mittelschicht in der Stadt Lucknow, mit der ich mich bei meinen Forschungen befasst habe, hielt sich zwar für fortschrittlich, egalitär, säkularisiert und liberal. Doch sie war nicht egalitär genug, um die Angehörigen der niederen Kasten als gleichberechtigte Mitbürger anzusehen. Sie waren auch nicht liberal genug, um die Frauen ihrer eigenen Schicht als gleichwertige Familienmitglieder zu behandeln. Und sie waren nicht säkular genug, um religiös begründeten Vorstellungen der Nation zu widerstehen.

Warum gelang das nicht, obwohl diese Schicht sich ganz bewusst an westlichen Idealen der Mittelschicht orientierte? Mein Ergebnis ist: Es liegt nicht daran, dass Indien sich nur unvollständig modernisierte – weil vormoderne Überzeugungen zu tief saßen oder weil Vertreter der Kolonialverwaltung und indische Oppositionelle davor warnten, die eigene Kultur aufzugeben. Das Problem ist vielmehr, wie wir Modernität verstehen und dass wir die Mittelschicht für die Verkörperung aller Tugenden der Moderne halten.

Nicht nur ist dieses Verständnis herablassend, denn es bringt uns dazu, Indien, Russland, Brasilien, China oder Indonesien ständig nach einem starren Modell zu beurteilen, das aus der Geschichte Europas und Nordamerikas abgeleitet wird. Mehr noch: Wir müssen uns fragen, wie unsere Theorien über die Mittelschicht überhaupt mit den Tatsachen der europäischen Geschichte zusammenpassen. Die Fakten widersprechen dem Konstrukt einer stets fortschrittlichen und liberalen Mittelschicht. Man  braucht nur die Untertanen in den Kolonien zu fragen, die von Angehörigen der englischen Mittelschicht regiert wurden, oder auch die britischen Frauen, die sich das Wahlrecht schwer erkämpfen mussten. Die Amerikaner waren im Umgang mit Frauen und ethnischen Minderheiten nicht viel besser.

Natürlich gab es und gibt es in Indien, Brasilien oder in China ebenso wie in England, Frankreich oder den USA Angehörige der Mittelschicht, die progressive, säkulare und liberale Ideale vertreten. Doch nichts spricht dafür, dass dies auf eine Mehrheit zutrifft oder dass die Haltung der Mittelklasse von inneren Widersprüchen frei ist. Angehörige der Mittelschicht engagieren sich ebenso häufig für konservative, antiliberale, intolerante und fundamentalistische Anliegen wie für liberale oder progressive. Wenn Kommentatoren etwa beim „Economist“ glauben, die Mittelschicht unterstütze stets die freie Marktwirtschaft, dann sollten sie sich daran erinnern, dass die meisten Führer des Sozialismus in Europa (und auch die oft vergessenen amerikanischen Sozialisten) aus Mittelschichtsfamilien kamen.

Die Mittelklasse ist ein Produkt der Geschichte

Die Mittelschicht ist als kulturelles Konstrukt ein Produkt der Geschichte. Die einzige mögliche Verallgemeinerung ist, dass dieser Begriff eine gesellschaftliche Abgrenzung und Unterscheidung sowohl nach oben wie nach unten markieren soll. Sehr oft schließt dieser Abgrenzungsprozess eine Kritik an Patriziern wie Plebejern ein.

Wichtig ist auch der zeitliche Kontext, in dem der Begriff in seiner heutigen Bedeutung gebräuchlich wurde. Wirtschaftlich und technologisch war diese Epoche von der industriellen Revolution geprägt, politisch von den Revolutionen in Europa und Amerika, und geistesgeschichtlich war es die Zeit, als die Ideen der Aufklärung viel mehr als je zuvor als gültige Norm akzeptiert wurden. Da die Mittelschicht vor diesem Hintergrund entstand, trat sie auch für den Fortschritt und den Bruch mit der Vergangenheit ein.

Aber solche Brüche sind selten konsequent. Das zeigt sich gut an der Geschichte der Mittelschicht. Doch leider herrschen unhistorische Verallgemeinerungen vor und tragen viel zur Verwirrung über die Mittelschicht bei. Eine strikt rationale, egalitäre, von Aberglauben, Vorurteilen und religiösen Bindungen freie Mittelschicht hat im Westen wie in anderen Gesellschaften stets nur als idealtypische Abstraktion existiert. In den meisten Ländern entstanden die Auffassungen von den Mittelschichten der Moderne auf der Grundlage älterer Überzeugungen; sie wurden dabei umgeformt, so dass sie sowohl liberale und emanzipatorische Ideen aufnahmen als auch autoritäre und hierarchische.

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erschienen in Ausgabe 10 / 2014: Hoffen auf die Mittelschicht
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